Der Umgang mit Differenz und „dem Fremden“ hat in jüngerer Zeit eine neue Konjunktur im pädagogischen Diskurs erfahren. Auch wenn die bildungsgeschichtliche Auseinandersetzung mit intersektionalen Zugängen insgesamt noch zurückhaltend ist, liegen in der historisch-pädagogischen Genderforschung bereits vielfache Ansätze und Studien zu Verschränkungen von Ungleichheitskategorien wie race, class und gender vor. Besondere Aufmerksamkeit hat dabei die Frage gefunden, wie unterschiedliche Differenzsetzungen miteinander in Beziehung stehen. So wurde immer wieder auf kolonialistische, imperialistische und nationalistische Denkmuster und Praktiken bürgerlicher Frauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert hingewiesen. Demnach übernahmen reisende Frauen aus westlichen Ländern häufig die Rolle von weißen Kulturträgerinnen, die soziale Grenzlinien festgeschrieben und diese in Bildungs- und Reformdebatten eingeflochten haben [1]. Reiseberichte dieser Frauen nehmen für eine kulturwissenschaftlich orientierte historische Bildungsforschung eine besondere Bedeutung ein.
Zu dieser Quellengattung zählt das von Bianca Walther im Bundesarchiv Koblenz entdeckte und nun kommentiert herausgegebene „Indische Tagebuch“ der Frauenrechtlerin Anna Pappritz (1861−1939). Dieses Tagebuch dokumentiert die viermonatige Reise nach Ceylon, Indien und Kairo, die Pappritz mit einer Mitstreiterin in der Frauenbewegung, Katharina Scheven (1861−1922), im November 1912 antrat. Von der Reise waren bislang ausschlieĂźlich die Reisedaten bekannt, alles Weitere bildete fĂĽr die biografische Forschung eine rätselhafte LĂĽcke. Das Manuskript, von dessen Existenz fest ausgegangen wurde, galt bisher als verschollen, weil es nicht im Berliner Nachlass von Anna Pappritz lagerte [2], sondern ĂĽber Umwege in den Nachlass von Marie-Elisabeth LĂĽders eingegangen war [3].
Die aus einer großbürgerlichen Familie stammende Anna Pappritz setzte sich politisch in erster Linie gegen die staatliche Reglementierung der Prostitution ein. Als „wohlhabende Vollzeitaktivistin” [4] stieg sie trotz ihres späten Eintritts in die Frauenbewegung schnell in eine Führungsposition auf. Sie gründete 1899 den ersten deutschen Ortsverein der abolitionistischen Bewegung in Berlin und fünf Jahre später gemeinsam mit Scheven den deutschen Zweig der Internationalen Abolitionistischen Föderation in Dresden. Mit ihrer Lebensgefährtin Margarete Friedenthal, die u. a. zusammen mit Alice Salomon in den Berliner Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit mitarbeitete, engagierte sie sich darüber hinaus auch auf verschiedenen Gebieten der Wohlfahrtspflege.
Wie andere finanziell unabhängige Frauenrechtlerinnen war Pappritz in der Lage, viel zu reisen und so zum Transfer von Wissen und Ideen innerhalb der national und international organisierten Frauenbewegungen beizutragen. Auch deshalb lag die Vermutung nahe, dass ihre Indienreise vorrangig politischen Interessen gedient haben müsse. Darauf lässt auch ein Artikel über den Stand der Prostitutionsdebatte in Indien schließen, den sie direkt nach ihrer Reise publiziert hat [5]. Das Tagebuch legt nun offen, welche Motivation Anna Pappritz im Jahr 1912 nach Indien führte: Sie war entgegen aller Vermutungen als Touristin gereist. In ihren Tagebuchblättern berichtet Pappritz ihrer Leser*innenschaft aus ihrem engsten Kreis, an die sie die Blätter regelmäßig verschickte und hin und wieder mit persönlichen Grüßen versah, von ihren Eindrücken und Erlebnissen der Reise.
Die kommentierte Edition des Tagebuchs bietet eine umfangreiche und anregende Einführung von Bianca Walther, die das sorgsam redigierte und mit zahlreichen Erläuterungen und Abbildungen versehene Manuskript rahmt und einer breiten Leser*innenschaft zugänglich macht. Neben biografischen Informationen zu den beiden Touristinnen ordnet die Herausgeberin die Aufzeichnungen in die Kulturgeschichte des weiblichen Reisens in der Kolonialzeit und den sich entfaltenden Massentourismus ein. Schließlich fragt sie danach, wie Anna Pappritz in ihrem Tagebuch auf das Land und seine Menschen blickte und bilanziert, dass dieser Blick vielschichtig gewesen sei. Auch wenn Pappritz keine Verfechterin des Kolonialismus gewesen sei, sei sie ganz selbstverständlich von rassistischen und kolonialistischen Überlegenheitsvorstellungen und Privilegien ausgegangen, wohingegen sie nur hin und wieder kulturrelativistische Überlegungen angestellt habe (50ff.).
Die EinfĂĽhrung schlieĂźt mit einigen Hinweisen zum Typoskript. Walther macht an dieser Stelle transparent, wie es ĂĽberarbeitet wurde. Im Anhang schlieĂźlich finden sich aufschlussreiche Zusatzinformationen zu Organisation und Verlauf der Reise und ein Personenregister.
