EWR 5 (2006), Nr. 4 (Juli/August 2006)

Rüdiger Schnell (Hrsg.)
Zivilsationsprozesse
Zu Erziehungsschriften in der Vormoderne
Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005
(347 S.; ISBN 3-412-13904-1; 34,90 EUR)
Zivilsationsprozesse Der Titel dieses Sammelbands lässt eine Auseinandersetzung mit der Zivilisationstheorie von Norbert Elias erwarten, der die historische Bildungsforschung wesentliche Anregungen verdankt. Die vom Herausgeber gestellte Leitfrage möchte herausfinden, „inwieweit der von Norbert Elias skizzierte Prozeß der Zivilisation umgeschrieben werden muß, wenn literarhistorische, diskurstheoretische und geschlechtergeschichtliche Fragen Berücksichtigung finden“ (3). Der Herausgeber strebt „eine grundsätzliche Revision der These vom Zivilisationsprozeß“ (4) an, wie er in seiner Einleitung schreibt. Tatsächlich steht der Zivilisationsbegriff im Fokus vieler Beiträge – aber er wird in höchst unterschiedlicher Weise von den Autorinnen und Autoren verwendet.

Der Begriff der Zivilisation bezieht sich sowohl auf technologische Zivilisation als auch auf moralische Zivilisation. Doch der zweifache Begriff bezieht sich, obgleich vom Herausgeber getrennt erörtert und sogar gegenübergestellt, auf Phänomene, die einander voraussetzen oder eng miteinander verwandt sind. In seinen beiden Aspekten bezieht sich der Zivilisationsbegriff auf das Alltagsleben, auf diejenige Art von Alltagsleben, die zusammen mit der Moderne auftaucht und sich entfaltet. Zivilisiertes und unzivilisiertes Verhalten kann im selben Universum existieren, aber es wird vorausgesetzt, dass schließlich jedermann sich in derselben Welt auf eine ‚zivilisierte‘ Weise verhalten könnte. Sich auf eine zivilisierte Weise zu verhalten, ist normativ (denn sich auf eine unzivilisierte Weise zu verhalten bedeutet, bei der Beachtung der Normen angemessenen Verhaltens zu versagen). Aber dies ist eine Norm, die verwirklicht werden kann, indem sie in das Alltagsleben aller Bewohner der ‚zivilisierten Welt‘ eingebettet wird. ‚Zivilisation‘ ist ein gegenwarts- und zukunftsorientierter Begriff. Die moderne Welt als solche ist eine Welt der Zivilisation. Folglich werden früher oder später alle Gesellschaftsschichten und alle Kulturen zivilisiertes Verhalten lernen. Und diese Überzeugung charakterisiert den Gedanken sowohl der technologischen als auch der moralischen Zivilisation.

Diesen Zusammenhang kritisiert Rüdiger Schnell in seinen den Sammelband einleitenden „Kritischen Überlegungen zur Zivilisationstheorie von Norbert Elias“ als bloßes Missverständnis. Elias‘ Darstellung habe „dazu beigetragen, daß im landläufigen Sprachgebrauch heute unter ‚Prozeß der Zivilisation‘ all jenes mitgemeint wird, was eigentlich nur äußerlichen technischen Fortschritt ausmacht: Verwendung von Gabel und Messer, Verfeinerung des Eßbestecks“ usw. (23). Demgegenüber bezieht sich Schnells Verwendung des Zivilisationsbegriffs vorrangig auf die ‚innere‘ Seite, nämlich die Selbstkontrolle. Aber er versteht unter ‚zivilisiertem‘ Verhalten das Verhalten von Menschen, die „das Wohlbefinden ihrer Mitmenschen zum Maßstab ihres Handelns“ machen (4). Solches Verhalten wird indes gemeinhin als ‚altruistisches‘, nicht als ‚zivilisiertes‘ Verhalten bezeichnet.

