EWR 2 (2003), Nr. 2 (März/April 2003)

Sammelrezension: Generationen und Familienerziehung

Erhard Chvojka
Die Geschichte der Großelternrolle vom 16. bis zum 20. Jahrhundert
Wien: Böhlau 2002
(400 Seiten; ISBN 3-205-98465-X; 35,00 EUR)
Renate Wald / Susanne Zimmermann
Die Wiehler Urgroßmutter und ihre Verwandtschaft
Lebensberichte aus mehreren Generationen einer Familie
Opladen: Leske und Budrich 2002
(110 Seiten; ISBN 3-8100-3625-0; 12,80 EUR)
Jutta Ecarius
Familienerziehung im historischen Wandel
Eine qualitative Studie über Erziehung und Erziehungserfahrungen von drei Generationen
Opladen: Leske und Budrich 2002
(288 Seiten; ISBN 3-8100-3364-2; 24,80 EUR)
Die Geschichte der Großelternrolle vom 16. bis zum 20. Jahrhundert Die Wiehler Urgroßmutter und ihre Verwandtschaft Familienerziehung im historischen Wandel Das Thema der Generationen erfährt gegenwärtig erhöhte Aufmerksamkeit in verschiedenen Disziplinen. Drei freilich ganz unterschiedlich akzentuierte Bände spiegeln exemplarisch mögliche Dimensionen, die der Fokus auf Generationen ermöglicht: kulturgeschichtliche Entwicklungen von Beziehungen über große Zeiträume hinweg (Chvojka), historisch-soziologische Analysen des familial-sozialen Wandels in einer Region (Wald/Zimmermann) oder die Frage des Wandels von Familienerziehung (Ecarius).

Ich beginne mit dem kulturhistorischen Aspekt. Wie ist die uns selbstverständlich erscheinende emotional getönte Beziehung zwischen Großeltern und Enkeln entstanden, fragt Erhard Chvojka – und liefert eine umfängliche Kulturgeschichte der Großelternrollen. Beginnend in der frühen Moderne ist die Arbeit in vier Kapitel gegliedert, die die Zeiträume von 1500 bis 1730 (Kap. 1), das 18. Jahrhundert (Kap. 2), das 19. Jahrhundert (Kap. 3) und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts (Kap. 4) betrachten. Systematisch erarbeitet Chvojka zunächst die sozialgeschichtliche (sozioökonomische, demographische und haushaltsstrukturelle) Grundlage der Familienformen in Stadt und Land im westlichen Europa, um auf deren Basis nach möglichen Formen sozialer Großelternschaft zu fahnden. Aus umfänglich zusammengetragenen Text- und Bildmaterialien (Autobiographien, Werke der bildenden Kunst, Ratgeberliteratur, Zeitschriften, Schulbücher u. a.) entsteht das Bild einer Kulturgeschichte der Großelternrollen.

Unter Berücksichtigung von Heiratsalter von Männern und Frauen, Erbfolgen, Haushaltsgründungen, Sterbeziffern der Frauen im Kindbett, Wiederverheiratungsquoten, mittlerer Lebenserwartung in städtischen Handwerks- und ländlichen Bauernfamilien rekonstruiert Chvojka zunächst die Möglichkeit von Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln (Wohnen am gleichen Ort), durchgängig differenziert nach Großmüttern und Großvätern mütterlicher- und väterlicherseits. Chvojkas Ergebnis: In den städtischen Bevölkerungsschichten der frühen Neuzeit dominierten die dislozierten Großelternteile gegenüber den koresidenten. Auch im agrarischen Bereich Mittel- und Westeuropas wohnten verheiratete Angehörige der jungen und der alten Generation einer Abstammungsfamilie jeweils in eigenen Haushalten. Kinder im ländlich-bäuerlichen Milieu konnten die Großväter väterlicherseits häufig schon deshalb nicht erleben, weil deren Tod abgewartet werden musste, damit die nächste Generation heiraten und den Hof übernehmen konnte. Aufgrund des Erbrechts, der Altersdifferenz zwischen Männern und Frauen bei der Heirat, konnten die Großeltern mütterlicherseits häufiger die Enkelgeneration kennenlernen als die Großeltern väterlicherseits. In frühen autobiographischen Zeugnissen finden sich indes kaum Spuren der Erinnerung an die Großeltern. Auch die bildliche Darstellung von alten Menschen mit Kindern deutete keine Großeltern-Enkel-Beziehung an, wie Chvojka betont, sondern stellt das Motiv des Lebenslaufs dar. D. h. in der frühen Neuzeit wurde "Familie", wenn überhaupt, nur bi-generativ bedacht. Selbst die Begriffe Großeltern und Enkel setzten sich (vom nord- und westdeutschen Sprachraum ausgehend) erst im 17. und 18. Jahrhundert durch und verdrängten das bis dahin gebräuchliche Ahnherr und Ahnfrau.

