Nach der in der Reihe „Pädagogik und Politik“ unter dem Titel „Pädagogik als humanes Erkenntnissystem. Das Materialismuskonzept in der Erziehungswissenschaft“ erschienenen Anthologie von Hans-Jochen Gamm (2012) liegt mit der zweibändigen Edition eine Werkschau des zweiten Vertreters materialistischer Pädagogik vor, der ab 1972 an der TU Darmstadt lehrte: Gernot Koneffke (1927-2008).
Die beiden Bände versammeln unter dem alle Ausführungen durchziehenden Motiv „Widersprüche bürgerlicher Mündigkeit“ zentrale Texte Koneffkes, ergänzt durch unbekanntere, verstreute und sechs unveröffentlichte Arbeiten. In sechs thematisch untergliederten Abschnitten (drei je Band) bieten die Herausgeber_innen Bierbaum und Herrmann die Möglichkeit, die Genese, Systematik und Komplexität des Denkens Koneffkes nachzuvollziehen: Die in der Anthologie in den Blick genommene Schaffensphase erstreckt sich über einen Zeitraum von mehr als 50(!) Jahren: beginnend bei der Jugendverbandsarbeit der SJD – Die Falken (1955) bis hin zu einem posthum veröffentlichten Aufsatz im Jahr 2009.
Die Anthologie wird mit einer aufschlussreichen, prägnant gehaltenen Einführung von Bierbaum und Herrmann eröffnet (I, 5-19). Die beiden Autor_innen stellen Grundmotive und Problemstellungen im Denken Koneffkes vor, insbesondere der Begriff der Mündigkeit als „Achse“ neuzeitlich-bürgerlicher Pädagogik (II, 156) sowie seine Kritik an einem „naiven und eindimensionalen Verständnis von Mündigkeit bzw. Pädagogik“ (I, 8) werden verdeutlicht. Das der Einleitung vorangestellte Zitat Koneffkes lässt die Struktur und Stoßrichtung seiner gesellschaftstheoretisch fundierten, dialektisch angelegten Pädagogik bereits erahnen: Steht dessen Verständnis von Pädagogik und Bildungstheorie der Kritischen Theorie Adornos sehr nahe, ist gleichzeitig eine nuancierte Verschiebung festzustellen, die ihr eine Eigenstruktur verleiht: „Es gibt das richtige Leben im Falschen, aber mit ihrer Entmischung ist das so eine Sache. Denn beide sind mit- und durcheinander deformiert; ein Reines herausholen zu wollen ist pure Illusion. Ist also die Entmischung hoffnungslos? Nichts da. Konnte sich das Falsche gegen das Richtige durchsetzen und dieses in schwebender Ohnmacht halten, so ist auch die Gegenbewegung problemlos denkbar. […] Hoffnung also? Wir wissen viel zu wenig, um ohne Hoffnung sein zu dürfen und zu viel, um unter Schwärmerei verbucht zu werden.“ (I, 5)
Der erste Abschnitt „Erziehung für die werdende Gesellschaft“ versammelt Texte aus Koneffkes Arbeit im wissenschaftlichen Beirat der „Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken“ in den 1950er Jahren, angereichert durch eine reflexive Rückschau in Form eines Briefes an einen damaligen Beiratskollegen (1991). Es sind programmatische Gegenentwürfe, Stellungsnahmen und Eingriffe zu Aufgaben und Zielen einer sozialistischen Pädagogik angesichts der vorherrschenden Funktion von Erziehung in der bestehenden Gesellschaft: In ihr sorgen „[d]ie herrschenden Kräfte der jeweils bestehenden Gesellschaftsordnung […] für die eigene Fortexistenz und Regeneration.“ (I, 37) Während sich der nicht leicht zugängliche Sprachduktus schon in diesen Texten andeutet, sind die Ausführungen dennoch exemplarisch und konkret. Ein auffallend aktuell erscheinender Satz, wenngleich vor dem Hintergrund verschiedener historischer Kontexte, spiegelt Koneffkes Kern der Überlegungen zur Jugendverbandsarbeit und den darin enthaltenen Gegenimpuls wider: „Die Krise der westlichen Welt besteht in ihrer Kapitulation vor der Zukunft.“ (I, 40, [1958]) In einem späteren Aufsatz (2005) fügt er diesem Gedanken die historische Dimension hinzu: „Bildung öffnet Zukunft, aber Zukunft hat nur, wer um seine Herkunft weiß.“ (II, 137) Die Auslöschung von Vergangenheit und Zukunft, und nur in der Beziehung aufeinander sind sie angemessen und sinnvoll denkbar, schreibt irrationale Herrschaftsformen fort; Alternativlosigkeit sowie die Unfähigkeit zur Utopie werden zum Signum entfremdeten Denkens und Fühlens.
