EWR 13 (2014), Nr. 2 (März/April)

Tanja Sturm
Lehrbuch Heterogenität in der Schule
München: Reinhardt UTB 2013
(192 S.; ISBN 978-3825238933; 26,99 EUR)
Lehrbuch Heterogenität in der Schule Vielfalt besteht, ob wir sie nun bemerken wollen oder nicht. Auch die Organisation Schule kann sich vor dieser Tatsache nicht mehr verschließen. Nicht nur verstärkt durch die UN-Behindertenrechtskonvention finden sich Lehrkräfte immer häufiger in pädagogischen und didaktischen Situationen wieder, in denen es darauf ankommt, Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Lernausgangslagen gemeinsam zu unterrichten. Wie man sich der Aufforderung zum Umgang von Heterogenität stellen kann, versucht Tanja Sturm in diesem Lehrbuch zur Heterogenität in der Schule herauszustellen. Das Buch fordert angehende Lehrerinnen und Lehrer dazu auf, sich kritisch und reflektiert mit den eigenen Grundsätzen und Kategorien gegenüber Schülerinnen und Schüler auseinanderzusetzen, um so möglicher Benachteiligung und sozialer Ausgrenzung vorzubeugen – oder diese zu überwinden.

Die Einleitung stellt gleichzeitig das erste Kapitel dar, in dem auch das Ziel des Buches erörtert wird, „die strukturellen und kulturellen Bearbeitungsformen von sozialen Differenzen in Schule und Unterricht sowie die dabei hervorgebrachten Praktiken von systematischer Benachteiligung sozialer Gruppen zu reflektieren“ (9). Dabei sollen bisherige Vorstellungen von Schule und Unterricht irritiert werden. Anhand einer „theoretischen Folie“ (10) werden strukturell und kulturell determinierte Handlungspraxen, die zu Benachteiligung und Exklusion führen können, identifiziert, um sie beispielsweise in der Unterrichtsplanung überwinden zu können. Dazu werden die vier „in der Reproduktion von Ungleichheit durch Schule“ (12) besonders relevanten Differenzdimensionen Geschlecht, sozio-ökonomische Ungleichheit, Behinderung und Migrationshintergrund mit Blick auf mögliche Auswirkungen auf Teilhabe und Partizipation an Bildung behandelt.

In Kapitel 2 wird das Verständnis der Autorin von Heterogenität vorgestellt. Es wird deutlich, dass es Gemeinsamkeiten bedarf, um Verschiedenheit in sozialen und kulturellen Bezugsformen erkennbar zu machen. Dabei wird auf die Zugehörigkeit von Milieus eingegangen und diese vor dem Hintergrund der Kapitalsorten nach Bourdieu verstehbar gemacht. Zentral stehen sich milieuspezifisches, konjunktives Erfahrungswissen und normative Erwartungen in der Organisation Schule gegenüber. Die damit verbundene Schwierigkeit manifestiert sich in einer milieuübergreifenden Verständigung, die in den normgesetzten Repräsentationen der Schule nicht berücksichtigt oder durch einseitige Stereotypen kategorisiert wird. Durch diese vermeintlichen Zuschreibungsprozesse kann es zu Diskriminierung, Benachteiligung und sozialer Ausgrenzung aufgrund der Milieuzugehörigkeit kommen.

Daran schließt sich mit Kapitel 3 ein Abschnitt an, in dem Schule als Organisation mit ihren formalen benachteiligungsproduzierenden Regeln vorgestellt wird. Neben der Erläuterung der allgemeinen Funktionen von Schule innerhalb der Gesellschaft beinhaltet das Kapitel auch einen knappen historischen Abriss, der die Entwicklung von Strukturen und formalen Regeln nachzeichnet, die sich bis heute auf die Reproduktion der Differenzdimensionen durch die Schule auswirken. Die Darstellung der Funktionen von Schule schließt mit dem Ergebnis, dass sich daraus ein Zielkonflikt hinsichtlich des Bildungsauftrags und der gleichzeitigen Selektionsprozesse ergibt, da „die Schule zugleich Unterschiede zwischen Schüler/-innen ausgleichen und herstellen soll“ (43). Am Beispiel der schulischen Leistungsbewertung arbeitet die Autorin abschließend die Bedeutung formaler Regeln bei der Herstellung und Bearbeitung von Differenz heraus.

