In dieser Schrift geht es um den Politiker Heinrich Schulz, um jenen Mann, der zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts eine Schlüsselfigur sozialdemokratischer Bildungspolitik war und eine Brücke zwischen Arbeiterpartei und Lehrerschaft schlug. Das im Buchtitel angekündigte, historisch weitläufige und verflochtene Thema der „gescheiterten Einheitsschule“ wird hingegen erst zur Mitte der Abhandlung (96-112) eher kurzatmig aufgenommen und bleibt insgesamt randständig. Das kann man hinnehmen, denn das Vorwort von Bernd Rabehl orientiert das Leseinteresse neu, indem es eine „politische Biografie“ verspricht, die „historische Situationen, Zeitläufe und soziale Verhältnisse über eine Person“ (9) zusammenfasst. So zeigt auch der Buchumschlag - ob nun aus Privatbesitz, dem Nachlass, dem Reichstagshandbuch oder woher auch immer - ein undatiertes Porträtfoto jener Person, von der berichtet werden soll.
Zu dieser nun gibt es bislang nur diese oder jene historische Notiz, auch zwei ältere, wenig beachtete Lebensbeschreibungen, aber keine profunde Biografie, die auf der Basis neuerer Forschung ruht. Diese so zu schreiben, wie es das Vorwort umreißt, muss Gewinn bringen. Eine Forschungslücke wird, so scheint es, geschlossen, auch wenn sich der Leser schon mit Blick auf das Titelblatt vielleicht fragen mag, wie man „zwischen“ Luxemburg und Ebert „Parteisoldat“ sein kann und welche Stellung damit gehalten wird.
Doch dann zerschlägt sich leider schon beim Lesen der ersten Seite der Abhandlung jede hochgestimmte Erwartung. Man erfährt im ersten Absatz, dass H. Schulz als Sohn eines Schmiedegesellen und späteren Werkmeisters am 12.9.1872 in Bremen geboren ist, zunächst die Realschule am Doventor seiner Heimatstadt, dann „von 1899 (sic) vier Jahre hindurch das dortige Lehrerseminar“ besuchte und am 17.3.1892 als Hilfslehrer an Volks- und Elementarschulen zu unterrichten berechtigt wurde, um sodann ab Ostern 1892 für ein Jahr an der „Vorschule zur Realschule von C.W. Debbe in Bremen und zwar in der Vorschule und Quarta“ eine Beschäftigung aufzunehmen (11).
Der zweite Absatz auf der gleichen Seite sieht H. Schulz, als er 1893 aus dem Schuldienst ausscheidet, als „Einjähriger“ zum Militär nach Leipzig, 1894 als freier Schriftsteller nach Berlin geht, bereits als einen jungen Mann, der seine Kindheit und Jugend schon weit hinter sich hat. Die reichhaltige sozial- und schulgeschichtliche ältere und jüngere Literatur zu Bremen, ergiebig nicht nur für die Erfassung des dortigen spezifischen sozialen und politischen Milieus, sondern auch zu den Schulen, dem Lehrervereinswesen, zum Seminar mit seinen renommierten Lehrern, wird komplett beiseite gelassen, wenn schon nichts über das Elternhaus, die Mutter und etwaige Geschwister mitgeteilt wird. Der Autor vergibt damit auch die Möglichkeit, ältere, sich dann durch manche Literatur ziehende Fehlinformationen zu korrigieren, wonach H. Schulz „kurze Zeit um 1900“ [1] Lehrer in Bremen und für diese Zeit einem Kreis der Arbeiterfrage verbundenen Pädagogen zuzurechnen gewesen sei. Dafür bleibt ungeklärt, weshalb der künftige „Parteisoldat“ gerade eine üblicherweise schlecht bezahlte Tätigkeit an einer Privatschule aufnimmt (so aber nicht an der angesehenen, wenig später von der Stadt übernommenen Anstalt von Debbe), vor allem aber erschließt sich nicht, was ihn bestimmte, den bürgerlichen Beruf aufzugeben, sein Brot künftig als sozialdemokratischer Schriftsteller zu verdienen und sich, obwohl er nie eine solche besuchte, immer wieder gerade mit der Volksschule zu befassen.