Koneffke stellt diesen Entwicklungen nun nicht einen statischen, auf diesen hin zu erziehenden Endzustand entgegen, sondern er skizziert einen reflexiven, prozesshaften Mündigkeitsbegriff, den er im Laufe seiner Schaffensphase immer weiter ausarbeitet. Daraus erschließt sich für ihn die Aufgabe sozialistischer Erziehung: „[Sie] verlangt die Befähigung des Menschen, sich selber in der Gesellschaft und in der Geschichte stets befreien zu können, indem er die Gefährdungen der Freiheit in der Geschichte wie in seinem Wesen überwinden lernt […] Sozialistische Erziehung bildet zur Geschichte hin“ (I, 39). Eine so angelegte Erziehung zur Mündigkeit wird, Koneffke zufolge, zum „Korrektiv für alle Kräfte, die den Sozialismus verwirklichen, also auch ihr eigenes Korrektiv“ (ebd.).
Der zweite Abschnitt „Integration und Subversion. Studien zur gesellschaftlichen Funktion der Schule und Bildungsreform“ verweist auf den 1969 unter diesem Titel erschienen Aufsatz in der Zeitschrift Argument, der Koneffke als eingreifenden Intellektuellen wohl über die Fachöffentlichkeit hinaus bekannt machte. Passend zur Markierung aller Lebensbereiche als ‚politische‘ im Zuge der 68er-Bewegung vollzieht Koneffke die kritisch-politische Wendung für die Pädagogik: Er verdeutlicht, dass Bildungsverhältnisse als Gesellschaftsverhältnisse zu denken sind und unternimmt darin die systematische Reflexion und Zueignung der von Marx im „Kapital“ dargelegten Kritik der Politischen Ökonomie für das Bildungswesen. Koneffke expliziert den Grundwiderspruch zwischen der gesellschaftlichen Erzeugung ungeheuren Reichtums einerseits, der potenziell die Menschheit von irrationaler Herrschaft befreien könnte, und der privaten Aneignung dessen andererseits – und buchstabiert diesen Widerspruch für das Bildungswesen aus. Die Frage, welchen Anteil die in die bürgerlichen Verhältnisse verstrickte Pädagogik (deren Produkt sie zugleich ist) an progressiven, an die Wurzel gehenden Veränderungen haben kann und muss, beantwortet er mit dem dialektischen Begriffspaar „Integration und Subversion“. Nicht zuletzt lohnt die (Re-)Lektüre des Aufsatzes, da er darin bereits vor 60 Jahren auf potenzielle Entwicklungen verweist, die uns heute u. a. unter den Stichworten „Bologna-Reform“ und den Strategien zum „Lebenslangen Lernen“ bekannt sind.