Veränderte demographische Bedingungen im 18. Jahrhundert (Zunahme der älteren Bevölkerung, sinkendes weibliches Heiratsalter mit der Folge relativ junger Großeltern mütterlicherseits) sowie der abnehmenden Gesellenmobilität, Verbreitung des Beamtentums und andere sozioökonomische Faktoren erhöhten die statistische Chance, dass Enkel ihre Großeltern noch bewusst erleben konnten. Parallel dazu stellt Chvojka einen Wandel in der normativen Deutung des hohen Lebensalters fest: Während in der frühen Neuzeit alte Menschen, insbesondere alte Männer als "der Kinder Spott" bezeichnet wurden und das hohe Lebensalter als Synonym für Krankheit, Gebrechlichkeit und nahen Tod stand, wurde im Verlauf des 18. Jahrhunderts parallel zur Privatisierung und Intimisierung der Kernfamilie die soziale Funktion der Großelternschaft entdeckt und in normativen Texten wie Erziehungsratgebern, aber auch in der Bildliteratur dargestellt.

Die Entwicklung der sozialen Großelternschaft ist Chvojka zufolge nur multifaktoriell zu erklären. Zu deren Bedingungen zählen der Wandel des Oikos mit funktional definierten Rollen und Aufgabenbereichen zur modernen und privaten Kernfamilie, die Neudefinition der Eltern-Kind-Beziehung unabhängig von der produzierenden Arbeitsatmosphäre des Hauses, das neue Selbstbild alter Männer, die das eigene Alter nicht mehr negativ, sondern positiv im Sinne von "Freiheit von Verpflichtungen" deuteten - eine Einstellung, die zunächst auf Personen im höheren Beamtenstatus zutraf. Die demographischen Veränderungen führten zu einer nachelterlichen Gefährtenschaft bzw. zu der Situation eines "leeren Nests", das als Voraussetzung für ein intensiveres großelterliches Engagement gegenüber den Enkeln gelten kann. Chvojka weist darauf hin, dass der Begriff "Großeltern" die alten Menschen aus der Perspektive der Enkelkinder bezeichnet und nicht aus der herkömmlichen strukturellen Perspektive der Hausgemeinschaft. Damit ist ein radikaler Blickwechsel vollzogen, der untrennbar mit der Konstituierung der Kindheit im pädagogischen Sinn im Zeitalter der Aufklärung in Verbindung steht. Für die Entwicklung der Großelternrollen macht Chvojka für Großväter und Großmütter unterschiedliche Faktoren aus: Während für Männer die Entstehung eines Lebensabschnittes im Ruhestand (vor allem im Beamtenbürgertum seit dem späten 17. Jahrhundert) mit der Aufgabe und dem Anspruch, den Lebensabend sinnvoll auszufüllen, der Entwicklung der Großvaterrolle förderlich war, galt das für Großmütter in dieser Form nicht. Eine Ursache für die Entstehung der Großmutterrolle sieht Chvojka in dem außergewöhnlich niedrigen weiblichen Heiratsalter des Bürgertums im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Dadurch konnten die Frauen im relativ jungen Alter von 40 bis 45 Jahren ihre ersten Enkelkinder persönlich erleben.