Mit heterogenen Milieus in Schule und Unterricht beschäftigt sich Kapitel 4. Es beschreibt die Differenzdimensionen der sozio-ökonomischen, geschlechts-, migrations- sowie behinderungsbedingten Heterogenität. Wenn Erwartungen einer normgesetzten Schule, die durch formale Regeln festgeschrieben werden, nicht einlösbar sind, weil sie von Schülerinnen und Schülern nicht verstanden werden, kann dieses fehlende Verständnis zu Bildungsbenachteiligung führen. Die Setzung der Erwartungen geschieht mit der Begründung, dass es sich um individuelle Eigenschaften der Schülerinnen und Schüler handelt, ohne organisationsstrukturelle Rahmenbedingungen ausreichend kritisch zu hinterfragen. Das Kapitel hebt deutlich hervor, wie stark Schule als Akteur demzufolge an Bildungsmisserfolgen beteiligt ist und wesentlich zur beständigen Wiederherstellung von sozialer Ungleichheit beiträgt. Zur Untermauerung der Argumentationslinien werden Ergebnisse empirischer Studien herangezogen [1].

Dem aufgezeigten Anteil an der Reproduktion von Differenz möchte die Autorin in Kapitel 5 die „Inklusion als Möglichkeit für Reflexion über Heterogenität und Bearbeitung von Heterogenität“ (12) entgegensetzen. In der Auseinandersetzung mit dem pädagogischen Konzept der Inklusion wird dargestellt, dass Inklusion die Überwindung von Diskriminierung und Benachteiligung in Schule und Unterricht als Zielsetzung versteht. Dafür bedarf es der Entwicklung inklusiver Praktiken, d.h. einer Ausgestaltung der formalen Regeln dahingehend, dass diese ihr diskriminierendes Potential verlieren, sowie einer Verankerung des Konzepts als schulisches Prinzip. Im Anschluss wird Bezug auf Lern- und Bildungsprozesse genommen. Hierzu ist eine pädagogische Diagnostik erforderlich, die im nächsten Abschnitt aufgegriffen wird. Die widersprüchlichen Erwartungen und der ebenso widersprüchliche Handlungsrahmen von Schule im Sinne der Bildungs- und Selektionsfunktionen werden weiter vertieft und schulische Grundkonflikte aufgezeigt. Dies geschieht etwa mit Blick auf die Logik der Organisation Schule, „Situationen zu schaffen, an denen nicht alle vergleichbar partizipieren können, um eine Bewertung im Modus besser/schlechter (nachträglich) legimitieren zu können“ (156). Um diesen Grundwiderspruch aufzuheben und allen Schülerinnen und Schülern in ihrem individuellen Verhältnis zur Welt gerecht werden zu können, empfiehlt die Autorin die „entwicklungslogische Didaktik“ nach Georg Feuser (157f) in Schule und Unterricht zu etablieren. So wird eine Lernumgebung herausgefordert, die Vielfalt zulässt und ein „explizit generalisiertes Verständnis“ (161) einer inklusiven Gesellschaft eröffnet. Wichtig ist es hierbei, Hierarchien und miteinander verzweigte Praktiken zu hinterfragen, um vor diesem Hintergrund ein egalitäres Miteinander zu gestalten.

Das vorliegende Lehrbuch gibt einen fundierten einführenden Überblick über die vier Kategorien sozialer Unterscheidung, die anhand gleicher Aspekte analysiert werden (Milieubedingte Heterogenität, Benachteiligung und Schlechterstellung, Differenzdimension im Kontext von Schule und Unterricht). Der historische Abriss zeigt, wie deutlich die Organisation Schule zur Herstellung von Differenzen beigetragen hat und weiterhin beiträgt. Diese Bedingtheit ist grundlegend, um die aktuelle Situation von Benachteiligungen durch das Schulsystem verstehen zu können. Das Buch erfüllt nicht nur durch diese umfassende Auseinandersetzung nach unserem Verständnis die Kriterien eines Lehrbuches, sondern überzeugt auch durch seinen interdisziplinären Ansatz. Die soziologischen Überlegungen zur lebensweltlichen Ausgestaltung finden eine darauf bezugnehmende Verknüpfung mit den Differenzdimensionen, die benachteiligende Praxen begreifbar machen. Stringent wird der Zusammenhang zur pädagogischen Praxis hergestellt. Durch eine zusammenfassende Wiederholung und Übungsfragen am Ende der Kapitel werden Möglichkeiten angeboten, das erworbene Wissen zu überprüfen, ggf. auszubauen. Diese Aufgaben fragen nicht nur vermitteltes Wissen ab, sondern fordern teilweise zur konrkreten Anwendung der erarbeiteten Kenntnisse auf (z.B. Analyse eines Bildungsplanes mit Bezug auf die vier Differenzdimensionen, 124).