Wilhelm Kühlmann korrigiert in seinem sehr lesenswerten Beitrag [1] stillschweigend den Begriffsgebrauch Schnells. Er erläutert nämlich aus profunder Kenntnis des Werks von Erasmus, was dieser unter ‚Zivilisierung‘ des sozialen Verhaltens verstanden hat. Nicht um moralische Fragen im engeren Sinn gehe es Erasmus im Civilitas-Traktat. „Die Civilitas des Benehmens und der äußeren körperlichen Erscheinung (externum corporis decorum) repräsentiert in ihrer Verhaltenslogik auf ästhetische, nach außen gewandte, sinnlich erfahrbare, gleichsam ‚widerscheinende‘ Weise etwas Inneres, den wohlgeordneten Geist“ (285). Kühlmann betont im Gegensatz zu Schnell, dass die Vorschriften des zivilisierten Verhaltens bei Erasmus keinen sozial exklusiven Charakter hatten, vielmehr „legt er auf Verallgemeinerbarkeit der Vorschriften wert“ (ebd.). Kühlmann, der Elias angemessen würdigt, betont in seinem Beitrag, dass bei Erasmus nicht der soziale Rang den konkreten Charakter und Gehalt der Regeln höflichen Betragens bestimmt, vielmehr ist es umgekehrt: „Ziviles Verhalten bleibt an ein Lebensethos gebunden, das a priori anthropologisch bestimmt, nicht aus seinen gesellschaftlichen Funktionen entwickelt ist“ (286).

Clemens Albrecht bringt dieses Umkehrungsverhältnis in seinem lesenswerten Beitrag „Sozialscham, Gruppenzugehörigkeit und Literatur in den französischen Salons des 17. Jahrhunderts“ auf die soziologische Formel: „[...] dem Zivilisierungsprozeß [liegt] ein Wandel sozialer Strukturen zugrunde [...], der zu neuen Zugehörigkeitsstrukturen führte: nicht mehr Landsmannschaft und Adel qua Geburt, sondern kulturell erworbener sozialer Status und Lokalität“ (296). Elias zufolge entstand ‚Zivilisation‘, als man auf dem höchsten Rang der sozialen Hierarchie zwischen unhöflichem und höflichem Verhalten zu unterscheiden begann, indem Zivilisation als ein Bonus angesehen wurde, als eine Art von ‚Zusatz‘ an Verfeinerung und Weiterentwicklung zur allgemein anerkannten Verwendung von Dingen, Sprache und Sitten. Folgt man Elias‘ Darstellung, so begann die Zivilisation an den Höfen absoluter Monarchien, insbesondere am französischen Hof, aber auch an den kleinen Höfen der italienischen und deutschen Fürsten. Die enge – von Schnell bestrittene – Verwandtschaft zwischen technologischer und moralischer Zivilisation kann an den Höfen besser als in den Klöstern und Schulen quellenmäßig nachvollzogen werden. Die neue Einstellung zu Tod und Sexualität ebenso wie die Art und Weise, den Löffel, das Messer, das Taschentuch und die Gabel angemessen zu gebrauchen, entwickelten sich zusammen, und sie alle wurden Kennzeichen zivilisierten Betragens. Albrecht bestreitet nicht den von Elias festgestellten Zeitpunkt (17. Jahrhundert), aber er nuanciert den Ort der Entstehung des Zivilisationsprozesses: nicht der französische Königshof, sondern die französischen Salons der absolutistischen Epoche stellten die „neue Form kultureller Vergesellschaftung dar“ (300). „Entscheidend ist [...], daß [...] der Hof und die Salons erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einer kulturell und sozial homogenen Schicht zusammenschmelzen“ (301). Diese Nuance gestattet es Albrecht, den sozialen Wandel zu betonen, der dem Zivilisationsprozess zugrunde lag, denn die meisten Salons erweisen sich „ihrer Struktur nach als freie Assoziationen, etwa durch die soziale Öffnung der Mitgliedschaft über Standesgrenzen hinaus, durch ihre kulturell definierte Identität, durch ihre große Dynamik“ (302). Albrechts amüsant geschriebener Beitrag ist besonders soziologisch interessierten Bildungshistoriker/inne/n zu empfehlen.

