EWR 3 (2004), Nr. 5 (September/Oktober 2004)

Fritz K. Ringer
Felder des Wissens
Bildung, Wissenschaft und sozialer Aufstieg in Frankreich und Deutschland um 1900
Weinheim: Deutscher Studien Verlag 2003
(373 Seiten; ISBN 3-407-32049-X; 39,90 )
Felder des Wissens Fritz Ringer ist im Jahre 1934 in Deutschland geboren, wanderte 1949 nach Amerika aus und kann heute auf ein profiliertes Forscherleben zurückblicken. Nach der Erfahrung des Kulturbruchs, der mit dem Nationalsozialismus verbunden war, kreiste es beständig um eine zentrale Frage: Welche eigentümliche Rolle spielten die gebildeten Schichten in der deutschen Geschichte? Hinter dieser Frage stand das tiefere Forschungsinteresse, das kritische Geister nach dem Zweiten Weltkrieg nicht losließ: Warum haben die klassisch Gebildeten in Deutschland so gänzlich vor dem Nationalsozialismus versagt und sich für die Barbarei instrumentalisieren lassen? Seit der bahnbrechenden Studie im Jahre 1969 (The Decline of the German Mandarins), die der Forschung fruchtbare Impulse gab (Übersetzung: Die Gelehrten, 1983), hat sich die Fragestellung auf die Rolle der Gebildeten in den drei großen europäischen Nationalstaaten Deutschland, Frankreich und England seit der Aufklärung in vergleichender Perspektive ausgeweitet. Davon zeugen neben zahlreichen Aufsätzen in Zeitschriften zwei gewichtige Beiträge: Education and Society in Modern Europe, 1979, und die Mitherausgeberschaft am vergleichenden Sammelband The Rise of the Modern Educational System, 1987. Die Grundauffassungen zum Bildungsproblem sind ein Leben lang gleichgeblieben.

Das angezeigte Werk ist die Übersetzung des 1992 in Amerika und Frankreich erschienenen Buches "Fields of Knowledge". Das zentrale Element der "Ideologie der Mandarine" war das einflussreiche Ideal der "Bildung" als Vision der persönlichen Selbstkultivierung vor dem Hintergrund des Kantischen Selbstdenkens und der Freisetzung aus den Bindungen an die Tradition. Dieses Ideal wiederum bestimmte den deutschen Modernisierungspfad ins 20. Jahrhundert. Die deutschen Akademiker waren zweifellos die "strahlendsten Exponenten des Ideals der Bildung" im 19. Jahrhundert (55). Als philosophisch reflektierender Sozialwissenschaftler strebt Ringer eine kritische Geistesgeschichte an und wendet sich dabei (wie sein englischer Gewährsmann Matthew Arnold) strikt gegen die Reduktion von Kultur auf ein soziales Distinktionsmerkmal der Gebildeten. Die sozial klassifizierenden Auswirkungen höherer Bildung werde man zwar nie ganz ausschalten können, aber die Lehrer in Schulen und Universitäten müssten sich um eine von allen sozialen Zwängen freie Kommunikation bemühen. "Wir müssen unseren Studenten vermitteln, dass das Reich der "Kultur" [...] prinzipiell jedem offensteht" (357).

