EWR 13 (2014), Nr. 2 (März/April)

Silvia Annen
Anerkennung von Kompetenzen
Kriterienorientierte Analyse ausgewählter Verfahren in Europa
Bielefeld: Bertelsmann 2012
(728 S.; ISBN 978-3763911516; 39,90 EUR)
Anerkennung von Kompetenzen Die Ermöglichung lebensbegleitenden Lernens erfordert neben institutionsgebundenem organisiertem Lernen auch die Berücksichtigung und Einbeziehung weiterer individueller Lernformen. Dies erfordert die Ausweitung und Betrachtung von Lernen in allen Aktivitäten unabhängig davon, wie es gestaltet und organisiert ist. Dies schließt Lernergebnisse ein, die sowohl in formalen, non-formalen aber auch informellen Lernkontexten erworben wurden. Dabei stellt sich vielfach die Frage, welche Verfahren existieren und wie diese modelliert sein müssen, um eine Erfassung und Bewertung all jener Lernergebnisse zu ermöglichen. Doch bei diesen Überlegungen bleibt die Diskussion nicht stehen, denn schnell wird klar, dass auch darüber zu debattieren ist, wie eine Anerkennung dieser Lernergebnisse zu erwirken ist und welche Voraussetzungen hierfür zu schaffen sind. Wie komplex und umfassend dieser Prozess der Anerkennung von Kompetenzen ist, stellt Silvia Annen in ihrer Dissertationsschrift eindrücklich dar.

In der über 700 Seiten umfassenden Arbeit geht die Autorin von der Frage aus, wie sich die vielfältig existierenden Verfahren zur Anerkennung von Kompetenzen methodisch, institutionell und rechtlich einbetten lassen. Ziel der Arbeit ist, ein theoretisch begründetes Kriterienraster zu erarbeiten, mit dessen Hilfe sich Verfahren zur Anerkennung von Kompetenzen analysieren lassen. Zudem entwickelte die Autorin eine Typologie, die dabei unterstützt, die in Europa und Deutschland existierenden Verfahren einzuordnen. Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass zuvor geleistete Analysen und Ansätze nur einzelne existierende Verfahren oder lediglich nationale bzw. europäische Instrumente betrachteten. Zudem stellt Silvia Annen fest, dass keine theoretische Fundierung der den Analysen zugrundeliegenden Kriterien für die Anerkennung von Kompetenzen erkennbar ist, um somit eine systematische Analyse von Anerkennungsverfahren zu erlauben. In diesem Ansatzpunkt – dem Aufzeigen der Lücke – liegt auch die Stärke der vorliegenden Arbeit.

Zunächst wird dem Leser die methodische Fundierung offengelegt. Der breite Methodenmix von der Analyse relevanter Literatur und Dokumente hin zu Experteninterviews führt anschließend zu der von der Autorin vorgenommenen Typenbildung. Das nachfolgende Kapitel ermöglicht es in gelungener Art und Weise, die für die Arbeit zugrundliegenden Begrifflichkeiten entsprechend einzuordnen, indem diese umfänglich beleuchtet werden. Dabei geht Annen nicht nur auf unterschiedliche Lernformen ein, sondern nähert sich auch dem Kompetenzbegriff, klärt den Begriff des Zertifikats und nimmt eine begriffliche Abgrenzung des Prozesses der Anerkennung vor.

Das nachfolgende vierte Kapitel begründet das theoretische Konstrukt der durchgeführten Analyse. Mittels des theoretischen Konzepts der „Neuen Institutionenökonomie“ werden die unterschiedlichen Akteure des Anerkennungsverfahrens zueinander ins Verhältnis gesetzt und ihre Interaktionsmuster werden hierüber modelliert. Nicht zuletzt wird mit diesem Kapitel deutlich, welche Voraussetzungen die Anerkennung von Kompetenzen erfordern. Exemplarisch sei hier auf das vielfach diskutierte Konstrukt des gegenseitigen Vertrauens der Beteiligten verwiesen. Silvia Annen diskutiert Anerkennungsverfahren im Hinblick auf ihre Transaktionskosten und betrachtet die den Verfahren zugrundeliegenden Koordinationsmechanismen, wie Markt, Hierarchie und Netzwerkstrukturen, analytisch. Hierin verdeutlich sich dem Leser die der Bildungsökonomie zugewandte Betrachtungsweise der vorliegenden Arbeit.