Schnell zeigt in seinem Beitrag „Mittelalterliche Tischzuchten als Zeugnisse für Elias‘ Zivilisationstheorie?“, dass die Literaturgattung der volkssprachlichen ‚Tischzuchten‘ im Mittelalter zur Unterhaltung, Selbstbestätigung, Selbstrepräsentation und zur Herstellung des Gemeinschaftsgefühls (128) einer exklusiven Elite dienten. Im Einzelnen weist er nach, dass höfisches Verhalten in der Oberschicht seit dem 10. Jahrhundert einen hohen Grad an Affektkontrolle, Körperkontrolle und Selbstdisziplinierung erforderte. Ferner zeigt er, dass diese Verhaltensnormen für den Hochadel galten, Klerus und Laien gleichermaßen – und nur für den Hochadel. „Die höfisch-volkssprachlichen Tischzuchten des 13. Jahrhunderts können als Nachweis eines laikal-feudaladligen Selbstverständnisses gewertet werden“ (113). Auf diese Weise zeigt Schnell, dass diese Texte der Selbstbestätigung einer vormodernen Elite dienten. Und er beweist so auch, dass diese Elite eben nicht ‚zivilisiert‘ im Sinn der Zivilisationstheorie Elias‘ war. Schnell zeigt nämlich, dass der soziale Rang den konkreten Charakter und Gehalt jener Regeln bestimmte, die im fundamentalen alltäglichen System der Umgangssprache, der Sitten und des Gebrauchs der Dinge enthalten waren. Der Adlige gebrauchte andere Dinge, folgte anderen Sitten und sprach eine andere Sprache als der Diener oder der Leibeigene. Wie Schnell zeigt, waren die Sitten desto verfeinerter, je höher man auf der Leiter der Rangfolge stand. Dieses kann indes kaum als ‚Zivilisation‘ bezeichnet werden – denn weder der Gedanke der Ausdehnung noch jener weiterer Verfeinerung oder Fortschrittsbewegung konnten gefasst werden. Schnell betont, „daß die volkssprachlichen Tischzuchten keineswegs der Unterweisung einer bislang unzivilisierten Schicht [...] dienten“ (129). Vielmehr konnten sie „als Mittel der Selbstdarstellung und der Abgrenzung gegen andere soziale Schichten dienen“ (135). Im Kern bestätigt also Schnell – wider Willen – die Richtigkeit der Zivilisationstheorie Elias‘.

Doris Ruhe behandelt in ihrem Beitrag „Erziehung als dialogische Kunst. Die Ensenhamens von Garin lo Brun und Arnaut Guilhem de Marsan“ okzitanische Erziehungsschriften des 12. Jahrhunderts. Die Interpretation der Texte zeigt, dass an den kleinen südfranzösischen Höfen, an denen die Autoren lebten, der Zivilisationsprozess noch nicht begonnen hatte: „Tatsächlich geht es hier (noch) nicht um die Disziplinierung des einen oder des anderen Geschlechts“ (174). Die „Ratschläge zur Erziehung [haben] hier also nicht das Ziel [...], neue Verhaltensweisen in der Gesellschaft zu verankern, sondern sie haben nachträglichen Charakter“ (176). Die interpretierten Texte „tragen zur kollektiven Identitätsbildung [des okzitanischen Adels] bei“ (195). Für das Verständnis, die Ergänzung oder die Korrektur der Zivilisationstheorie Elias‘ ergibt sich aus diesem Beitrag nichts.