Das Buch konzentriert sich auf die Phase von 1890 bis 1920, die für die geistigen Eliten in Frankreich und Deutschland von entscheidender Wichtigkeit war. Für diese Zeit rekonstruiert Ringer, wie die führenden Zeitgenossen im wissenschaftlichen Leben in Deutschland und Frankreich das Bildungsproblem im kulturellen Kontext reflektierten. Ringer ist ein Kritiker der konventionellen Ideengeschichte, die die funktionale Bedeutung von Ideen nicht reflektiert. Ein tieferes Verständnis eröffne sich erst, wenn man eine Gruppe von Texten als Netzwerk von Beziehungen auffasst und nicht als Summe einzelner Aussagen. Der zugrunde liegende Feld-Ansatz versucht gleichsam, den der Geschichte inhärenten Sinn, die Intentionen der in einer bestimmten historischen Konstellation handelnden Personen, sozialstrukturell zu verräumlichen. Die vergleichenden Analysen zur sozialen Rekrutierung sollen ebenfalls die Verortung und die soziale Offenheit oder Exklusivität der geistigen Eliten erkennbar machen. Das Ziel ist schließlich, unter die Oberfläche des expliziten Denkens zu gelangen, ins Reich des kulturellen Vorbewussten und der stillschweigenden Überzeugungen, von denen die Menschen sich leiten ließen und von denen sie auch getrieben wurden. Ringer orientiert sich einerseits an Mannheims Wissenssoziologie, die aber von einem "umgekehrten Ökonomismus" irregeleitet wurde und deshalb zu einer unkritischen Sichtweise der Intellektuellen gelangte. Er stützt sich andererseits auf die Bourdieuschen Begriffe des ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals für seine Analysen. In diesem Zusammenhang liegt auch der in der neueren Forschung auftauchende Begriff der Tiefenstruktur nahe, der uns die Augen dafür öffnet, wie sich der Marktplatz der Ideen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert verändert hat.

Ringer unterstreicht die bekannte Auflösung des deutschen Bildungsbegriffs durch das Vordringen der modernen Erfahrungswissenschaften. Im Einklang mit der neueren Forschung vertritt er die These, dass die frühe Herausbildung einer professionellen Bürokratie in Preußen und anderen deutschen Staaten die wichtigste Vorbedingung für die Bildungsrevolution war, die in Deutschland der schnellen Industrialisierung vorausging. Diese spezifische Bildungsideologie, darin ist sich die neuere Forschung einig, hat es in Frankreich, England und den USA nicht gegeben. Anhand verschiedener Indikatoren kommt Ringer zu dem Schluss: "Während die Universitäten und die Universitätsprofessoren in Deutschland eine außerordentlich herausgehobene Rolle spielten, nahm in Frankreich die akademische Elite als Ganze lange eine relativ untergeordnete Stellung ein" (92). Etwa ab 1890 herrschte im deutschen Bildungsbürgertum ein zunehmendes Gefühl der Krise. Die Sorge über die problematischen Konsequenzen exzessiver Spezialisierung brachte die Vorstellung hervor, dass die Erfolge der Forschungsuniversität von einem Verlust des philosophischen Zusammenhangs begleitet gewesen waren. In der Geisteswelt wuchs die Befürchtung, die Spezialisierung würde eine Art intellektueller Atomisierung herbeiführen und die theoretische Einheit der Wissenschaft (Verbindung von Erfahrungs-Wissenschaft und Philosophie) auflösen. Georg Simmel diagnostizierte im Jahre 1900 die Arbeitsteilung als Ursache für das Auseinandertreten der subjektiven und objektiven Kultur und sah darin das Signum der Moderne. Er artikulierte, was viele seiner Kollegen fühlten und fürchteten: dass die "objektive" und in zahllose Einzelfächer aufgeteilte Wissenschaft dabei war, ihre frühere Relevanz für die Bildung zu verlieren.

In den gebildeten Kreisen Deutschlands nahm man an, dass die Probleme nur durch eine Revitalisierung des philosophischen Idealismus gelöst werden könnten. Diese Revitalisierung würde der Wissenschaft ihre Rolle als Grundlage einer normativen Weltanschauung zurückgeben. Alle Formen des Determinismus und "Materialismus" wurden als positivistisch angesehen, ebenso wie mechanische oder in anderer Weise verkürzende Analysen organischer sozialer Ganzheiten. In den Jahrzehnten nach 1890, als sich in den fortgeschrittensten europäischen Gesellschaften die Intellektuellen in ihrer neuen sozialen Rolle herausbildeten, wurde die überkommene Unterscheidung zwischen innerlicher "Kultur" und äußerlicher "Zivilisation" wiederbelebt. Viele Angehörige der herkömmlichen Geisteselite standen unter dem Eindruck, ihre Welt würde zunehmend von blinden ökonomischen Prozessen, der Macht des Geldes und dem Gewicht der Masse bestimmt. Der "Geist" schien seinen Einfluss im öffentlichen Leben verloren zu haben (227).

