EWR 1 (2002), Nr. 2 (April/Mai 2002)

Jürgen Reulecke (Hrsg.)
"Ich möchte einer werden so wie die ..."
Männerbünde im 20. Jahrhundert
Frankfurt/M. u.a.: Campus Verlag 2001
(296 Seiten; ISBN 3-593-36727-0; 29,90 EUR)
"Ich möchte einer werden so wie die ..." Das Kommen und Gehen der Generationen im 20. Jahrhundert als historischer Forschungsgegenstand

"Ich möchte einer werden, so wie die ..." ist eine Zeile aus dem Gedicht "Der Knabe" von Rainer Maria Rilke, das 1906 erstmals veröffentlicht wurde. Sie liefert den Titel für ein Buch des Neuzeithistorikers Jürgen Reulecke über "Männerbünde im 20. Jahrhundert". Titel wie Untertitel wecken zunächst andere Erwartungen als das, was der Autor in sechzehn Aufsätzen thematisiert: Freimaurer, Studentenverbindungen, katholische Priesterseminare, Sport, elitäre, Frauen ausschließende Clubs, Chefetagen, Aufsichtsräte großer Firmen oder die Geschichte des Zentralkommités der SED werden nicht thematisiert. Trotzdem hat der Titel seine Berechtigung, da er eine Klammer über den hier versammelten Aufsätzen zu den verschiedensten Themen bildet. Dabei wird jedoch über wesentlich mehr als über "Männerbünde" nachgedacht: Es geht um männliche Sozialisation und Bilder von Männlichkeit im 20. Jahrhundert am Beispiel der verschiedenen Generationen der Jugendbewegung. Gefragt wird außerdem nach dem Generationenverhältnisse in diesem "Jahrhundert der Extreme", nach dem Umgang mit dem Nationalsozialismus unter generationalem Aspekt und nach der eigenen biographischen Dimension, dem "subjektiven Faktor", mit dem der Zeithistoriker immer auch konfrontiert ist. In dem abschließenden Text des Bandes bezeichnet Reulecke sich als Historiker, "der grundsätzlich das Kommen und Gehen der Generationen als seinen bevorzugten Forschungsgegenstand gewählt hat".

Die einzelnen Aufsätze spannen den Bogen vom "Jugendprotest als Kennzeichen des 20. Jahrhunderts", über "Männerbund versus Familie. Bürgerliche Jugendbewegung und Familie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts", "Zum Wandel der Ästhetik des Männerbildes während des Ersten Weltkrieges", "Letzte Briefe aus Stalingrad", "Jugend und Jugendpolitik nach 1945" bis zur Frage "Waren wir so? Zwanzigjährige um 1960: ein Beitrag zur ‚Ich-Archäologie‘". Das große Thema des Buches ist die Jugendbewegung, jenes singuläre deutsche Phänomen, das im Jahre 1901 in Berlin-Steglitz seinen Ausgang nahm, als junge, männliche Gymnasiasten sich zum gemeinsamen Wandern und zu sogenannten "Fahrten" zusammenschlossen.

Um es gleich vorweg zu schicken: Es handelt sich um ein höchst lesenswertes und zugleich spannendes wissenschaftliches Buch, detail- wie kenntnisreich und couragiert in der Selbstthematisierung der eigenen Person und auch der historischen Zunft, etwa da, wo das Verhältnis von Historikern wie Theodor Schieder oder Werner Conze zum Nationalsozialismus behandelt wird. Leser und Leserinnen erfahren sowohl etwas über die Vaterlosigkeit des Autors, dessen Vater 1943 bei Kiew gefallen ist, wie über seine eigene Mitgliedschaft in der Jugendbewegung nach 1945. Gerade weil es so charakteristisch für die historische Auseinandersetzung mit der deutschen Jugendbewegung ist, dass sich vor allem deren Mitlieder mit ihrer Geschichte befaßt haben, ist eine selbstreflexive wissenschaftliche Position wie bei Reulecke, die als gelungen bezeichnet werden kann, unbedingt gefordert und Maßstäbe setzend. Mutig ist die Rede, die Reulecke im Jahre 2000 bei der Auflösung des Freideutschen Kreises gehalten hat, einer Vereinigung von Menschen, die, zwischen 1902 und 1913 geboren, in der Weimarer Republik Teil der Jugendbewegung waren und sich 1947 zusammenschlossen, um einen Beitrag zur "geistigen Überwindung des Nationalsozialismus" zu leisten. Trotz dieses Ansinnens gebe es gute Gründe dafür, so Reulecke, warum Personen wie Schieder und Conze, die eng mit dem Kreis verbunden waren, stark in die Schußlinie jüngerer Historiker geraten und als akademische Handlanger nationalsozialistischer Politik bezeichnet worden seien. Trotz der programmatischen Intention des Kreises, sich der Vergangenheit zu stellen, habe angesichts von Kritik eine Strategie der Abwehr, der Zurückweisung von Vorwürfen und von Selbstrechtfertigung geherrscht. Dieser Haltung hält Reulecke die Frage entgegen, welche Botschaft die Mitglieder jenes Kreises den Nachgeborenen eigentlich übermitteln wollten, zumal wenn sie sich an der sogenannten Meißner-Formel der Jugendbewegung orientieren würde, die besagt, das eigene Leben "aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit" zu gestalten. Dabei geht Reulecke mit Sigmund Freud davon aus, daß "keine Generation imstande sei, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen". Reuleckes Position ist exemplarisch dafür, wie ein gelungenes Gespräch zwischen den Generationen aussehen könnte, das von wechselseitiger Perspektivübernahme, Fragenstellen, Geschichtstoleranz im Sinne des bewußten Mittragens einer Geschichte, der sich keiner entziehen kann, und der Übernahme von Verantwortung geprägt ist.