Während im späten 18. Jahrhundert die Großväter und auch die Großmütter in den bildlichen Darstellungen und auch in den Lebenserinnerungen nicht selten als Lehrmeister und Lehrmeisterinnen erscheinen, wird diese Funktion im Verlauf des 19. Jahrhunderts allmählich zurückgenommen. In den Erziehungsratgebern und Zeitschriften wie der Gartenlaube und anderen wird die Rolle der Großeltern ambivalent beurteilt. Einerseits verlängert die Darstellung zwischen Großeltern und Enkeln die Idylle der bürgerlichen Familienideologie, andererseits nehmen Mahnungen zu, Großeltern seien insbesondere für die Kindererziehung ungeeignet, da sie die Enkel zu sehr verwöhnten. Statt in der Funktion des Lehrmeisters zu erscheinen, wird der Großvater zum Märchenonkel degradiert - eine Funktion, die vormals nur der Großmutter zugeschrieben wurde. Die Großmutter erscheint dagegen weiterhin als Lehrmeisterin für Mädchen in bezug auf typisch weibliche Arbeiten wie Stricken und Nähen.

Auch wenn sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts die soziale Großelternrolle bereits zu Stereotypen verfestigt hatte, entwickelten sich die Beziehungen zwischen Großeltern und Kindern keineswegs auf der Basis eines gemeinsamen häuslichen Zusammenlebens. Erst im frühen 20. Jahrhundert, so Chvojka, wohnten Angehörige von drei Generationen einer Abstammungsfamilie unter einem Dach zusammen, vor allem im ländlich-bäuerlichen und teilweise im proletarischen Milieu. Ein intensiverer persönlicher Kontakt zwischen Großeltern und Enkelkindern im Bürgertum ist dagegen im Zusammenhang mit der aufkommenden Sommerfrische zu beobachten. Bürgerliche Kinder verbrachten etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts häufiger die Sommerfrische bei den Großeltern. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde mit zunehmender Institutionalisierung von Schule dafür vor allem der Zeitraum der Ferien genutzt. Im mitteleuropäischen Raum lernten proletarische Kinder aufgrund der räumlichen Entfernungen ihre Großeltern nur selten kennen und konnten sie nur selten besuchen.

Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts dominiert bei den Leitbildern in bildlichen und anderen Darstellungen, etwa in Schulbüchern, die idyllische Form der Großeltern-Kind-Beziehung. Der Tod der Großeltern etwa wird nur in Ausnahmefällen thematisiert, Probleme (etwa Scheidung) werden ebenfalls ausgespart. Diese Klischees von Großmutter- und Großvaterbildern spiegeln sich auch in autobiographischen Materialien. Eine erste Distanzierung von solchen Klischeebildern findet Chvojka in Brechts Erzählung "Die unwürdige Greisin". Seit etwa 1950 finden sich in literarischen und anderen Darstellungen seltener traditionelle Stereotype und Klischeebilder bezüglich großelterlichen Aussehens und Verhaltens.

Erhard Chvojkas Geschichte der Großelternrollen entwirft ein komplexes und facettenreiches Bild voller detaillierter Einzelergebnisse, die hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden können. Deutlich werden das komplexe Bedingungsgefüge, die Fülle von sozioökonomischen, demographischen und anderen Faktoren, die zunächst erst mal die Voraussetzung dafür bilden, dass Großeltern und Enkel einander überhaupt erleben können. Deutlich wird zum zweiten, wie Text und Printmedien sowie Bildmaterialien Leitbilder einer Beziehung zwischen Großeltern und Enkeln transportieren, die sich schnell zu Stereotypen verfestigen. Alles in allem ein sehr lesenswertes Buch.

