EWR 3 (2004), Nr. 4 (Juli/August 2004)

Els Oksaar
Zweitspracherwerb
Wege zur Mehrsprachigkeit und zur interkulturellen Verständigung
Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2003
(222 Seiten; ISBN 3-17-013708-5; 28,00 EUR)
Zweitspracherwerb Der Titel könnte zur Annahme führen, dass es sich bei der vorliegenden Publikation um eine handlungsorientierte Darstellung methodischen Vorgehens beim Zweitsprachenerwerb und -lehren handelt. Doch bereits im Umschlagtext korrigiert der Verlag diese Vorstellung: Die Autorin stellt in der vorliegenden Einführung Ergebnisse zur Zweitspracherwerbsforschung (ZSEFo) verschiedener Wissenschaftsbereiche vor. Prof. (em.) Dr. Dr. h.c. mult. Els Oksaar, ehemals Universität Hamburg, Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Sprachwissenschaft, versteht Zweitspracherwerb (ZSE) als interdisziplinären Forschungsbereich.

Ausgehend von der Kritik, dass bisherige theorie-, methoden- und praxisrelevante Ansätze in der ZSEFo in ihren Fragestellungen zu sprachpolitischen, wirtschafts- und wissenschaftspolitisch relevanten Themen ausgedehnt und vertieft werden müssen, sehen Verlag und Autorin in dem vorliegenden Werk nicht nur ein Lehrbuch für Sprachwissenschaftler. Sie möchten mit diesem Fachbuch auch Vertreter der Psychologie, Psycho- /Soziolinguistik, Pädagogik, Sozial- und Kulturwissenschaften sowie der Medizin ansprechen.

Die Publikation will sich von anderen Veröffentlichungen dadurch unterscheiden, dass zum einen unterschiedliche Perspektiven und Aspekte der Einheit Sprache-Kultur-Individuum-Gesellschaft (Kap. 1) dargestellt werden. Dies bedeutet i.S. Oksaars, dass Sprachen durch das Individuum aktiviert und gesteuert würden und kulturell verankert seien. Die schwerpunktmäßige Betrachtung des Individuums läge somit auf sprachlichem Verhalten und Idiolekt vor dem Hintergrund des jeweiligen soziokulturellen Rahmens, wobei die Einzelindividuen einer Sprachgemeinschaft (Gesellschaft) unterschiedliche sprachliche Verhaltensweisen aufwiesen.

Zum anderen bespricht Oksaar Rahmenbedingungen des ZSE: neurophysiologische und soziopsychologische Voraussetzungen sowie das Verhältnis von Sprache und Kognition (Kap. 3). Des Weiteren stellt Oksaar insbes. die Kulturgeprägtheit der Sprachverwendung und die daraus resultierende Erkenntnis, ZSE sei kulturelles Lernen, ausführlich dar (Kap. 2).

All den o.g. Ansprüchen wird das vorliegende Werk gerecht. Die verständlichen, formal übersichtlichen, umfassenden kritischen Besprechungen und Darstellungen bieten Laien der Sprachwissenschaften und Studienanfängern nicht nur Zugang, sondern auch fundierte Grundlagenkenntnisse über Begrifflichkeiten, widersprüchliche Forschungsansätze, Theorien, Modellen und Methoden der Sprachwissenschaften (Kap. 4), also einen vollständigen Überblick zu dem sehr komplexen Themengebiet. Oksaars Forderung nach interdisziplinärer Betrachtung und Forschung erklärt sich von selbst.

Ziele des Zweitspracherwerbs, wobei Oksaar auch Fremdsprache synonym zu Zweitsprache gebraucht, seien Mehrsprachigkeit und interkulturelle Verständigung, sowie Mehrkulturheit (36). Als Gründe für die Bedeutsamkeit des (freiwilligen) Sprachenlernens und –beherrschens führt sie Bildungsideale, breitere internationale Kontaktmöglichkeiten, Mobilität in der europäischen Integration und Globalisierung der Wirtschaftsmärkte sowie die einhergehende berufliche und gesellschaftliche Stellung des Individuums an. Hierbei sollte überlegt werden, welches Sprachniveau in den Teilkompetenzen Hören, Lesen, Schreiben und Sprechen in welchem soziokulturellen Umfeld zu welchem Zweck angemessen sei (25). Den Grad der jeweiligen Mehrsprachigkeit zu messen, erscheint Oksaar allerdings problematisch, wenn nicht unmöglich (28). Sie lässt jedoch dabei außer Acht, dass der Europäische Referenzrahmen Arten und Stufen der Sprachkompetenzen beschreibt.