Angesichts der im vorangegangenen Abschnitt festgestellten, der Tendenz nach zur „Liquidation von Bildung“ (I, 132) führenden Organisation der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, lässt sich der danach folgende Abschnitt „Dennoch: Bildung als Prinzip“ wiederum als widerständiger Einspruch lesen. Da Pädagogik in ihrer gesellschaftlichen Funktion primär auf Anpassung an das Bestehende und in ihrer Tendenz auf die Herausbildung „instrumenteller Vernunft“ (Horkheimer) zielt, bedarf es der Herausschälung emanzipativer Momente sowie widerständiger Interventionen. Bildung wird so zum Schauplatz im Kampf ums Bewusstsein, ähnlich wie es ideologiekritische Zugänge oder die aktuelle Kritik des kognitiven Kapitalismus in den Blick nehmen: „Es wäre anachronistisch, heute noch die Organisation des politischen Einspruchs auf ein vom Elend der Verhältnisse selber erzeugtes Klassenbewusstsein gründen zu wollen.“ (I, S. 194) Außerdem knüpfen die in diesem Abschnitt vorzufindenden Studien und Einwürfe an Konfliktlinien der 1980er Jahre an, u. a. zum Historikerstreit in der Pädagogik („Auschwitz und die Pädagogik“) sowie Einsprüche gegen die militärische Sozialisation „als Strukturzug bürgerlicher Erziehung“ (I, 197).
„Was bleibt?“ – diese Frage überschreibt den vierten Abschnitt der Anthologie (und den ersten Abschnitt des zweiten Bandes), worunter sich „Studien zur Sozialgeschichte und Philosophie der Bildung“ sammeln. Die den Abschnitt betitelnde Frage ist jene, die für die historisch-systematische Arbeitsweise materialistischer Pädagogik konstituierenden Charakter hat und mit Hilfe derer sich Impulse für heutige Frage- und Problemstellungen ideologiekritisch herauspellen lassen. So dechiffriert Koneffke u. a., dass sich in der demokratischen Reformpädagogik zwar fruchtbare Überlegungen und Konzepte finden lassen, bspw. beim Bund entschiedener Schulreformer (1919-1933), die den Zusammenhang von Pädagogik und Politik berücksichtigen, eine systematische Reflexion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Widerspruchslagen unterbleibt jedoch. Stattdessen soll die gesellschaftliche Emanzipation aus der „heilende[n] Kraft befreiter Individuen“ (II, 59) resultieren.
Mündigkeit in diesem Verständnis entziffert er so als bürgerlich-ideologisches Erlösungsversprechen. Geradezu frappierend ist die bis heute fortdauernde Spaltung und Gegenüberstellung von beruflicher Qualifikation und allgemeiner Menschenbildung, die Koneffke anhand von Philanthropismus und Neuhumanismus in „Widersprüche im frühbürgerlichen Bildungsbegriff“ (II, 31 ff.) des 17./18. Jahrhunderts nachzeichnet. Einseitige Herauslösungsversuche bleiben, so seine den Gegenstand nach wie vor erhellende Conclusio, letztlich in bürgerlich-repressiven Perspektiven verhaftet, gerade weil sie jeweils „die Menschen als Privateigentümer in ihr Konzept ein[beziehen]“ (II, 38).
Die enge Zusammenarbeit mit Heinz-Joachim Heydorn bis zu dessen Tod (1974) beeinflusste Koneffkes Denken zutiefst, dessen Hauptwerk betitelt den fünften Abschnitt der Anthologie „Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft“. Der im Anschluss an Heydorn entwickelte Begriff der Bildung hat wenig mit den üblichen Bestimmungen (inhaltliche Dimensionen, sozio-politische Zuordnungen etc.) gemein, da in diesen „Kontur und Geltung […] unentscheidbar bleiben“ (II, 135). Heydorn und eben auch Koneffke erörtern Bildung als Begriff, der die geschichtliche Gewalt ebenso mit produziert oder befördert wie auch eine kritische Einsicht in diese Prozesse möglich macht. Die Frage nach der „Produktion von Wissen“ (II, 135), die Koneffke an dieser Stelle aufwirft, dürfte im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts und unter dem Vorzeichen der so genannten Digitalisierung aktueller denn je sein.
Der letzte Abschnitt „Zur Dialektik der Mündigkeit. Studien zur Genese und Begründung der Pädagogik“ ist für heutige Leser_innen als Brückenschlag zu den aktuellen Diskursen in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft zu verstehen sowie als möglicher Ausgangspunkt zur Fortentwicklung materialistischer Pädagogik. Neben den wissenschaftstheoretischen Überlegungen hinsichtlich ihrer Begründung ist der Vermittlungsversuch mit der Foucaultschen Analytik aufschlussreich. In einem bisher nicht gedruckten Brief untersucht Koneffke theoriesystematisch unter dem Titel „Fragen an Foucault“ dessen Werk auf „Anschlußpunkte“ und „harte Unverträglichkeiten“ (II, 186) für die Erziehungswissenschaft, u. a. markiert er die pauschale Absage an jede „Denkbarkeit einer Erziehung zur Mündigkeit“ als unrichtig (ebd.); und auch die voreilige Absage an die Autonomie des Subjektes im Anschluss an Foucault nimmt er in den Blick.