Gewissermaßen als regionalhistorische Ergänzungsstudie lässt sich der Band von Renate Wald und Susanne Zimmermann lesen. Die "Wiehler Urgroßmutter" Berta Rothstein lebte von 1831 bis 1904 im Homburger Land zwischen Köln und Siegen. Die als historische Sozialforschung angelegte Studie rekonstruiert die Lebensgeschichte der Berta Rothstein (auf der Basis eines autobiographischen Lebensberichts) und ihrer Nachfahren, eingebettet in die historische Entwicklung der Region. Der eigentlichen Lebensgeschichte vorangestellt ist die sozialgeschichtliche Entwicklung der Region. Das Homburger Land zählte zu den ökonomisch kargen Regionen, die von der Industrialisierung erst um 1880 erreicht wurde. Bis dahin suchten die Männer durch Saisonarbeit der Arbeitslosigkeit zu entkommen, während Mädchen und Frauen sich auf kleinen Parzellen mit Feldarbeit ernährten. Das Städtchen Wiehl profitierte von der Industrialisierung durch Eisenverhüttung und Steinbrüche, behielt aber seinen dörflichen Charakter. 75 % der Einwohner waren in der Landwirtschaft tätig, die Neuorientierung weg von der Feudalherrschaft dauerte bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Leser wird zunächst informiert über die Wechselwirkungen zwischen Administration, wirtschaftlicher Modernisierung, Entwicklung neuer Mittelschichten und deren Orientierungen, Ausbau des Schulwesens und kulturellem Habitus der Honoratioren im Homburger Land, das durch den Pietismus geprägt war.

Der folgende Abschnitt bezieht diese allgemeinen Daten auf die Familiengeschichte von Berta und August Rothstein. Sie zählten als Kaufleute, August Rothstein führte einen kleinen Laden, zu den Honoratioren des Ortes. Die Geschäftsgründung war schwierig und die Familie lebte bescheiden und legte Wert auf Bildung, insbesondere christliche Bildung. Das dritte Kapitel ist der Lebensgeschichte der Urgroßmutter gewidmet, bestehend aus Familienchronik und Lebensgeschichte. Berta Rothstein begann ihre Aufzeichnungen in der vormodernen annalistischen Form, der folgende narrative Teil ist eher der Familien- als der eigenen Lebensgeschichte gewidmet. Berta, bei der Heirat 31 Jahre alt, übernahm mit der Ehe die Pflege und Erziehung der beiden Kinder aus erster Ehe und gebar selbst fünf Kinder, wovon das erste starb. Die Familienchronik zeigt die Verwandtschaftsverflechtungen einer kleinen Familie über mehrere Generationen (Eltern, Großeltern, Geschwister der Eheleute) und verdeutlicht, dass der Tod von Frauen im Wochenbett in den Familien präsent war. Ökonomische Schwierigkeiten, Pflichten gegenüber kranken Familienangehörigen verhinderten ein frühes Heiratsalter. Über zwei Generationen wurde der kleine Betrieb der Rothsteins zum dörflichen Kaufhaus mit Angestellten, in der dritten Generation wurde der Laden jedoch verkauft. Wertorientierungen, kultureller Habitus, Erziehungsstil, Geselligkeit und Alltagskultur und deren Wandel in der nächsten Generation sind geprägt durch das Eindringen städtischer Orientierungen, Mobilität, Reisen und Freizeitgestaltung.