In der Mehrsprachigkeit sieht Oksaar nicht nur die kommunikative Fähigkeit eines Individuums zwischen zwei oder mehreren Sprachen zu schalten, sondern auch die interaktionale Kompetenz in mehr als einer Sprache. In einer Art Arbeitsteilung zwischen den Sprachen komme in der Regel der Muttersprache eine emotionale und sozialisierende Funktion und den anderen Sprachen eine Werkzeugsfunktion zu (31). Das mehrsprachige Individuum werde somit zum Medium der Sprach- und Kulturkontakte, aber häufig auch zum Grund und zum Medium der Sprachkonflikte (17).

Erst- und Zweitspracherwerb versteht Oksaar als kulturelles bzw. interkulturelles Lernen (38), wobei psychologische, soziokulturelle und gesellschaftliche Faktoren zusammen den Erwerb und die Verwendung von sprachlichen und interaktionalen Verhaltensweisen beeinflussen. Kultur sei i.d.S. ein Komplex von Verhaltensweisen, die Systeme bilden und zu Gewohnheiten werden, so wie die Verwendung von Sprache, den sog. informationstragenden Verhaltensweisen (19). Oksaar hält ZSE nur im "Netzwerk der interdisziplinären Kultur- und Gesellschaftswissenschaft" für erforschbar. Denn aus der Perspektive des kulturellen Lernens werden mehr Fähigkeiten erlernt, als die in der Erst- und Zweitspracherwerbsforschung präferierten Untersuchungsbereiche Aussprache, Grammatik und Wortschatz.

Oksaars Kulturemtheorie erörtert das Zusammenwirken von informationstragenden Einheiten, von Behavioremen, die nicht nur verbal (Wörter), sondern auch nonverbal (Mimik, Gestik) , parasprachlich (Stimmgebung) und extraverbal (Zeit, Raum, soziale Variable) sind. Mit Kulturemen bezeichnet sie abstrakte Einheiten des sozialen Kontakts, z.B. sich grüßen, sich bedanken etc., die in verschiedenen kommunikativen Akten durch o.g. Behavioreme realisiert werden (39). Oksaar veranschaulicht die Anwendung dieser Theorie am Beispiel "Grüßen."

Kulturen seien nicht nur in ihren verbalen und nonverbalen Ausdrucksmitteln, sondern auch in der Verwendung dieser in sozialen Interaktionen unterschiedlich (31). Insofern zeige sich der Mehrsprachige mehr oder weniger auch mehrkulturell. In dieser ‚Mehrkulturheit’ äußere sich die Fähigkeit, sich in beliebigen Situationen nach den Normen und Regeln der (unterschiedlichen) Kultursysteme zu verhalten und bei der Interaktion von den Behavioremen der einen Kultur auf die der anderen hinüberzuwechseln. Ein idealer Zustand entstehe, wenn bei einem Sprachenwechsel auch stets ein Behavioremwechsel stattfindet, was aber nicht immer möglich sei (32).

Im 5. Kapitel erläutert Oksaar gesellschaftspolitische Aspekte und die bildungs-und wissenschaftspolitische Relevanz des Themas Zweitspracherwerb und untermauert diese anhand eigener Forschungen. Insbesondere das Unterkapitel Mobilität, Migration und Minderheiten führt uns zu aktuellen Diskussionsthemen. Die eigentliche Brisanz der verbundenen Fragestellungen und des Forschungsbedarfs, insbes. in der Pädagogik, wird in dem letzten Kapitel deutlich. Weiterführende Fragen formuliert sie hier u.a. im Zusammenhang mit der EU-Erweiterung und der Globalisierung der Märkte, der Arbeitsmigration sowie der internationalen Stellung des Deutschen als Zweitsprache.