Während die deutschen Geistes- und Sozialwissenschaftler mehrheitlich im "Positivismus" die Zerstörung ganzheitlicher Vorstellungen sahen, akzeptierten viele Fachkollegen in Frankreich positivistische Wissenschaftsvorstellungen. Im westeuropäischen Wissenschaftsgeist wurde das "Menschliche" mit dem "Sozialen" weitgehend gleichgesetzt. Emile Durkheim, dessen sozialwissenschaftliche Grundauffassungen "das französische akademische System durchdrangen" (313), fasste éducation als "Formung" des Individuums im Sinne einer Anpassung an die "Gesellschaft" auf, also in der modernen Fachsprache eher als Sozialisation. Diese Prozesse wurden in der französischen Tradition mit ihrer Reserve gegen die Einzigartigkeit des Individuums scharf von der deutschen "Bildung" unterschieden. Andererseits identifizierte Ernst Troeltsch 1923 gerade die "Individualitätsidee" als das Herzstück der deutschen romantischen Kritik am westeuropäischen Wissenschaftsgeist.

Vor dem Ersten Weltkrieg wurde bereits der folgenreiche Perspektivenwechsel vom Kulturstaat zur Kulturnation vollzogen. Mit dem Aufstieg des deutschen kulturellen Nationalismus verkörperte Frankreich in der Zuschreibung der akademischen Elite zunehmend die Zivilisation, während Deutschland mit der Mission der Kultur identifiziert wurde. Insbesondere die orthodoxe Mehrheit der deutschen Hochschullehrer stellte sich gegen den Trend hin zur Modernisierung und Demokratisierung der deutschen Sekundar- und Hochschulbildung. Die humanistisch gebildeten Wortführer identifizierten sich mit den konservativen und nationalen Kräften in der Wilhelminischen Politik, misstrauten potentiell demokratischen Alternativen und waren zutiefst feindselig gegenüber der Sozialdemokratie und dem "Materialismus" der "Massen". Dabei sahen sich die deutschen Gelehrten nicht als Spezialisten, sondern als Weise, von denen der Fortgang der Kultur abhing. Die gravierend unterschiedliche Verortung des "geistigen" Elements in beiden Kulturen ist nicht zu übersehen. Während für die konservativen Kräfte in der französischen Gesellschaft der Intellektuelle die Gestalt des zu seinen Prinzipien stehenden Streiters für Wahrheit und Gerechtigkeit verkörperte, war der deutsche Professor als angesehener Wortführer des Bildungsbürgertums in die Gesellschaft integriert und beriet seine Kollegen im Beamtenapparat des Staates. Der französische Intellektuelle forderte demgegenüber die etablierte Ordnung heraus (247).

Ringer diagnostiziert hier die historisch kontingente "Logik" eines intellektuellen Feldes (224). Diese Argumentationslinie als Interpretationsrahmen erscheint überzeugend und anschlussfähig für weitere Einzelforschungen: Wir müssen sozialgeschichtlich rekonstruieren, wie sich erstens der neuhumanistische Bildungsbegriff im 19. Jahrhundert langfristig von einem utopischen zu einem ideologischen Begriff von Bildung entwickelt hat und zweitens im nationalsozialistischen Führerstaat schließlich sogar – abweichend von allen fortgeschrittenen Gesellschaften im 20. Jahrhundert – eine Symbiose mit einer bildungsfeindlichen Ideologie einging und in die kulturelle Sackgasse der gesetzlichen Begrenzung von höherer Bildung führte.

Wenn man das Buch in diesem weiteren Kontext einer "Dialektik der Aufklärung" liest, erhält man zahlreiche Durchblicke und Anregungen zu einem tieferen Verständnis der Geistesgeschichte. Beispielsweise ergeben sich hinsichtlich der technokratischen Überformung zahlreicher Wissenschaften und deren Verfügbarmachung für den Nationalsozialismus in der Mentalität zeitgenössischer Wissenschaftler neue und vielleicht auch weiterführende Fragestellungen.