Auf der Grundlage dieses theoriegeleiteten Kapitels werden nachfolgend drei Idealtypen – integrativer, autonomer und sekundierender Typ – zur Anerkennung von Kompetenzen herausgearbeitet. So kann der integrative Typ im formalen Bildungssystem verortet werden. Verfahren dieses Modells weisen dabei nicht eindeutig einen summativen oder formativen Charakter auf, sie sind bestimmt durch eine Fremdbeurteilung der erworbenen Kompetenzen sowie durch verfahrensexterne Standards und Normierungen gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu lässt sich der autonome Typ eher im Bereich der non-formalen Bildung verorten. Er kennzeichnet sich durch summative Beurteilungen der Zertifikate, die jedoch keine Entsprechung im formalen Bildungssystem aufweisen. Überwiegend werden hier Kompetenzen über Testverfahren durch Fremdbeurteilung erfasst und sind charakterisiert durch verfahrensinterne Standards und orientieren sich an zuvor festgelegten Kriterien. Der dritte Typ – der Sekundierende – zeichnet sich durch eine formative Ausrichtung aus und weist einen starken Bezug zu den auf informellem Wege erworbenen Kompetenzen auf. Der Erwerb entsprechender Zertifikate wird als bildungspolitisch nicht angestrebt beschrieben und Kompetenzen werden über Selbstbeurteilung durch Portfolios und deskriptive Methoden erfasst. Dieser Typus weist gegenüber den zuvor beschriebenen keine Standards auf und orientiert sich am Individuum.

Dieser hier nur in Auszügen darstellbare Abriss der drei identifizierten Typen, ist von Silvia Annen für den Leser sehr übersichtlich und gut nachvollziehbar erläutert und wird in einer Matrix zusammen gefasst, die sich an zehn Kriterien orientiert.

Im umfänglichsten Kapitel der Arbeit werden anschließend vierzehn europäische und deutsche Verfahren zur Erfassung und Anerkennung von Kompetenzen beschrieben und analysiert, wie z.B. ECDL, ECTS, ECVET, IT-Weiterbildungssystem, ProfilPASS oder Validation des Acquis de l’Expérience (VAE).

Mit dem abschließenden Kapitel gelingt der Autorin gekonnt die Zusammenführung der Ergebnisse. In einem ersten Schritt werden die analysierten Verfahren in die Typologie überführt und auf ihr abgebildet. Dieser Schritt stellt für den Leser in hervorragender Art und Weise die Anwendung der zuvor angefertigten theoretischen Betrachtung auf die Verfahren und ihre Einordnung in die Typologie dar. So resümiert Annen, dass die von ihr angefertigte Typologie weitgehend trennscharf sei und zudem die interne Homogenität und die Konsistenz der Typen gewährleiste. Zudem weise die Typologie eine hohe Bandbreite von Kriterien auf, die sowohl methodische als auch institutionelle Aspekte gleichermaßen berücksichtigen sowie insbesondere die Bedeutung des Signalings und Screenings für die Anerkennung von Kompetenzen herausstellen.

Das rundherum gelungene Werk der Autorin wird ergänzt durch ein umfassendes Literaturverzeichnis und einen informativen Anhang, in dem neben dem Leitfaden für die Experteninterviews auch die Bandbreite der befragten europäischen Experten in einer Übersicht aufgezeigt wird. Zudem werden umfangreiche Musterdokumente angehängt. Für den Leser stellt die vorgelegte Dissertation einerseits ein theoretisch hervorragend fundiertes Werk dar, welches eine hohe Informationsdichte aufweist und sehr übersichtlich beschrieben ist. In gelungener Art und Weise wird die Komplexität der Thematik aufgezeigt, auch mit Blick darauf, welche Hürden bei der Implementierung von Verfahren zur Anerkennung von Kompetenzen im Bildungssystem zu überwinden sind und wie diese genommen werden können. Durch die sehr gut nachvollziehbare Argumentation der Typologie ist dem Leser ein praktikables Instrument an die Hand gegeben. Andererseits leistet die Arbeit einen wertvollen und lesenswerten Beitrag zum Fortschritt in der vor allem in Deutschland schwierigen Debatte um die Anerkennung von Kompetenzen.
Christiane Köhlmann-Eckel (Bonn)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christiane Köhlmann-Eckel: Rezension von: Annen, Silvia: Anerkennung von Kompetenzen, Kriterienorientierte Analyse ausgewählter Verfahren in Europa. Bielefeld: Bertelsmann 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 2 (Veröffentlicht am 26.03.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/3763911516.html