Diese Stärken und Verdienste des Buches überwiegen bei weitem seine Schwachpunkte, wie etwa den Umstand, daß alle Texte bereits veröffentlicht waren, die angesichts des Titels merkwürdige Konzentration auf die deutsche Jugendbewegung sowie einige thematische Überschneidungen zwischen den Beiträgen. In puncto "Jugendbewegung" hätte man sich zuweilen etwas mehr von der von Reulecke an anderer Stelle geforderten Selbstironie gewünscht, die er als Haltung bezeichnet, mit der die Deutschen sich schwer tun. Dies gilt etwa für die Überschätzung der Bekanntheit jugendbewegter Interna, etwa wenn von der "berühmten" jugendbewegten Gruppe dj 1.11 Eberhard-Köbel tusks die Rede ist. Wer bitte, kennt die schon, außer einigen Experten?

Dem Problem, daß gerade mal ein bis zwei Prozent einer Generation zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Jugendbewegung organisiert waren, hält Reulecke entgegen, daß die Jugendbewegung auch für andere Jugendorganisationen des 20. Jahrhunderts stilbildend, vor allem aber mentalitätsgeschichtlich bedeutsam gewesen sei, da sie die Lebensläufe der beteiligten Individuen stark geprägt habe. Die in dem Band versammelten historischen Arbeiten zur Männergeschichte will er in der Tradition von Kultur- und Mentalitätsgeschichte und im Sinne eines "dialogisch zu verstehenden, erinnernden Erzählens von Geschichten" verstanden wissen.

Ein exemplarischer Beitrag für das, was eine in der Geschichtswissenschaft immer noch unterrepräsentierte Männergeschichte leisten kann, ist etwa der Aufsatz "Sterben wie eine Ratte, die der Bauer ertappt". Hier werden Briefe von deutschen Frontsoldaten in Stalingrad, die diese nach Hause geschrieben haben, mit der Glorifizierung des Krieges und kämpferischen Mannestums in Ernst Jüngers "In Stahlgewittern" kontrastiert. Gehört die Abwesenheit von Frauen zur Stilisierung und Heroisierung des Krieges bei Jünger, so kann anhand der Briefe gezeigt werden, wie sehr sich die wirklichen Soldaten im Kessel von Stalingrad nach ihren Geliebten und Frauen, ihren Familien und - als Inbegriff familiärer Geborgenheit - nach Kuchen gesehnt haben.

Dieser Text sowie die anderen Beiträge des Sammelbandes machen ihn unentbehrlich für alle, die sich mit Geschlechter- und Generationengeschichte im 20. Jahrhundert, mit dem Nationalsozialismus und vor allem mit der Geschichte von Jugend und Jugendbewegungen befassen.
Meike Sophia Baader (Potsdam)
Zur Zitierweise der Rezension:
Meike Sophia Baader: Rezension von: Reulecke, Jürgen (Hg.): "Ich möchte einer werden so wie die ...", Männerbünde im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. u.a.: Campus Verlag 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 2 (Veröffentlicht am 00.04.2002), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/59336727.html