Abschließend hervorzuheben, weil verdienstvoll, ist die von Harald Bierbaum zusammengestellte, Vollständigkeit beanspruchende Bibliographie Koneffkes, mit der das zweibändige Werk schließt (II, 225ff.).
Die zweibändige Anthologie Gernot Koneffkes ruft nicht nur die „politische Explikation der Pädagogik“ sowohl in Theorie als auch Praxis sowie die fortwährende Bedeutung eines an die Sozialgeschichte rückgebundenen differenzierten, widersprüchlich gefassten Mündigkeitsbegriffs als Zielstellung von Erziehung und Bildung in Erinnerung, sondern die Veröffentlichung lässt sich auch als Gegenimpuls zu den vorhandenen Tendenzen des „Zeitgeistsurfens“ (Ludwig A. Pongratz in Bezug auf die Erwachsenenbildung) in der Erziehungswissenschaft interpretieren. Der historisch-systematische Ansatz, der darin zur Entfaltung kommt, ist nahezu anachronistisch: Er widerspricht schon in seiner Darstellungsweise den derzeitigen hegemonialen Forschungsstrategien und der Veröffentlichungspraxis.
Die von Koneffke entwickelte materialistische Bildungstheorie ist an vielen Stellen theoretisch, sozialgeschichtlich und sprachlich voraussetzungsreich, gelegentlich machen die pädagogisch-ideengeschichtlichen „Umwege“ in den Texten den analysierten Gegenstand schwer nachvollziehbar und daher an der ein oder anderen Stelle erklärungsbedürftig, da der Wahrheitsanspruch auch an die konkrete historische Situation geknüpft bleibt. Allerdings eröffnet deren historisch-systematische Aufschlüsselung, Zueignung und Weiterentwicklung tiefgreifende Einblicke in emanzipative Subjektwerdungsprozesse. Ein systematischer Einstieg in eine so zu verstehende Bildungstheorie und -praxis ist Bierbaum und Herrmann mit ihrer Textauswahl gelungen.
EWR 18 (2019), Nr. 4 (Juli/August)
Widersprüche bürgerlicher Mündigkeit
Materialistische Bildungstheorie als politische Explikation der Pädagogik
Band I: Bildungspolitische Analysen und Einsprüche
Band I: Bildungspolitische Analysen und Einsprüche
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2018
(220 S.; ISBN 978-3834019110; 19,80 EUR)
Widersprüche bürgerlicher Mündigkeit
Materialistische Bildungstheorie als politische Explikation der Pädagogik
Band II: Bildungstheoretische Begründungen und Positionierungen
Band II: Bildungstheoretische Begründungen und Positionierungen
Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2018
(232 S.; ISBN 978-3834019127; 19,80 EUR)
Lukas Eble (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lukas Eble: Rezension von: Koneffke, Gernot: Widersprüche bürgerlicher Mündigkeit. Materialistische Bildungstheorie als politische Explikation der Pädagogik, Band I: Bildungspolitische Analysen und Einsprüche / Band II: Bildungstheoretische Begründungen und Positionierungen (herausgegeben und eingeleitet von Harald Bierbaum und Katharina Herrmann). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/3834019110.html
Lukas Eble: Rezension von: Koneffke, Gernot: Widersprüche bürgerlicher Mündigkeit. Materialistische Bildungstheorie als politische Explikation der Pädagogik, Band I: Bildungspolitische Analysen und Einsprüche / Band II: Bildungstheoretische Begründungen und Positionierungen (herausgegeben und eingeleitet von Harald Bierbaum und Katharina Herrmann). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/3834019110.html