EWR 6 (2007), Nr. 6 (November/Dezember 2007)

Susanne Krasmann / Michael Volkmer (Hrsg.)
Michel Foucaults "Geschichte der Gouvernementalität" in den Sozialwissenschaften
Internationale Beiträge
Bielefeld: transcript 2007
(311 S.; ISBN 978-389942-488-1; 28,80 EUR)
Michel Foucaults "Geschichte der Gouvernementalität" in den Sozialwissenschaften Susanne Krasmann und Michael Volkmer haben AutorInnen aus unterschiedlichen Disziplinen eingeladen, das systematische Potenzial der Vorlesungen von Michel Foucault über die Geschichte der Gouvernementalität (1977/1978 und 1978/1979) auszuloten. Wie der Titel des Sammelbandes bereits andeutet, handelt es sich um das ambitionierte Projekt einer Bestandsaufnahme der jüngsten, internationalen Rezeptionslinien des Gouvernementalitätsansatzes in den Sozialwissenschaften.

Als Markierungen dienen vier Ausrichtungen, die das in den Vorlesungen entfaltete „gouvernementalitätsanalytische Instrumentarium“ (13) für die Untersuchung der Gesellschaft der Gegenwart fruchtbar machen sollen. Das sind zum einen die werkgeschichtliche Situierung der Vorlesungen sowie das Bemühen um eine systematische Bezugnahme auf die von Foucault angestellten gouvernementalitätstheoretischen Überlegungen. Zum anderen ist es das Vorhaben, den Einsatz des Analyseinstrumentariums dahingehend auszuweiten, dass es stärker in „weitreichendere diskursive Zusammenhänge“ (16) gestellt werden kann; damit angesprochen ist etwa Luhmanns Systemtheorie. Schließlich wird auf eine internationale Akzentuierung gesetzt, die zeitlich wie thematisch heterogene Diskussionsverläufe ins Gespräch bringen soll.

Ob Letzteres eingelöst wird, lässt sich wohl erst in Anschluss an die Rezeption des Bandes beurteilen; allzu viel Optimismus ist hier aber wohl nicht angesagt. Zu unterschiedlich scheinen die Anliegen der versammelten Disziplinen und die gewählten Themen. Die Konfrontation von staatstheoretischen Problematisierungen, die sich nach wie vor mit dem Erbe der „Verarmung der Staatstheorie“ plagen (Thomas Lemke) mit Forschungen zur kommunalen Sicherheit in Großbritannien (Kevin Stenson) oder mit der aktuell brennenden Frage der autonomen Patientenverfügung (Stefanie Graefe) könnte allzu schnell die Dialogfähigkeit überstrapazieren.

Eine Einschätzung, die die angekündigten Ausrichtungen des Sammelbandes betrifft, lässt sich wiederum durchaus vornehmen. In diesem Zusammenhang ist zu vermerken, dass diese in der Strukturierung des Bandes nur bedingt wieder erkennbar sind, was insofern schade ist, als hier eine Systematik versprochen wird, die – typisch für die Herausforderungen eines Sammelbandes – aufgrund der Heterogenität der Beiträge nicht eingehalten wird, nicht eingehalten werden kann. Ungeachtet dieser Anmerkungen ist das Erscheinen des Bandes erfreulich, und trotz seiner sozialwissenschaftlichen Orientierung auch für gegenwärtige Debatten in der Pädagogik empfehlenswert. Susanne Krasmann gelingt es ein weiteres Mal, wenn auch in neuer Kooperation, einen wesentlichen Beitrag zur längst fälligen Klärung offener Fragen und zur Bestandsaufnahme aktueller Problemlagen wie auch Aussparungen in Sachen Gouvernementalität zu liefern.