Eine Biografie kann das nicht mehr werden, dass wird deutlich. Nicht im entferntesten reicht die Darstellung an das heran, was an Vorarbeit zur Biografie bereits vorliegt [2]. Zwar gibt der Verfasser solche Vorarbeit im Literaturverzeichnis an, aber sichtbar gearbeitet wird mit ihr nicht. Biografischer Stoff wird einfach verschenkt, und das ist mehr als unverständlich.
Immer wieder unterbrochen von durchaus lesenswerten und informativen Exkursen zu bekannten schulhistorischen Sachverhalten beherrschen die folgenden 200 Seiten etwa zur Hälfte des Textes lange Zitate aus Artikeln und aus Schriften von H. Schulz. Die Person, die dahinter steht, der „Parteisoldat“ und sein Stellungswechsel, Motive und Konflikte, die in der Ausübung von Parteifunktionen, politischen Mandaten und schließlich im Staatsamt entstehen, scheinen kaum auf. Am ehesten geschieht das anhand der zitierten kritischen Briefe von C. Zetkin, vor allem aber anhand der anklagenden Briefe von W. Pieck, die dieser seinem vormaligen Förderer schreibt. Für Pieck, der eine sozialdemokratische Vorkriegslinie gehalten, sich an einer Antikriegsdemonstration beteiligt hat und dafür im Gefängnis sitzt, weiß H. Schulz 1915 nichts anderes zu unternehmen, als diesem, der bis dahin noch Mitarbeiter im Zentralbildungsausschuss der SPD ist, die Kündigung in die Zelle zu schicken.
Jedoch leidet die Darstellung auch hier unter Rezeptionsmangel, indem der Verfasser sich auch der Fülle der Literatur zur spannungsreichen Parteigeschichte der Sozialdemokratie nicht bedient. Das gilt selbst für das sich in den innerparteilichen Auseinandersetzungen schon lange vor dem Krieg immer stärker auffächernde Spektrum von Positionen und Personen sozialdemokratischer Bildungspolitik. Das Hauptwerk von H. Schulz, die als Schulprogramm der SPD geltende Schrift „Die Schulreform der Sozialdemokratie“ (1911, 1919), wird allein unter dem Aspekt der Arbeitsschuldiskussion gewürdigt. Ihr ganzer Inhalt und ihre weitreichende Ideenwirkung bleiben einschließlich der schulorganisatorischen Vorschläge, der konkreten Vorstellung zu einer Einheitsschule, die der „Parteisoldat“ später mit „scheitern“ lässt, unausgeschöpft. Die Schrift ist nach sozialer Analyse, politischer Begründung, Weite und Konkretheit des Bildungs- und Schulentwurfs das Glanzstück sozialdemokratischer Bildungsprogrammatik, deren Höhe später, ob Kommunisten, Unabhängige oder Mehrheitssozialdemokraten schreiben, nicht wieder erreicht wird, H. Schulz selbst eingeschlossen.
Dagegen hält es der Autor für angebracht, eine „Legende“ (111) zu zerstören, nämlich die, dass C. Zetkins Referat zur Begründung der bildungspolitischen Leitsätze auf dem Mannheimer Parteitag 1906 auf Betreiben des Parteivorstandes und in politischer Absicht nicht gleichfalls wie das von H. Schulz veröffentlicht worden sei. Solche Legende bilde u.a. die bekannte, in der DDR erschienene „Geschichte der Erziehung“ [3]. Bekannt ist, dass C. Zetkin durch Krankheit am vollständigen Vortrag ihres Referats verhindert war, die Rede abbrechen musste und nach dem Parteitag erkrankte. Der Autor kann nach einem 1972 verfassten, 1999 in das Bundesarchiv eingegangenen Manuskript von Klaus-Peter Schulz, Sohn von H. Schulz, zitieren, wonach die Referentin ihren Text bis zur Drucklegung nicht vervollständigte (111). Das ist plausibel und als Information auch neu. Nun steht in der herangezogenen Ausgabe allerdings nicht mehr, als dass die Parteitagsmitglieder auf den angekündigten Druck der Zetkinrede „vergebens“ warteten. Das trifft gleichfalls zu, ist aber nicht frei von einem Unterton. Übersehen hat oder unerwähnt lässt der Verfasser dann aber, dass die Neufassung des Lehrwerks von 1987 auf diese inkriminierte Passage verzichtet und der Verfasser des Lehrbuchabschnittes auch schon zuvor an anderer Stelle es bei der Feststellung belässt, der Parteitag habe beschlossen, C. Zetkins Referat zu veröffentlichen [4].