Das Reisetagebuch selbst bietet detaillierte Aufzeichnungen zum Reiseverlauf und den damit verbundenen Beschwerlichkeiten: viele Beschreibungen der touristischen Attraktionen, die mitunter – wie Walther anmerkt – die Texte der mitgeführten Reiseführer repetieren (50), Ausführungen zu gesundheitlichen Problemen, die die vorbelastete Pappritz auf ihrer Reise plagten, sowie Schilderungen verschiedener Reibereien mit ihrer Reisegefährtin. Pappritz, das zeigt ihr Tagebuch deutlich, verstand die Reise als Bildungserlebnis, war jedoch kaum an Austausch und Irritation interessiert. Immer wieder drückt sie ihre Überlegenheitshaltung aus, zum Beispiel wenn sie von einer Zugfahrt berichtet, bei deren Antritt die Kolleginnen ihr Abteil mit „3 schwarze[n] Weiber[n] und 2 brüllende[n] schwarze[n] babies“ belegt vorfanden: „Ich ließ mir gleich den Station-master kommen, und wurde saugrob und hielt ihm die Unverschämtheit vor, von weißen Damen zu verlangen, mit Natives zusammen zu fahren“ (114). Es entsteht das Bild einer echten Touristin, die sich mit ihren Aufzeichnungen – so Walther – in die Tradition der weißen, bildungsbürgerlichen Selbstdarstellung einschrieb (12f.) und die Frauenrechtlerin mehr oder weniger zu Hause gelassen hatte (49).
Für die zukünftige Pappritz-Forschung stellt sich die Frage, warum die Reise, deren gesundheitliche Nachwirkungen Pappritz für mehrere Jahre fast vollständig aus der Bahn geworfen haben, in den späteren Publikationen und persönlichen Aufzeichnungen der Frauenrechtlerin keine Rolle gespielt hat. Aber auch der bildungshistorischen Forschung eröffnen sich mit dieser Quelle vielfältige Forschungsfragen. So verdeutlicht das Reisetagebuch von Anna Pappritz, dass auch ohne explizites kolonialistisches Engagement das Denken von Frauenbewegungsaktivist*innen stark von kolonialistischen Mustern durchzogen war. Daran lässt sich die Frage anschließen, wie diese auf die sozialpolitischen und pädagogischen Diskurse und Praktiken der Frauenbewegung – wie zum Beispiel die Sittlichkeitsdebatte, an der Pappritz partizipierte – Einfluss genommen haben. Solchen Verflechtungen ist innerhalb der Frauenbewegung bisher noch kaum nachgegangen worden [6]. Die vorliegende Edition bildet einen exzellent aufbereiteten Anstoß für Untersuchungen in dieser Richtung.
[1] Z. B. W. Gippert (2012): Abwehr – Annäherung – Aneignung. Fremdheitskonstruktionen und Kulturtransfer in Frauenreiseschriften. In: E. Kleinau/B. Rendtorff (Hg.): Eigen und anders. Beiträge aus der Geschlechterforschung und der psychoanalytischen Pädagogik. Opladen: Barbara Budrich, S. 35−50.
[2] Das Helene-Lange-Archiv im Landesarchiv Berlin hält den Nachlass von Anna Pappritz, der inzwischen im META-Katalog des i.d.a.-Dachverbandes deutschsprachiger Lesben-/Frauenarchive, -bibliotheken und -dokumentationsstellen als Digitalisat online verfügbar ist. https://www.meta-katalog.eu/Record/BRep23513hla (12.02.2021).
[3] Diese und andere weiterfĂĽhrende Informationen zum Tagebuch und der Reiseroute finden sich auf der Homepage der Herausgeberin: https://biancawalther.de/anna-pappritz/ (12.02.2021).
[4] K. Wolff (2009): Der siebzigste Geburtstag. Die Abolitionistin Anna Pappritz und der Kreis ihrer GratulantInnen. In: Ariadne 55, S. 26−33.
[5] K. Wolff (2017): Anna Pappritz 1861−1939. Die Rittergutstochter und die Prostitution. Sulzbach/Taunus: U. Helmer Verlag, S. 259.
[6] A. Dietrich (2009): Sittlichkeit zwischen weiblicher Emanzipation und „Hebung der Rasse“. In: Ariadne 55, S. 12−17.
EWR 20 (2021), Nr. 1 (Januar/Februar)
Indisches Tagebuch
Eine Berliner Frauenrechtlerin reist nach Ceylon, Indien und Kairo. November 1912 – Februar 1913
Herausgegeben von Bianca Walther
SOFIE. Schriftenreihe zur Geschlechterforschung, Band 24
Herausgegeben von Bianca Walther
SOFIE. Schriftenreihe zur Geschlechterforschung, Band 24
St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2020
(206 S.; ISBN 978-3-8611-0750-7; 29,00 EUR)
Dayana Lau (Berlin / Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Dayana Lau: Rezension von: Pappritz, Anna: Indisches Tagebuch, Eine Berliner Frauenrechtlerin reist nach Ceylon, Indien und Kairo. November 1912 – Februar 1913 Herausgegeben von Bianca Walther SOFIE. Schriftenreihe zur Geschlechterforschung, Band 24. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/3861107507.html
Dayana Lau: Rezension von: Pappritz, Anna: Indisches Tagebuch, Eine Berliner Frauenrechtlerin reist nach Ceylon, Indien und Kairo. November 1912 – Februar 1913 Herausgegeben von Bianca Walther SOFIE. Schriftenreihe zur Geschlechterforschung, Band 24. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/3861107507.html