Klaus Schreiner weist in seinem Beitrag „Bildung als Norm adliger Lebensführung. Zur Wirkungsgeschichte eines Zivilisationsprozesses, untersucht am Beispiel von ‚De eruditione filiorum nobilium‘ des Vincenz von Beauvais“ nach, dass im 13. Jahrhundert erste Ansätze eines zivilisatorischen Prozesses im Adel zu finden sind. Schreiners eingehende Interpretation dieser Schrift demonstriert zwar ihre Bedeutung im Verbreitungsprozess höherer Bildung im europäischen Adel. Eine Verwendung des lateinischen Ausdrucks civilitas bei Vincenz weist Schreiner aber nicht nach. Die Stärke dieses Beitrags liegt in seiner Verbindung von Quelleninterpretation und bildungsgeschichtlichem Überblick. Schreiner übt keine Kritik an Elias‘ Zivilisationstheorie. Diese Kritik schreibt der Herausgeber in seinem ‚Resümee’ des Beitrags Schreiner nachträglich zu: dass nämlich „ab dem 14. Jahrhundert […] der Grad an Schrift- und Literaturfähigkeit sogar zu einem Element sozialer Differenzierung innerhalb des Adels werden [konnte], [nötigt …] – gegen Elias – wiederum zu der Erkenntnis […], daß die Faktoren, die bei der Konkurrenzierung in den Oberschichten eine Rolle spielen, recht vielschichtig sind“ (10). An dieser und anderen Zuschreibungen des Herausgebers wird eine gewisse Voreingenommenheit deutlich, die nicht überall ausreichend begründet wird.

Nicht bloß das Hauptargument Schnells widerlegt seine eigene Absicht, auch einige untergeordnete Argumente gegen Elias funktionieren nicht so, wie von Schnell erhofft. Mehrfach beruft sich Schnell z.B. auf die mittelalterliche Moraltheologie, um die damals schon starke Regulierung des menschlichen Verhaltens zu belegen. Alle diese Belege zeigen, dass die christliche Moralität durch die Gebote und die Autorität der Kirche reguliert wurde. Aber das Argument verfehlt Elias‘ Pointe: Zivilisation gründet sich nicht auf Verfügungen, sondern auf Gewohnheiten. Wo es viele Verfügungen gibt, wie Schnell zeigt, gibt es weniger Notwendigkeit für die Entwicklung guter Gewohnheiten. Diesen Punkt hat Michel Foucault in Sexualität und Wahrheit. Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste dargelegt. Dort diskutiert Foucault die Regulierung der Sexualität im antiken Griechenland und stellt ihr die christliche Regulierung gegenüber. Die griechische Regulierung wirkte nicht durch Verbote und Verfügung, ebenso wenig gründete sie auf Gehorsam gegenüber Normen. Vielmehr erreichte sie ihr Ziel durch die Nachahmung oder eher die Entwicklung von Charakteren. Angemessenes Verhalten war nicht zwingend, sondern nur ratsam. Was die mittelalterlichen Belege Schnells demgegenüber zeigen, ist, dass die Zöglinge sich selbst Verfügungen unterwarfen. Unterließen sie es, dies zu tun, sündigten sie und wurden schuldig. Zivilisation hat aber eine andere Logik. Man folgt den wahlfreien Normen zivilisierten Verhaltens. Wenn man es unterlässt, dies zu tun, wird man lächerlich, anstößig oder nicht comme-il-faut. Albrecht zufolge gewann „die Angst vor der Lächerlichkeit“ im Frankreich des 17. Jahrhunderts „einen neuen Stellenwert, weil sie [...] das zentrale Mittel zur symbolischen Reproduktion der Statusdifferenzen“ (304) wurde. Kühlmann weist in seinem Beitrag darauf hin, dass sich das Civilitas-Projekt des Erasmus von der Mehrzahl älterer pädagogischer Schriften dadurch unterscheidet, dass es „soziale Gepflogenheiten (mores, consuetudines) als faktisches Lernpensum thematisiert“ (289). Insofern schloss Erasmus weniger an die christliche als vielmehr an die griechische Tradition an.