Berta begann ihre lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen mit dem Eintritt in die Ehe. Verknüpft mit der Geschäftsgründung waren ökonomische Sorgen. Von der eigenen Kindheit berichtet Berta später, sie sei in ihrer Kindheit bei einer Tante aufgewachsen, habe nach der Dorfschule ein halbes Jahr in einer Pension verbracht und danach viereinhalb Jahre den Großvater an einem anderen Ort gepflegt. Dort hatte die Jugendliche ein einsames Leben geführt. Als Zwanzigjährige kam sie zurück ins eigene Elternhaus. Die erst 44jährige kranke Mutter, der Haushalt und die jüngeren Geschwister mussten versorgt werden. Erst als die jüngste Schwester erwachsen war und den Haushalt des Vaters übernehmen konnte, konnte Berta heiraten. Das Geschäftsleben kannte kaum Freiraum (auch Sonntags nach der Kirche kamen die Leute aus den Nachbardörfern zum Einkaufen), ermöglichte aber andererseits eine ständige Geselligkeit und die Führung eines offenen Hauses. Während die erwachsenen Töchter später in eigenen Haushalten in Nachbarorten lebten und alle wohlsituiert waren, übernahm der jüngste Sohn das dörfliche Geschäft, und Berta lebte in dessen Haus. Verheiratet mit der Tochter eines Bauunternehmers baute der Sohn ein neuen Haus für Laden und Wohnung und pflegte wie die ältere Generation das gesellige Leben. Berta selbst wurde von der jüngsten Tochter, die unverheiratet blieb, betreut. Diese Tochter Klara nahm Unterricht am Konservatorium in Köln und wurde Klavier- und Gesangslehrerin; sie belebte mit der Organisation von Konzerten das kulturelle Leben Wiehls in den 1920er Jahren.

Das folgende Kapitel über die Institutionalisierung und Individualisierung der Lebensgeschichte enthält eine zusammenfassende Interpretation dieser Biographie, die Berta Rothstein als aktiv handelnde, berufstätige Frau zeigt, die den Normen gemäß Erzählungen über Konflikte ausspart und harmonieorientiert schreibt. Die beiden anschließenden Kapitel sind den Nachfahren und den nächsten Generationen gewidmet. Der Leser erfährt etwas Allgemeines über die Pädagogisierung von Kindheit, die Entstehung der Jugendphase, die Änderung des Heiratsalters im Bürgertum, den allgemeinen Wandel und den Fortbestand der verwandtschaftlichen Beziehungen in der Familie Rothstein. Von den Nachfahren dieser Familie lebt heute niemand mehr in Wiehl. Das Haus wird gegenwärtig renoviert. Die Autorinnen begeben sich auf die Spur der Nachfahrinnen und die Veränderung der Frauenrollen. Der Rekonstruktion angehängt sind zwei Textdokumente von Nachfahrinnen.

Insbesondere diesem letzten Teil des Textes mangelt es an Systematik. Die Autorinnen, als Soziologinnen mit historischer Sozialforschung wenig vertraut, versuchen die Lebens- und Familiengeschichte in den Kontext gesellschaftsgeschichtlicher Entwicklungen zu stellen. Eine wirkliche Verbindung kommt jedoch nicht zustande. Insbesondere in der familiengeschichtlichen Fortsetzung (Kapitel 4 und 5) stehen bekannte Allgemeinplätze unverbunden neben den Verwandtschaftsentwicklungen der Familie Rothstein. Der Leseprozess wird ohne wirklichen Erkenntnisgewinn mühsam. Die angehängten Dokumente stehen – vielleicht Absicht – fragmentarisch ohne Bezug am Ende des Buches. Wer davon absieht und sich für regionalhistorische Forschung interessiert, erhält dennoch einige interessante Einblicke in ein Frauenleben im Aufbruch der Moderne in einer ökonomisch verspäteten Region.

Die Arbeit von Jutta Ecarius thematisiert die Gegenwart und ist im Gegensatz zu den beiden anderen eine explizit erziehungswissenschaftliche. Es handelt sich um eine qualitative Studie über Generationenbeziehung und Erziehung über drei Generationen hinweg. Untersucht werden Erziehungsmuster, Familienthemen, kognitive Schemata und Erziehungserfahrungen von Männern und Frauen. Die Untersuchung basiert auf narrativen und Leitfadeninterviews, die mit 27 Drei-Generationen-Familien (insgesamt 132 Interviews) in der Region Halle/Sachsen durchgeführt wurden. Ecarius knüpft mit ihrer Studie an die empirisch nicht weitergeführten Arbeiten zur Familienerziehung von Mollenhauer/Brumlik/Wudtke an und belebt den Ansatz neu. Ausgangspunkt sind der im Kontext von Individualisierung und Pluralisierung verhandelte Wandel der Familienform und die Veränderung familialer Interaktionsmuster (Relativierung des Erwachsenenstatus, Verschwinden der Generationendifferenz, Verhandlungshaushalt statt Befehlshaushalt), die zwar breit diskutiert, aber bisher kaum empirisch erforscht wurden.