Kritisch anzumerken ist, dass die Autorin theoretische Zusammenhänge als gegeben setzt, ohne deren Auswahl nachvollziehbar zu machen. Der hin und wieder fehlenden Tiefe bei der Darstellung der theoretischen Perspektiven wird am Ende jedes Kapitels durch weiterführende Literaturempfehlungen sowie durch Hinweise zu anderen theoretischen Bezügen entgegen gewirkt, wobei der Verweis auf weitere Theoriestränge leider nicht durchgängig erfolgt. Die verwendeten Begriffe oder Konzepte werden nicht immer aus dem Kontext heraus zugänglich; teilweise fehlt eine weiterführende Erläuterung oder Einordnung. Findet eine Aufklärung der Termini im späteren Verlauf des Buches statt, haben wir fehlende Verweise darauf vermisst (z.B. „Input- und Outputsteuerung“ auf S. 52 mit folgender Erläuterung auf S. 59). Ausführungen zu den zentralen Begrifflichkeiten „Bildung“ und „Erziehung“, die nach unserem Erwartungshorizont in einem Lehrbuch zum Thema Schule elementar sind, finden keine einführende Vorstellung. Erst in Kapitel 5 erfolgt die unerwartete Auseinandersetzung, ohne dass auf diese in den Kapiteln zuvor hingewiesen wird. In diesem Zusammenhang hätte insgesamt häufiger auf Definitionen oder Merksätze zurückgegriffen oder ein Glossar eingeführt werden können. Die Verwendung von Beispielen nimmt im Verlauf des Buches ab und ist zum Teil sehr ungleich verteilt: In Bezug auf heterogene Milieus in Schule und Unterricht sind allein die Ausführungen zur behinderungsbedingten Heterogenität mit Beispielen belegt. Bei nicht vorhandenen Berührungspunkten zu den jeweiligen Differenzen würden diese durch Beispiele besser nachvollziehbar und erklärbar werden. Vor allem für die Zielgruppe der Lehramtsstudierenden könnte dies eine Erleichterung der Lektüre darstellen – auch vor dem Hintergrund des sehr stark durch Wissenschaftssprache geprägten Sprachduktus.

Im letzten Kapitel wären klarer und prägnanter formulierte Sätze zur Inklusion sinnvoller, ohne dass dabei der Informationsgehalt leidet. Andererseits erscheint der Versuch der Erklärung von sozialen Konstruktionen in Kapitel 2 zu allgemein und greift deshalb für diese grundlegende Thematik zu kurz, da alle Differenzdimensionen darauf aufbauen. Ferner nehmen wir bei der Differenzlinie „sozioökonomische Benachteiligung“ die Verwendung der Indikativform als besonders auffallend wahr. In allen anderen bearbeiteten Differenzdimensionen werden flexiblere Annahmen gegenüber der schulisch gesetzten Benachteiligung und deren Überwindung vorgenommen. Auch wenn deutlich wird, dass Bildungsbenachteiligung sich als Ausdruck gesellschaftlicher Ungleichheit zeigt, ist diese Darstellung nicht umfassend.
Die mit dem Buch veröffentlichte E-Learning Software „Interaktives Training Heterogenität in der Schule“, in der sich weitere 200 Lernfragen mit der Thematik auseinandersetzen, konnte trotz intensiver Auseinandersetzung aufgrund technischer Schwierigkeiten nicht getestet werden. Der Verlag verweist darauf, dass diese Probleme momentan behoben werden.

Das „Lehrbuch Heterogenität in der Schule“ von Tanja Sturm stellt unserer Meinung nach eine wissenschaftlich fordernde Einstiegslektüre für Lehramtsstudierende dar. Sie dient dazu, Strukturen und Praktiken kennen zu lernen, die zur Benachteiligung sozialer Gruppen in der Schule und zur Behinderung von Lernprozessen führen können. Außerdem regt das Buch zur Auseinandersetzung und Reflexion mit dem eigenen Erfahrungshorizont an. Vor dem Hintergrund der dargelegten Tragweite individueller Zuschreibungsprozesse ist genau dies die Voraussetzung dafür, dass das pädagogische Handeln verändert und inklusive Lernformen etabliert werden können.

[1] wie z.B. PISA-Konsortium (2001): PISA 2000. Opladen: Leske + Budrich und Wocken, Heinz (2000): Leistung, Intelligenz und Soziallage von Schülern mit Lernbehinderung. Zeitschrift für Heilpädagogik 51, 492-503.
Karin Mannewitz und Sabine Roeber (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Karin Mannewitz und Sabine Roeber: Rezension von: Sturm, Tanja: Lehrbuch Heterogenität in der Schule. München: Reinhardt UTB 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 2 (Veröffentlicht am 26.03.2014), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/3825238933.html