Schnell erläutert in seinen „Kritischen Überlegungen“: „Wenn jemand als ‚zivilisiert‘ bezeichnet wird, so wird damit äußere und innere Disziplin gemeint, die sich in Höflichkeit, Rücksichtnahme und Selbstkontrolle zeigt“ (24). Die Normen und Regeln der Höflichkeit (im Gebrauch der Sprache, der Dinge und im zwischenmenschlichen Kontakt) sind jedoch elastisch und müssen im Kontext befolgt werden. Deshalb ist es nicht nur ‚Rohheit‘, die lächerlich wird, sondern es ist ebenso ein Grund zum Lachen, wenn die Normen der Höflichkeit sklavisch nachgeahmt oder übertrieben werden, wenn sie außerhalb des Kontexts praktiziert oder auf eine völlig leere, leblose Weise angewandt werden. Urbanität und Höflichkeit sind in den Regeln verortet, werden aber von der urbanen, der höflichen Person verkörpert, von Männern, die sich auf eine zivilisierte, urbane Weise verhalten. Dies ist jedenfalls das Erziehungsmodell von Jacopo Sadoletos (1477-1547) Schrift ‚De liberis recte instituendis‘, wie Helmut Puff in seinem sehr lesenswerten Beitrag „Lernpraxis und Zivilisationsprozeß in der Frühen Neuzeit“ darlegt. Die Sadoleto-Interpretation ist der Höhepunkt des kenntnisreichen ersten Teils, in dem die Programmatik des frühneuzeitlichen Lernens rekonstruiert wird. In dem methodisch besonders interessanten zweiten Teil dieses Beitrags wird das wirkliche Lernen anhand eines Schülerhefts aus den Jahren 1640-1643 rekonstruiert. Puff analysiert die Schülerhandschrift des Johann Andreas Endter (1625-1670), eines 15- bis 17-jährigen Lutheraners, der dieses Heft in Genf (!) geführt hat. Puff arbeitet „eine rigorose Arbeitsethik“ dieses Schülers heraus (272) und bestätigt so den Zusammenhang der Entstehung des modernen Zivilisationsbegriffs mit der Entstehung der Arbeitsethik. Arbeitsethik setzt eine moralische Prämie auf Arbeit als eine techne (nicht als eine bloße körperliche Übung) einerseits, doch andererseits auch auf die Formen von Höflichkeit, die die Arbeitstätigkeit umgeben. Zivilisierte Arbeit setzt den zivilisierten Menschen voraus und den zivilisierten Gebrauch von Zeit, Material und Raum; kurz gesagt, sie setzt Ökonomisierung voraus. In Puffs eingehender Darstellung erscheint der junge Endter als Homo oeconomicus und Homo faber.

Höflichkeit und Urbanität sind auch ‚gute Manieren‘, nicht bloß in unseren Beziehungen zu anderen Menschen, sondern auch, sofern es den Gebrauch der Dinge betrifft. Der ‚höfliche‘ Gebrauch ist nicht ein nur funktionaler Gebrauch. Man kann einen Löffel gemäß seinen Funktionen gebrauchen, aber dies ist nicht genug. Man muss eher lernen, den Löffel guten Tischmanieren gemäß zu gebrauchen. Da Elias die Entwicklung der Tischmanieren als Indikator des Zivilisationsprozesses analysiert hat, druckt Nikolaus Henkel eine lateinisch-deutsche Synopse der Tischzucht von Verolano (1444-1503) ab und kommentiert die Texte: „Tischzucht und Kinderlehre um 1500. Eine unbekannte deutsche Übersetzung von ‚De facetia mensae‘ des Giovanni Sulpizio Verolano (Johannes Sulpitius Verulanus)“. Der Zusammenhang dieses Beitrags zu Elias‘ Zivilisationsthese ist eher lose.

