Lokal- und regionalgeschichtliche Untersuchungen haben in der Historischen Bildungsforschung eine lange Tradition. Sie können einen Blick auf die Schulentwicklung jenseits der übergreifenden Prozesse ermöglichen und auf diese Weise Mechanismen der Umsetzung, aber auch Ungleichzeitigkeiten im Verhältnis zur Systementwicklung sichtbar machen. Ihr primäres Interesse besteht aber zunächst darin, die lokalen bzw. regionalen Entwicklungen darzustellen und zu analysieren.
Die Studie von W. Hauer zur Schulentwicklung in Tübingen vom Spätmittelalter bis zur Entstehung des Königreichs Württemberg 1806, eine Dissertation an der Tübinger Universität, ist in zwei große Abschnitte einteilbar, die die Schulentwicklung im Kontext der Stadtgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Großen Kirchenordnung von 1559 sowie die Entwicklungen im Gefolge der Kirchenordnung bis 1806 thematisieren. Der erste, kürzere Abschnitt umfasst zwei Kapitel zur Stadt- und zur Schulgeschichte bis 1559 (I. und II.), der zweite, auch aufgrund der Quellenlage deutlich umfangreichere Abschnitt umfasst ein Kapitel zur Großen Kirchenordnung selbst als Mittel zur Implementierung eines territorialstaatlichen Schulwesens (III.), vier Kapitel zu einzelnen Schulen (IV. Deutsche Knabenschule; V. Deutsche Mädchenschule; VI. Spital- und Industrieschule; VIII. Lateinschule), ein Kapitel zum Wirken des Pestalozzianers Carl August Zeller (VII.) sowie ein Kapitel zur Stadt und ihrem Schulwesen "an der Epochenschwelle des württembergischen Staates" (IX.). Eingerahmt werden diese Abschnitte und Kapitel von einer Einleitung und einem Schlusswort, dem ein Quellen- und Literaturverzeichnis, dessen auf den ersten Blick klare Gliederung zuweilen einen hohen Suchaufwand zur Folge hat, eine Schulmeisterliste sowie ein Register folgen.
In der Darstellung insgesamt dicht, sind die beiden Abschnitte bis und nach 1559 schon aufgrund der Quellenlage für die Schulgeschichte sehr unterschiedlich differenziert und ausführlich. Aus wenigen Nennungen von Schulen oder Schulmeistern muss für das ausgehende Mittelalter eher erschlossen werden, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt eine deutsche Schule (vgl. 49: "Es ist nicht möglich, die näheren Umstände der deutschen Schule in Tübingen im ausgehenden Mittelalter zu belegen oder ihr Entstehen genau zu datieren.") und bereits früh auch schulische Einrichtungen für Mädchen gegeben hat. Die schlechte Quellenlage versucht der Autor einerseits mit Verweis auf "Geschichten der Pädagogik" von Reble bis Blankertz zu kompensieren, ohne doch die allgemeinen Angaben zur Schulgeschichte im Mittelalter an Tübinger Quellen breit bestätigen zu können. Andererseits kann Hauer die eng mit der Universitätsgeschichte verknüpfte Entwicklung der ‚höheren‘ Schule nutzen und hier die v.a. seit der 1534 in Württemberg eingeführten Reformation ausgebaute Verknüpfung von Lateinschule, Pädagogium, herzoglichem Stipendium (besser bekannt unter der Bezeichnung "Stift") und Universität herausstellen, wobei der Universität allerdings m.E. zu viel Raum gewidmet wird.
Mit der Reformation verbessert sich die Quellenlage deutlich, insbesondere nach Erlass der Großen Kirchenordnung im Jahr 1559 mit ihren vielfältigen Regelungen zum Schulwesen. Die schon früher einsetzende Verstaatlichung der Schule und die Zentralisierung der Schulaufsicht im Prozess der Konfessionalisierung werden durch die Kirchenordnung vorangetrieben. Hauer macht sehr schön deutlich, dass Württemberg mit dieser Kirchenordnung neben den mitteldeutschen Fürstentümern ein Vorreiter im Ausbau eines organisierten Schulwesens mit einer klar geregelten Aufsichts- und Verwaltungsstruktur war. Nicht nur wurde im Bereich der ‚höheren‘ Bildung ein System aufeinander aufbauender Schulen von den Lateinschulen auf dem Land bis hin zur Universität geschaffen, sondern auch im Bereich der niederen Schule früh eine Vereinheitlichung angestrebt.
In den detaillierten Darstellungen zur deutschen Knabenschule, zur deutschen Mädchenschule (schon 1589 mit einem eigenen Schulgebäude, vgl. 248 f.), zur Spital- bzw. Industrieschule sowie zur Lateinschule und zum Pädagogium zwischen 1559 und 1806 wird freilich deutlich, dass die Kirchenordnung auch zu einem Hemmschuh für weitere Entwicklungen werden konnte. Besonders im Bereich der Elementarschulen scheint sich die lange Gültigkeit der Kirchenordnung im 18. Jahrhundert negativ ausgewirkt zu haben. Vergleicht man allerdings die Klagen über die deutsche Schule in Tübingen mit denen aus anderen Regionen im Deutschen Reich, dann erkennt man doch viele Gemeinsamkeiten, und der Verweis auf Rochow und die Philanthropen darf nicht in der Weise bewertet werden, als hätten die niederen Schulen in Preußen insgesamt das Niveau der Schule in Reckahn erreicht.
Hierin liegt denn auch ein kleines Manko der vorliegenden Arbeit: Zwar wird immer wieder auch auf die Kontexte Bezug genommen, aber eine vergleichende Betrachtung der Entwicklungen findet so gut wie nicht statt. Dies mindert nicht den Wert und Ertrag der Arbeit als lokaler Fallstudie, verweist aber einmal mehr darauf, dass inzwischen doch einige Fallstudien vorliegen, die unverbunden nebeneinander stehen. Diese Fallstudien müssten einmal im Vergleich bearbeitet werden, nicht um die Gesamtdarstellungen zu widerlegen, sondern um die Systembildungsprozesse im lokalen bzw. regionalen Kontext zu verorten, wo sie ihre Wirkungen entfaltet haben. Dazu benötigt man aber zunächst einmal solche differenzierten Studien wie die von Hauer.
EWR 3 (2004), Nr. 2 (März/April 2004)
Lokale Schulentwicklung und städtische Lebenswelt
Das Schulwesen in Tübingen von seinen Anfängen im Spätmittelalter bis 1806
Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003
(653 Seiten; ISBN 3-515-07777-4; 100,00 EUR)
Klaus-Peter Horn (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Klaus-Peter Horn: Rezension von: Hauer, Wolfram: Lokale Schulentwicklung und städtische Lebenswelt, Das Schulwesen in Tübingen von seinen Anfängen im Spätmittelalter bis 1806, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/51507777.html
Klaus-Peter Horn: Rezension von: Hauer, Wolfram: Lokale Schulentwicklung und städtische Lebenswelt, Das Schulwesen in Tübingen von seinen Anfängen im Spätmittelalter bis 1806, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/51507777.html