Unter dem Kapitel I Gouvernementalität und Staat finden sich also dementsprechend Beiträge, die das Verhältnis von Staatlichkeit, Regierung und Subjektivität in den Blick nehmen, zugleich aber den Werkkontext wie auch eine Systematisierung des Foucault’schen Werks und seiner Rezeption suchen. So bewertet Martin Saar die Vorlesungen zur Gouvernementalität als eine „zentrale werkgeschichtliche Zäsur“ (24), wenn es um die Frage nach dem gesamten Foucault’schen Oeuvre geht. Den Vorlesungen selbst bescheinigt er in diesem Zusammenhang einen „Doppelcharakter“ (25): Wird erst in einer Bewertung der späteren Monographien die folgenreiche Verschiebung von der Machtanalytik zur Geschichte des Selbst und seiner Führung deutlich, die Foucault bereits im Rahmen seiner Vorlesungen vollzieht, bleiben diese dennoch ein Fragment, ein unvollendetes Projekt. Denn die Geschichte der europäischen Gouvernementalität wird hier als eine Geschichte der institutionellen Transformationen entworfen, später aber nicht mehr aufgegriffen – im Gegensatz zur Frage nach dem „regierten Subjekt“ (ebd.).

Einen anderen Systematisierungsversuch nimmt Thomas Lemke vor. Er richtet den Fokus auf die Analytik der Regierung vor dem Hintergrund von staatstheoretischen Problemstellungen. Thematisiert werden historische wie gegenwärtige Herausforderungen, so etwa das Verhältnis von Gouvernementalität und governance. Dabei spart Lemke nicht mit Kritik an den unterschiedlichen Forschungsrichtungen, die zwar das „Raster der Gouvernementalität“ (59) zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen machen, aber z.B. die staatstheoretischen Fragestellungen selbst weitgehend ausklammern. Er selbst setzt auf eine Erneuerung materialistischer Staatstheorien durch die Aufnahme von poststrukturalistischen Theorien, wodurch Konstitutionsprozesse von Subjektivität und nicht nur Auseinandersetzungen entlang von Klasse oder Gender berücksichtigt würden (50).

Mitchell Dean wiederum nimmt sich der „Regierung von Gesellschaften“ an und plädiert für die Gültigkeit von Kategorien und Konzepten wie „Staat“ und „Gesellschaft“, insbesondere da angesichts der Globalisierung diesen offenbar eine Absage erteilt werde (vgl. 76). Demnach ist die Regierung von Gesellschaften vor allem durch zwei Aspekte gekennzeichnet, die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Staat innerhalb des Territorialstaates und die Unterscheidung zwischen Staat und Außen (internationale Gemeinschaft in Form von internationalen Instanzen wie z.B. die Weltbank). Dean bringt damit den Territorialraum und die Bedeutung wie auch die Auswirkungen seiner Grenzen erneut ins Spiel und aktualisiert damit das gouvernementalitätstheoretische Begriffsinstrumentarium: Sicherheit, Bevölkerung und Territorium.

Kapitel II Gouvernementalität zwischen Souveränität und Biopolitik gruppiert Beiträge, die sich auf das Problem des Regierens von Menschen und Institutionen in der heutigen Verfasstheit des Politischen konzentrieren. Besonderer Stellenwert kommt hier jenen Konsequenzen zu, die aus der Relation global/lokal resultieren. Demgemäß untersucht Ann Caldwell das globale Phänomen der Humanitären oder Menschenrechtskomplexe (HRC) und kommt zu dem ernüchternden Schluss, dass internationale Organisationen Entwicklungsdynamiken, denen sie qua Definition entgegenwirken sollten, im Grunde genommen zementieren, um die Sicherung ihrer eigenen Existenz zu gewährleisten. Mit Bezug auf Agambens Unterscheidung zwischen natürlichem und nacktem Leben problematisiert Caldwell die standardisierten Verfahrensmuster der humanitären Organisationen und weist die „bio-souveräne Macht“ nach, mit der diese Organisationen ausgestattet sind: „Sie haben die Macht, über den Status von Leben zu entscheiden“ (122). Das Verständnis dieses „globalen Regimes“ sieht die Autorin als eine erste Voraussetzung, um neues Vorgehen zu ermöglichen.