Unter all den vom Menschen gemachten Dingen, die diese sowohl funktional als auch mit urbaner Eleganz zu gebrauchen lernen mussten, ragte der menschliche Körper als das wichtigste hervor. Heide Wunder untersucht in ihrem Beitrag „Geschlechtsspezifische Erziehung in der Frühen Neuzeit“ die Erziehungspraktiken, sofern jene sich in den Erziehungsinstruktionen widerspiegeln. Dabei stellt Wunder für den fürstlichen Nachwuchs im 16. Jahrhundert „ein rigides Zeitregime vom Aufstehen [...] bis zum Schlafengehen“ fest und die Errichtung einer „Körperdisziplin für Söhne wie Töchter im Tanz und in höfischen Umgangsweisen, insbesondere im Respekt Erweisen“ (249). Innerhalb der höheren Stände gab es jedoch auch Spielräume, die die Eltern für die Bestimmung der Erziehungsziele und die Wahl der Erziehungspraktiken nutzten. Auf diese Weise setzte sich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert in den höheren Ständen eine positivere Bewertung gelehrter Bildung für Töchter durch. In Übereinstimmung mit Elias‘ Beobachtungen zum Verhältnis der Geschlechter zueinander kommt Wunder zu dem Ergebnis: „Geschlechtsspezifische Erziehung im Sinne einer Erziehung zu einem Geschlecht, zu Männlichkeit oder Weiblichkeit, gab es in der ständischen Gesellschaft der Frühen Neuzeit nicht“ (252 f.). Das vermittelte Wissen war in erster Linie ständisch differenziert.

Beim höflichen Gebrauch des menschlichen Körpers ging es nicht bloß darum, das ‚Rohmaterial‘ des Neugeborenen an ein ‚soziales‘ Modell anzupassen, eine Praxis, die so alt ist wie das Menschengeschlecht, sondern um etwas anderes und etwas mehr. Die ‚Manieren‘, einschließlich der Kontrolle des Körpers, waren nicht nur Äußerungen einer Existenz – z.B. der Existenz als eines Adligen –, sondern auch Masken, um Existenz zu verbergen, um die eigenen Ursprünge zu verbergen und sogar um Individualität zu verbergen. Kühlmann betont in seiner Erasmus-Interpretation: „Daß sich dieses Konzept einer ästhetischen Selbstformung des Individuums – jenseits dessen, was nur ex more (nach alter Angewohnheit [...]) geschieht – nach und nach vom Erasmischen Bildungshabitus emanzipieren und bis ins Zeremonielle und Ritualisierte auf Konventionen der vornehmen Gesprächskultur, höfischen Lebenstaktik und erfolgreichen sozialen Akkomodation verengen konnte, [...] ist hier noch nicht abzulesen“ (288).

Albrecht verwendet in seinem Beitrag in Abgrenzung zu Elias den Ausdruck ‚Zivilisierungsprozess‘ und meint damit „prinzipiell revidierbare [...] Entwicklungsprozesse beschränkter historischer und sozialer Geltung“ (299). Kurz gesagt, auf den Zivilisierungsprozess folgte ein Entzivilisierungsprozess. Schnell nimmt demgegenüber in seiner Einleitung „die im 19. und 20. Jahrhundert weltweit verübten Greueltaten“ zum Anlass, „prinzipiell an der These von einem Zivilisationsprozeß [zu] zweifeln“ (4). Aber Schnell übersieht, dass in den Weltkriegen die zivile Disziplin des Körpers durch eine Kriegsdisziplin ersetzt wurde. Tatsächlich wurde zwar der 1. Weltkrieg in Europa enthusiastisch begrüßt, weil er die Befreiung von ‚Zivilisation‘ ermöglichte. In derselben Weise, in der sie erschienen, verschwanden die Manieren und wurden die Konventionen verabschiedet – scheinbar. Aber der Körper blieb im Gefängnis der Seele, sei er völlig kontrolliert oder (scheinbar) überhaupt nicht – weil es ‚Vernunft‘ war, d.h. wissenschaftlicher Diskurs, der entschied, wie der Körper geformt werden soll und wie nicht. Schnell behauptet in seiner Einleitung ferner, „daß gerade unter diktatorischen Regimes (Hitler, Stalin, Milosevic) die schrecklichste Mißachtung von Zivilisationsnormen erfolgte“ (ebd.). Auch dies verwendet Schnell als Argument gegen die These von einem Zivilisationsprozess. Hier liegt jedoch eher bei Schnell – wie gesagt – ein einseitig moralisierendes Verständnis von ‚Zivilisation‘ vor. Schnell übersieht, dass in Hitler-Deutschland, in Stalins Sowjetunion und im Jugoslawien der ethnischen Säuberungen technologische Zivilisation auf hohem Niveau gegeben war. Und man hat selten solch gefügige Körper gesehen wie in der Nürnberger Parteitagszeremonie oder in den Paraden der Stalin-Ära zum 1. Mai. Tatsächlich wurden selten Körper grausamer gefoltert und unter Druck gesetzt als in diesen Regimes. Nirgendwo wurde der Geist/Körper tiefer in Ideologien und böse Maximen eingekerkert. Aber dieses festzustellen, spricht nicht gegen Elias‘ These, sondern für sie.