Die Studie klärt einleitend zentrale Aspekte der Familienformen (Mehrgenerationengefüge, familiale Generationsbeziehungen in synchroner und diachroner Perspektive), der Familienerziehung (Inhalts- und Beziehungsebene der Interaktion, Alltagshandeln, Nähe und Distanz sowie Zusammenhänge zwischen sozialem Wandel und Generationsfolgen). Methodischer Ansatz und Projektdesign sind komplex und aufwendig: Insgesamt 75 Personen wurden interviewt. Durchgängig werden dabei männliche und weibliche Linien als Befragte (also Großväter, Väter, Söhne und Großmütter, Mütter, Töchter) unterschieden. Während in den biographischen Interviews die Lebensgeschichten erhoben wurden, fragt das Leitfadeninterview gezielt nach Themen zu Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter, zu intergenerationalen Beziehungsmustern, nach Erfahrungen mit historisch politischen Ereignissen (Zeitzeugenaspekt). Die befragten Generationen entstammen den Jahrgängen 1908-1929, 1939-1953 und 1967-1975.

Die beiden umfangreichen folgenden Kapitel (hier hätte man sich wegen der Übersicht eine andere Einteilung gewünscht) präsentieren zunächst die Familienthemen, kognitiven Schemata und Erziehungsmuster. Ecarius differenziert exemplarisch drei Typen, die an Fallbeispielen gut veranschaulicht werden. Nur ein Typus entspricht dem Modus "vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt", die beiden anderen Typen bezeichnet Ecarius als "Verweilen im Befehlen" und "Verhandeln" – ein Typus, bei dem sich schon in der Großelterngeneration verhandelnde Formen finden und die eigene Erziehung als liberal gekennzeichnet wird. Parallelen und Differenzen der drei Erziehungsmuster werden bezogen auf die Inhalte und Beziehungsstrukturen in einer Feinanalyse differenziert herausgearbeitet.

Im nächsten Schritt thematisiert Ecarius die Erziehungserfahrungen der Befragten. Autoritäres und liberales Muster werden in bezug auf den Wandel über drei Generationen hinweg differenziert untersucht. Im autoritären Muster wuchs die älteste Generation in einem dichten Regelwerk der Unterordnung (Gehorsam, Religiosität und Autorität) auf, geschlechtsspezifische Differenzen werden deutlich erkennbar. Die mittlere Generation erfuhr hier wenig Veränderung: Strebsamkeit, Sauberkeit und Ehrlichkeit sowie geschlechtsspezifische Differenzen bleiben ebenso zentral wie der Zusammenhang zwischen Familienerziehung und religiöser Moral. Veränderungen zeichnen sich lediglich in der Bildungsaspiration ab, die durch die gewandelten gesellschaftlichen Strukturen in die Familien hineingetragen wurde. Differenzen zeigen sich weiter in der Erfahrung von Armut und Not bei der ältesten Generation. In der jüngsten Generation ist die Erfahrung des Befehlshaushalts noch vorhanden, aber insgesamt geringer geworden.