Das Zerwürfnis in der Partei, auch das zwischen H. Schulz und C. Zetkin, entsteht erst mit der gegensätzlichen Stellungnahme zum Krieg. Vormals als radikal geltend, wird H. Schulz sofort zum engagierten Patrioten. Es geht um den parteigeschichtlich bislang dramatischsten Punkt, um das Gewissen, die Prinzipien und die Emotionen. Eine „politische Biografie“ hätte hier eine Aufgabe. Vornehmlich durch Zitate aus Schriften von H. Schulz (141-146) ist sie nicht zu lösen.
Allemal ist es wie in diesem Fall von erheblichem Nachteil, wenn der Autor eines 2004 erschienen Buches nur ausnahmsweise, in drei Fällen, monographische Literatur erfasst, die nach Beginn der 1980er Jahre erschienen ist, um von Quellenbänden gar nicht erst zu reden. Sich über einen „Kapp-Putsch vom 13. März 1913“ (188), über im Fettdruck angegebene „Reichstagswahlen vom 6. Juni 1919“ (189) und andere sonst vielleicht noch verzeihliche redaktionelle Kleinigkeiten zu ärgern, fehlt dem Leser dann schon die Kraft.
Ist das Buch zu empfehlen? Der Rezensent tut es trotz aller Kritik – wegen H. Schulz, seines im Gedächtnis der Bildungspolitik ohnehin, aber auch in der Geschichtsschreibung, wenn nicht vergessenen, dann doch vernachlässigten Vermächtnisses. Für die Forschung hält die Abhandlung eine Anzahl von Detailinformationen bereit, die in den verschiedensten Zusammenhängen aufzunehmen sind. Der allgemein bildungshistorisch interessierte Leser erhält einen Einblick in die sozialdemokratische Schulpolitik und Bildungsarbeit, in pädagogische Diskurse und schulische Verhältnisse vor und nach Beginn des 20. Jahrhunderts. Das auch, obwohl dem von Peter Braune zusammengetragenen Material eine kommentierte Ausgabe von Schriften des weitgehend nur noch wegen seiner Verantwortung für die Reichsschulkonferenz 1920 bekannten Parteisoldaten weit angemessener gewesen wäre, dieser dann vorangestellt eine kurze, präzise, dicht geschriebene Lebenswegbeschreibung, die alles das wirklich zur Geltung bringt, was der Verfasser aus Archiven, wenn nicht neu herausgefunden, so doch erstmals zitiert hat.
[1] Wulff, Hinrich (1950): Geschichte und Gesicht der bremischen Lehrerschaft. Bremen, S. 377.
[2] Wulff, Hinrich (1962): Heinrich Schulz. 1872-1932. Ein Leben im Spannungsfeld zwischen Pädagogik und Politik. Ausdruck aus "Bremisches Jahrbuch". 48. Band.
[3] GĂĽnther, Karl-Heinz [u.a.] (1976): Geschichte der Erziehung. Berlin (Ost), S. 446.
[4] Zetkin, Clara (1983): Revolutionäre Bildungspolitik und marxistische Pädagogik. Ausgewählte Reden und Schriften. Eingeleitet und erläutert von Gerd Hohendorf. Berlin (Ost), S. 37.
EWR 4 (2005), Nr. 5 (September/Oktober 2005)
Die gescheiterte Einheitsschule
Heinrich Schulz - Parteisoldat zwischen Rosa Luxemburg und Friedrich Ebert. (Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung 16)
Berlin: Karl Dietz Verlag 2004
(224 S.; ISBN 3-320-02056-0; 14,90 EUR)
Gert GeiĂźler (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gert GeiĂźler: Rezension von: Braune, Peter: Die gescheiterte Einheitsschule, Heinrich Schulz - Parteisoldat zwischen Rosa Luxemburg und Friedrich Ebert. (Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung 16), Berlin: Karl Dietz Verlag 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2005), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/32002056.html
Gert GeiĂźler: Rezension von: Braune, Peter: Die gescheiterte Einheitsschule, Heinrich Schulz - Parteisoldat zwischen Rosa Luxemburg und Friedrich Ebert. (Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung 16), Berlin: Karl Dietz Verlag 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2005), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/32002056.html