Wenn man das Buch als Beitrag zur aktuellen Forschungsdiskussion liest, sind drei kritische Einwände vorzubringen. Die "spezialisierten empirischen Disziplinen", die mit der fortschreitenden Arbeitsteilung eine zunehmende Bedeutung in der modernen Gesellschaft erlangten, spart Ringer in seiner Analyse der Felder des Wissens leider vollkommen aus. Welche Strategien formulierten die an der Praxis orientierten Wissenschaften zur Bewältigung der Probleme? Worin unterschieden sich die Diagnosen der eher allgemeinen ("idealistischen") Kulturdeuter von den Angeboten der "positivistischen Macher"? Medizin und Biologie wurden im 20. Jahrhundert zu Leitwissenschaften und die "Weltanschauungselite" (Ulrich Herbert), die am späteren Völkermord beteiligt war, nährte sich aus ideologischen Wurzeln, die Ringer aus seinen wissenssoziologischen Analysen weitgehend ausgeblendet hat.

Der zweite Einwand betrifft die Strenge der Beweisführung. Die Interpretation von Texten wird dem Ideal einer "empirisch betriebenen Geistesgeschichte" (40) nicht gerecht, weil sich Hypothesen nicht zwingend ausschließen lassen. Die soziale Bedeutung von Ideen lässt sich natürlich nicht schlicht "messen". Was in diesem Zusammenhang "empirisch" weiterführt, wird beispielsweise sofort deutlich, wenn man den von Ringer nicht untersuchten Besetzungskonflikt um Lehrstühle für Philosophie in Deutschland vor Augen hat. Im verbissen geführten Richtungskampf in der geistigen Elite, ob Experimentalpsychologen auf Lehrstühle für Philosophie berufen werden dürfen, lässt sich die Macht der Ideen sozialgeschichtlich rekonstruieren. Man kann die Stärke der geistigen Strömungen (über die Unterschriften in diesem Konflikt) empirisch präzise erfassen. Gab es derartige Konflikte auch in Frankreich?

Der dritte Einwand ergibt sich aus der langjährigen Erfahrung des Rezensenten in der Historischen Bildungsforschung. Meines Erachtens unterschätzt Ringer die Eigendynamik des Bildungswesens in der Tiefe des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs. Das soll an einer mehrfach aufgestellten Behauptung, die er auch in einem renommierten Handbuch wiederholt (Geschichte der Universität in Europa, Band III, München 2004, S. 203), deutlich gemacht werden. Zwischen dem höheren Bildungswesen und dem Beschäftigungswesen soll in der Phase von 1840 bis 1870 in Deutschland nach Ringer "eine Art frühindustrielles Gleichgewicht" (69) bestanden haben. Diese bereits früher aufgestellte Behauptung wurde schon vor 19 Jahren von der Forschung empirisch widerlegt (Zeitschrift für Pädagogik 1985, S. 123). Ringer argumentiert zwar mit der zyklischen Struktur der akademischen Reproduktion seit dem späten 18. Jahrhundert, aber der dahinter wirksame und über das Selektionsklima vermittelte funktionale Mechanismus von "Überproduktion" und "Mangel" unter den geistigen Eliten (zumindest in Deutschland) ist ihm verborgen geblieben, sonst würde er nämlich nicht ein frühindustrielles Gleichgewicht unterstellen. Die harmonische Symmetrie ist eine Projektion des vormodernen ständischen Denkens ins 19. und 20. Jahrhundert hinein. Seit der Aufklärung sind die Gesellschaften wegen der Institutionalisierung der modernen Bildungsidee aber von ihrer inneren Dynamik her zu begreifen. Das hauptsächlich in den Jahren 1985/1986 entstandene Buch ist im Erscheinungsjahr der deutschen Übersetzung hinter dem gerade im Bereich der Sozialgeschichte des Bildungsbürgertums fortgeschrittenen Forschungsstand leider ca. zwei Jahrzehnte zurück.
Hartmut Titze (Lüneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hartmut Titze: Rezension von: Ringer, Fritz K.: Felder des Wissens, Bildung, Wissenschaft und sozialer Aufstieg in Frankreich und Deutschland um 1900, Weinheim: Deutscher Studien Verlag 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 5 (Veröffentlicht am 05.10.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/40732049.html