Auch der liberale Typus differenzierte Erziehung deutlich nach Geschlechtern, die Bildungsaspiration entsprach dem Sozialmilieu. Ecarius beobachtet hier einen möglichen Zusammenhang zwischen Milieu und Erziehungsmuster, da alle Probanden dieses Typs dem gehobenen Sozialmilieu entstammen. Wie das autoritäre gibt das liberale Erziehungsmuster klare Regeln vor und hält die Asymmetrie der Machtbalance aufrecht, ermöglicht den Kindern aber Freiräume zur Eigengestaltung schon in der ersten Generation. Das Erziehungsmuster diesen Typs in der jüngsten Generation beschreibt Ecarius als "Verhandeln an der kurzen Leine", mit fließenden Übergängen zwischen Befehlen und Verhandeln. Verhandeln "an der langen Leine" lässt sich nur ansatzweise finden, was der historischen Zeit (70er Jahre) und dem politisch-gesellschaftlichen Gesamtsystem (Ostblock) geschuldet ist. Differenzen bezüglich der Sozialmilieus lassen sich kaum noch finden. Insgesamt zeichnet sich ein ganz allmählicher Wandel in den Mustern ab.

Das nächste Kapitel thematisiert die Nähe- und Distanzerfahrungen zwischen den Generationen. Fokussiert werden hier die intergenerationalen Interaktionsebenen am Beispiel zweier Familientypen. Die kontrastiven Muster "emotionale Unterstützung" vs. "emotionale Distanziertheit" haben, wie Ecarius eindrucksvoll belegt, Folgen für die biographischen Wege über mehrere Generationen hinweg: Sie beeinflussen die präferierten Erziehungsmuster der nächsten Generation und sind zudem mit dem Selbstkonzept der Kinder verknüpft. Entlang dieser Linien werden Familienthemen (mental maps) sichtbar, denen auch die jüngste Generation nicht ausweichen kann (etwa Verpflichtung, Loyalität). Aus Sicht der Erzogenen lassen sich autoritäres und liberales Muster weiter differenzieren. Beide können positiv und negativ erlebt werden, da nicht Befehlen vs. Verhandeln, sondern Nähe vs. Distanz die Beurteilungskriterien der Erzogenen sind. Dies ist eines der eindruckvollen Ergebnisse der Untersuchung. Auch die Makroperspektive (Vor- und Nachkriegszeit) wird in den Beurteilungshorizont der Erzogenen eingeholt, d. h. die eigene Erziehung wird anhand von Entlastungsmechanismen beurteilt, die der jüngeren Generationen nicht mehr zur Verfügung stehen. Ecarius zieht den Schluss, dass "Verhandeln" dort zur Hülse gerinnt und Selbsttätigkeit zur Leerformel wird, wo Distanz und emotionales Desinteresse die familialen Beziehungsstrukturen bestimmen.

Das nächste Kapitel wechselt erneut die Perspektive und betrachtet die Erziehungsmuster der Erziehenden. Da im autoritären Muster aus der Perspektive der Erzogenen die ältere und die mittlere Generation eine ähnliche Erziehung genossen, bedeutet das, dass die ältere Generation die eigenen Erziehungsmuster an die Kinder weitergegeben hat. Auf diese Weise wurden die Muster des autoritären Befehlshaushalts in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts transportiert. In den Interviews werden diese eigenen Muster nicht reflektiert. Erziehung erscheint als unhinterfragt gelebte Tradition. Das gilt ebenso für den liberalen Typus. Orientierender Bezugspunkt ist auch hier die eigene Erziehung. Ansätze zur Reflexivität finden sich im liberalen Muster allerdings mit Bezug auf die gewandelte Sozialstruktur. Die Differenz zur eigenen Erziehung betreffen jedoch nur kleinere Details. Durchgängig erscheint Erziehung als Frauensache. In dem Typus des Wandels (vom Befehlshaushalt zum Verhandlungshaushalt) werden als Hintergründe für den Wandel nicht sozial-kulturelle Zusammenhänge benannt, sondern die Auseinandersetzung mit eigenen Erziehungserfahrungen. Die aus Unterordnung resultierende eigene Unsicherheit der mittleren Generation wird zum zentralen Bezugspunkt des Wandels und bildet den Focus für neue Erziehungsinhalte: Selbständigkeit, Vertrauensverhältnis, Berücksichtigung der kindlichen Individualität. Diese Reflexion der mittleren Generation lässt Erziehung insgesamt reflexiv werden: Die Betonung des Experimentscharakters wird in den Interviews ebenso deutlich wie die Differenz zwischen eigener Vorstellung und gelebter Erziehungspraxis.