Unter dem Aspekt des begrifflichen Duals von Inklusion und Exklusion thematisieren Susanne Krasmann und Sven Opitz ‚Regierung’ in Anschluss an die Systemtheorie. Das erklärte Ziel der AutorInnen ist hierbei keine Theorievermengung, sondern „vielmehr eine Irritation und Öffnung“ (127). Wenig überraschend schließen sie ihren Artikel mit dem Plädoyer für die Aufnahme des Duals Inklusion/Exklusion in das gouvernementalitätsanalytische Begriffsregister. Die dafür ins Treffen geführte Argumentation überzeugt restlos: Wenn etwa die Vernachlässigung der Analyse widerstreitender Momente innerhalb gouvernementaler Praxen auf die Konzeption der Gouvernementalität selbst zurückgeführt wird („weiße Flecken“), dann trifft das freilich einen problematischen Punkt. So fällt inzwischen auch Nicht-Kennern des Gouvernementalitätsansatzes auf, dass viele der einschlägigen Arbeiten über die Frage „Wie nicht dermaßen regiert werden?“ nicht hinaus kommen. Antworten darauf könnte, diesen Versuch gilt es allemal zu wagen, die von Krasmann und Opitz vorgeschlagene Berücksichtigung der Unterscheidung von Exklusion und Inklusion liefern.

Das abschließende Kapitel III ist der heiklen Relation von Gouvernementalität und Neoliberalismus gewidmet. Heikel ist diese Relation, weil hinter den auf einander bezogenen Begriffen äußerst schwer fassbare Konzeptionen stecken: der letztlich im Laufe der Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität immer abstrakter und allgemeiner werdende Begriff der Gouvernementalität und der gegenwärtig für alle Übel der Welt verantwortliche, daher in der Regel undifferenzierte Begriff des Neoliberalismus. Und so unternehmen die hier versammelten Autoren den Versuch, einer Differenzierung, die unterschiedlich gelingt. Hervorgehoben sei der Versuch von Sophia Prinz und Ulf Wuggenig, Foucaults Analyse des Neoliberalismus auch für die Analyse der Heterogenität des gegenwärtigen Neoliberalismus stark zu machen. Dabei kommen Ungereimtheiten und Verkürzungen innerhalb der Forschung der governmentality studies ebenso zur Sprache wie unterschiedliche neoliberale Theorien sowie die Hochschulreform und der Bolognaprozess als Ausdruck gouvernementaler Transformation. Versammelt unter der Frage „Das unternehmerische Selbst? problematisieren die AutorInnen die Realpolitik der Humankapitalproduktion und bleiben dabei selbst auffällig indifferent. Weniger ist nicht selten mehr. Und so fiele unter Umständen eine Konzentration auf die Erweiterung des gouvernementalen Analyseinstrumentariums um ausgewählte Autoren ertragreicher aus als die gewählte Vorgehensweise, die von Johan Galtung über Pierre Bourdieu, Stuart Hall bis Luc Boltanski/Eve Chiapello zu berücksichtigen sucht, nur um einige wenige zu nennen.

Für den vorliegenden Band lässt sich insgesamt festhalten: Wie eingangs erwähnt, verschwimmt zwar die vorgeschlagene systematisierende Ausrichtung im Verlauf der Beiträge; es muss jedoch zugestanden werden, dass sich die von den HerausgeberInnen angedachten Markierungen punktuell durch die einzelnen Beiträge ziehen und damit jedenfalls neue Akzentsetzungen, ‚andere’ Perspektivierungen sowie neue Verknüpfungen ermöglichen und vor allem einen weiteren Beitrag zur Schärfung gouvernementaler Analysen liefern.
Agnieszka Dzierzbicka (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Agnieszka Dzierzbicka: Rezension von: Krasmann, Susanne / Volkmer, Michael (Hg.): Michel Foucaults "Geschichte der Gouvernementalität" in den Sozialwissenschaften, Internationale Beiträge. Bielefeld: transcript 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/389942488.html