EWR 1 (2002), Nr. 3 (Juli 2002)

Sylvia Kesper-Biermann
Staat und Schule in Kurhessen 1813-1866
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001
(404 Seiten; ISBN 3-525-35950-0; 42,00 EUR)
Staat und Schule in Kurhessen 1813-1866 Sylvia Kesper-Biermann legt mit ihrer Studie eine gekürzte und geringfügig überarbeitete Fassung ihrer im Sommersemester 1998 vom Fachbereich Geschichtswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen angenommenen Dissertation vor. Als Ansatzpunkt der Untersuchung nennt die Autorin die in der historischen Bildungsforschung seit langem erkannte Notwendigkeit von komparativ angelegten Regionalanalysen zur Analyse der Wechselwirkungen zwischen staatlichen, regionalen und lokalen Impulsen der Schulentwicklung. Es gibt in der Tat zu wenige Analysen solchen Zuschnitts, und um so vorbehaltloser zu begrüßen ist die in der Einleitung hervorgehobene Zielsetzung der Studie, vor dem Hintergrund einer preußenzentrierten Forschung durch die Untersuchung des Schulwesens eines "mittleren Staates wie Kurhessen" ein differenziertes Bild zu zeichnen und "Alternativmodelle" aufzuzeigen.

Konzeptuell verfolgt die Studie vier Analysegesichtspunkte: Umfang, Intentionen und Durchsetzungsfähigkeit der staatlichen Schulpolitik – Interessen und Einflußnahme der übrigen schulpolitischen Akteure (Gemeinden, Landtag, Kirchen, Justiz, Lehrer, Eltern) – Einflüsse der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und politischen Gegebenheiten – Vergleich mit der Schulentwicklung in anderen deutschen Staaten.

Im ersten von drei Hauptteilen werden Aufbau und Entwicklung der Schulverwaltung und Schulaufsicht in Kurhessen nachgezeichnet. Die beiden folgenden, jeweils mit einer chronologischen Darstellung schulpolitischer Entwicklungen und Konfliktfelder eingeleiteten Teile haben das "Elementarschulwesen" und das "Gymnasialwesen" zum Gegenstand. Thematische Schwerpunkte der jeweils mit "Schule und Schüler" überschriebenen Abschnitte sind im Blick auf das Elementarschulwesen: Schulpflichtregelungen und Probleme ihrer Durchsetzung, Zuständigkeiten und Finanzierungsfragen, Schulbau und Schulfinanzierung, Lehrpläne, Lehrbücher und Erziehungsziele, Unterrichtsbedingungen und Disziplinierungsmaßnahmen. Ähnlich breit ist das Themenspektrum des entsprechenden Abschnitts im Kapitel über die Gymnasien (Schulbau, Schulfinanzierung, Normallehrplan und Überbürdungsdebatten, Ziele und Inhalte der Unterrichtsfächer, Abiturregelungen, Studienwünsche, Schulbesuchsverhalten, Schuldisziplin). Im Mittelpunkt der jeweiligen Unterkapitel über die Elementarschullehrer und die Gymnasiallehrer stehen Ausbildungs- und Anstellungsbedingungen, Rechtsstatus, Dienstpflichten und Disziplinarmaßnahmen, Besoldung und Altersversorgung, Selbstverständnis, Berufsbild und Vereinsaktivitäten.

Im bildungsstatistischen Bereich hingegen läßt die Studie (quellenbedingt?) manche Wünsche offen. Leider klammert die Arbeit bis auf die insgesamt sechs Gymnasien Kurhessens sämtliche über das Elementarschulniveau hinausgehenden Schulen aus. Diese Selbstbeschränkung erweist sich besonders dann als hinderlich, wenn Vergleiche mit anderen deutschen Staaten nicht nur auf der Zeitachse angestellt werden sollen, und sie schmälert die analytischen Möglichkeiten einer Studie, deren Untersuchungsgebiet annähernd die Ausdehnung des späteren preußischen Regierungsbezirks Kassel erreicht.

Die im Schlusskapitel zusammengefassten Befunde reichen denn auch nicht aus, um für den Untersuchungszeitraum "ein von den preußischen Verhältnissen abweichendes ‚mittelstaatliches Modell’ des Bildungswesens" (S. 358) in Deutschland konstatieren zu können.

Die erste zusammenfassende Darstellung des kurhessischen Schulwesens im Zeitraum von der Wiederherstellung des Kurfürstentums nach dem Ende der napoleonischen Ära 1813 bis zur Auflösung und Übernahme durch Preußen im Jahre 1866 weckt die Neugier auf ergänzende Studien. Durch Untersuchungen zur Schulentwicklung in den übrigen Gebieten der späteren preußischen Provinz Hessen-Nassau ließe sich unter Verwendung der von der historischen Bildungsforschung bereitgestellten Theorieangebote, Analysemodelle und bildungsstatistischen Instrumentarien die Rekonstruktion der Schulgeschichte dieses "neupreußischen" Landesteils während der beiden ersten Drittel des 19. Jahrhunderts vervollständigen.
Ulrich G. Herrmann (Bochum)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ulrich G. Herrmann: Rezension von: Kesper-Biermann, Sylvia: Staat und Schule in Kurhessen 1813-1866, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 3 (Veröffentlicht am 01.07.2002), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/52535950.html