Der Beziehung zwischen Großeltern und Enkeln ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Auch hier differenziert Ecarius die unterschiedlichen Perspektiven von Großeltern und Enkeln der jeweiligen drei Generationen. Die Beziehung der Enkel zu den Großeltern erscheint als eingeflochten in die diachronen Familienbeziehungen und familialen Riten, durch die für die Enkel ein starkes emotionales Band zu den Großeltern gestiftet wurde. In einer distanzierten Eltern-Kind-Beziehung konnte dieses ausgleichend wirken. Die Sicht der Großeltern betrifft im Projektdesign nur eine Generation. Differenziert werden zwei Phasen: Für jüngere Kinder übernehmen Großmütter betreuende, Großmütter und Großväter erziehende Funktionen, die von der mittleren Generation geschätzt und gewürdigt werden. Großväter verstehen sich nicht als Betreuer, sondern als Vermittler von Traditionswissen. Allerdings lassen sich auch distanzierte Formen der Großeltern-Enkel-Beziehung finden. In der Jugendphase der Enkel nehmen die Betreuungsaufgaben ab. Tendenziell kehrt sich auch die emotionale Beziehung um: Die Großeltern hoffen auf Anteilnahme und emotionale Unterstützung durch die Enkel.

Das abschließende fünfte Kapitel betrachtet zusammenfassend den sozialen Wandel der intergenerationalen Familienerziehung und systematisiert die Ergebnisse in bezug auf Erziehungsmuster und Erziehungserfahrungen. Erziehungsinhalte und Großeltern-Enkel-Beziehungen werden anschaulich und übersichtlich in Schaubildern präsentiert, die die jeweiligen Generationen differenzieren. Ambivalenten Beziehungsstrukturen, Religiosität und geschlechtsspezifischen Mustern sowie den Varianten "Kontinuität" vs. "Wandel" ist je ein eigenes Teilkapitel gewidmet. Die Großelterngeneration erscheint in dem komplexen Gesamtprozess als Bewahrer und Modernisierer zugleich.

Die fundierte Studie von Jutta Ecarius macht deutlich, dass die Formel von "Verhandlungshaushalt" die Komplexität von Familienerziehung kaum trifft. Zu berücksichtigen sind Inhalte und Interaktionsstrukturen ebenso wie die Dynamiken, die sich über mehrere Generationen entfalten und die biographische und soziale Zeit miteinander verknüpfen. Angesichts der Abstinenz erziehungswissenschaftlicher Forschung in diesem Bereich war das Projekt dringend notwendig und schließt eine Forschungslücke. Die Studie belegt eindrucksvoll, dass eine von erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung geleitete Forschung zu ganz anderen Ergebnissen kommt als etwa soziologische Orientierungen. Jutta Ecarius eröffnet einen Fragehorizont, der zugleich geeignet, ist die Theoriebildung voranzutreiben. Dem Buch ist eine breite Leserschaft zu wünschen.

Die Frage nach den Generationenverhältnissen und -beziehungen ist für die Erziehungswissenschaft eine zentrale, weil in ihnen Erziehungs- und Bildungsprozesse stattfinden. Sie ermöglicht zugleich einen Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen, die die privat erscheinenden Familienbeziehungen in ihren Formen bedingen und beeinflussen, ohne sie restlos zu bestimmen. Diese Perspektive erscheint daher besonders geeignet, die klassische Dichotomie zwischen Individuum und Gesellschaft zu überwinden. Auch wenn die drei vorgestellten Bücher jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzen, machen sie alle diese Perspektive sichtbar.
Dorle Klika (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dorle Klika: Rezension von: Chvojka, Erhard: Die Geschichte der Großelternrolle vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Wien: Böhlau 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 2 (Veröffentlicht am 01.04.2003), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/20598465.html