Elias versuchte verständlich zu machen, was es bedeutet, dass technologische Zivilisation rational ist. Er versuchte zu erklären, warum Rationalität ohne weiteres mit ‚Zivilisation‘ assoziiert wird und warum moderne Menschen die Überzeugung teilen, dass sie umso zivilisierter sind, je rationaler sie sind. Schnell bekämpft „Elias‘ Auffassung, wonach der Zivilisationsprozess in der Entwicklung von eher affektgesteuertem zu eher rationalem Handeln bestehe“ (35). Schnells Hauptargument ist, dass bereits in der Antike und im Mittelalter rationales Handeln gefordert wurde. Tatsächlich ist die Überzeugung, dass der rationale Mensch tugendhafter ist als derjenige, der seinen Instinkten folgt, so alt wie die Philosophie. Und es ist auch wahr, dass der ‚zivilisierte‘ Mensch nicht der ‚tugendhafte‘ Mensch ist. Der zivilisierte Mensch gibt bloß vor, sein Leben gemäß den Diktaten praktischer Vernunft zu führen – auch wenn er es nicht tut. Aber dieser Mensch bemüht sich immerhin um solch eine Nachahmung. Eine rationale/zivilisierte Person ist voraussagbar und zuverlässig. Schnell argumentiert, „die hochmittelalterliche Literatur bietet doch eine Fülle von Belegen für taktisches bzw. strategisches Handeln“ (34). Dies Argument überzeugt weniger als Puffs präzise Analyse des sich in dem Schülerheft des 17. Jahrhunderts „artikulierenden Weltentwurf[s] einer humanistisch-pädagogisch verstandenen ratio“ (274). Denn in dieser Rationalität gehen Zivilisierung und Arbeitsethik eine Verbindung ein, die es im Mittelalter noch nicht gegeben hat.

Der Sammelband schließt mit einem Beitrag von Schnell: „Macht im Dunkeln. Welchen Einfluß hatten Ehefrauen auf ihre Männer? Geschlechterkonstrukte in Mittelalter und Früher Neuzeit“. Schnell wiederholt hier seine Vorwürfe gegen Elias und schreibt über Sex in der Literatur. Die Beiträge der anderen Autorinnen und Autoren nehmen weniger als die Hälfte des Gesamtumfangs ein. Die breite Erörterung mediävistischer Detailfragen, spezialistischer Probleme der frühneuzeitlichen Literaturgeschichte und wissenschaftstheoretischer Selbstreflexion der Literaturwissenschaft (besonders durch Schnell) stellt erhebliche Anforderungen an die Fähigkeit des Lesers, den Zusammenhang zur Zivilisationstheorie Elias‘ herzustellen. Dies ist ein Buch für Experten. Ein Sachregister, ein Autoren- und Werkregister sowie ein Register der zitierten modernen Autoren erschließen den Inhalt des Buchs. Leider führen die Verweise nicht immer auf prägnante Textstellen, sondern manchmal auf bloße Namensnennungen. Auch hier wäre weniger mehr gewesen.

[1] Literarisierung und Zivilisierung. Anmerkungen zur Kulturanthropologie und zu ‚De Civilitate morum puerilium‘ (1530) des Erasmus von Rotterdam.
Hans-Ulrich Musolff (Bielefeld)
Zur Zitierweise der Rezension:
Hans-Ulrich Musolff: Rezension von: Schnell, Rüdiger (Hg.): Zivilsationsprozesse, Zu Erziehungsschriften in der Vormoderne. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2005. In: EWR 5 (2006), Nr. 4 (Veröffentlicht am 27.07.2006), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/41213904.html