Die Notwendigkeit der intensiveren ZSEFo rührt insbes. aus der Integrationsproblematik und dem Zusammenleben in mehrsprachigen und mehrkulturellen Gesellschaften als Resultat der weltweiten Migration her. Oksaar bemängelt zu wenige Untersuchungen, die sich mit Sprachenfragen und der Interaktionsproblematik sowie den dazugehörigen Lebensbedingungen, der situationsbedingten Anpassung und Zufriedenheit der Betroffenen beschäftigen. Bei sog. Gastarbeiterprojekten, so kritisiert sie, liege z. B. das Hauptaugenmerk auf systemlinguistischen Einheiten und auf von Kontaktparametern abhängigen Varietäten, ohne dabei die psychosozialen Komponenten, wie Motivation und positive Attitüden, zu berücksichtigen, die den notwendigen und freiwilligen ZSE beeinflussen (154).

Aus spezifisch mehrkulturellen Kontaktsituationen entständen häufig emotional geprägte Konflikte, die auf Verständigungsprobleme zurückzuführen seien. Hier kritisiert Oksaar die Migrationsforschung dahingehend, dass sie auf die emotionalen Aspekte, die den ZSE positiv beeinflussen, zu wenig eingehe oder gar nicht erkenne (155).

Sprache sei ein wichtiger Faktor der Gruppenzugehörigkeit und sprachliche Loyalität bedeutend für die Identitätsbildung eines Individuums. Somit könne i. S. Eriksons das Fehlen der eigenen Sprache und Kultur in fremder Umgebung die Entwicklung der Identität negativ beeinflussen (156). Wer ist nicht bereits mit der Ansicht, ein Migrantenkind müsse auch zu Hause die Landessprache, also z. B. Deutsch sprechen, hören, lesen und schreiben, konfrontiert worden? Oksaar weist diesbezüglich daraufhin, dass Schwierigkeiten in der Schule bei einem mehrsprachigen Kind nicht selten dem Einfluss der Mehrsprachigkeit zugeschrieben werden. Diese, so konstatiert sie, können aber auch anderen Ursprungs sein, z.B. auf Konflikte zwischen zwei oder mehr kulturellen Systemen, also zwischen zwei Lebensweisen (32), zurückgehen.

Oksaar fordert entgegen jeglicher Konformitätsideologie, d.h. einer Sprachpolitik, die die schnelle Integration in der Landessprache anstrebt, dass Migrantenkinder nicht nur die Landessprache als Werkzeug, sondern auch die eher emotional konnotierte Muttersprache erlernen können sollen, wie eigene Untersuchungen als förderlich erwiesen haben (159). Oksaars Verständnis impliziert nicht nur den Unterricht für Migranten, sondern auch für Mitglieder nationaler Minderheiten. Dies könne schließlich einer sprachlichen Heimatlosigkeit vorbeugen, welche bedeuten würde, dass man sich in wichtigen kommunikativen Situationen weder in der Muttersprache noch in der Zweitsprache normgerecht ausdrücken kann (163).

Aufgrund der Ergebnisse ihrer Langzeitstudien in den USA, in Kanada und Schweden weist Oksaar darauf hin, dass Migranten mit Zugang zur Muttersprache gleichzeitig motivierter seien, die Zweitsprache zu erlernen, sich Unsicherheitsgefühlen, Hilflosigkeit und mangelndem Selbstwertgefühl weniger ausgesetzt fühlten und sich eher bereit erklärten, Barrieren abzubauen, indem sie die Normen und Behavioreme der anderen Kultur verstehen und hinnehmen (160).

Ferner dürfe einer Migranten- oder Minderheitensprache kein niedriges Prestige zugeschrieben und sozialer Druck durch die Aufforderung, die Landessprache zu sprechen, ausgeübt werden. Vielmehr könne die frühe Förderung der Mehrsprachigkeit, wie in Kap. 3 dargestellt, manche Schwierigkeiten und Probleme von Migranten bzw. Minderheiten entschärfen. So formuliert Oksaar den Appell, dass gesellschaftspolitische Bemühungen im mehrkulturellen Zusammenleben neben den zunehmend psychologischen Aspekten sich auch auf Mentalitätsfragen konzentrieren sollten: nämlich andere Sprachen zu respektieren, Migranten und Minderheiten nicht zu drängen, ihre Muttersprache aufzugeben, und Kindern das Erlernen und Beherrschen dieser zu ermöglichen (166).
Helga Grabbe (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Helga Grabbe: Rezension von: Oksaar, Els: Zweitspracherwerb, Wege zur Mehrsprachigkeit und zur interkulturellen Verständigung, Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 4 (Veröffentlicht am 05.08.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/17013708.html