EWR 3 (2004), Nr. 4 (Juli/August 2004)

Renate Kränzl-Nagl / Johanna Mierendorff / Thomas Olk (Hrsg.)
Kindheit im Wohlfahrtsstaat
Gesellschaftliche und politische Herausforderungen
Frankfurt / New York: Campus Verlag 2003
(468 Seiten; ISBN 3-593-37021-2; 34,90 EUR)
Kindheit im Wohlfahrtsstaat Wenn das Veralten des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements und der Umbau des Sozialstaats untersucht werden, treten Kinder – wenn von ihnen überhaupt gesondert die Rede ist – als Familienangehörige in Erscheinung. Die Familialisierung der Kindheit hat die Kindheitssoziologie, die seit den 80er Jahren einen großen Aufschwung erlebt hat, immer stark kritisiert – dennoch hat sie sich mit der Bedeutung des Sozialstaats für die Lebensverhältnisse von Kindern und für die Konstituierung von Kindheit kaum befasst. Diese wechselseitige Blindheit der Wohlfahrts- und der Kindheitsforschung will das vorliegende Buch beenden.

Die vierzehn Beiträge, überwiegend von prominenten Vertretern der Sozialpolitik- und der Kindheitsforschung verfasst, sind in vier Teile gegliedert. In ihrer Einleitung kritisieren die Herausgeberinnen und Herausgeber, dass die Wohlfahrt von Kindern als arbeitsmarktferner Bevölkerungsgruppe von der sozialen Lage ihrer Eltern abhängig ist; eigene soziale Bürgerrechte würden Kindern immer noch vorenthalten. Damit ist der konzeptionelle Rahmen des Bandes skizziert. Die Autoren des ersten Teils setzen sich mit drei Ansätzen auseinander, die Kindheit wohlfahrtstheoretisch zu konzeptualisieren: einem verteilungstheoretischen, einem produktivistischen (an einem Konzept des Humanvermögens orientierten) und einem bürgerrechtlichen Ansatz. Mit Kaufmann und Qvortrup sind Protagonisten einer eher familien- und einer eher kinderpolitischen Orientierung unter den Autoren vertreten. Die vier Beiträge des komplementär angelegten zweiten Teils focussieren unterschiedliche Zugänge, die Wohlfahrtsposition von Kindern kindheitstheoretisch zu konzeptualisieren: Kindheit als Rechtsbegriff, als politisch-ökonomisches Konstrukt, als soziale Form politischer Sozialisationsprozesse und als Machtdifferential. Der mit zwei Beiträgen – angesichts der öffentlichen Aufmerksamkeit, die das Thema genießt – eher knapp gehaltene dritte Teil studiert die Position von Kindern im wohlfahrtsstaatlichen Arrangement am Schlüsselbeispiel der Armut von Kindern. Förster stellt OECD-Daten vor und bereitet mit einem komparatistisch-nüchternen Blick auf die Fakten den Boden für den Beitrag von Ostner, die Kinderarmut als Stellvertreter-Thema betrachtet. Weil Kinder unstrittig zu den deserving poor gehören, eigne sich Kinderarmut vorzüglich für einen wohlfahrtspolitischen Diskurs, der den Akzent von der Bedürftigkeit zur (mangelnden) Chance verschiebt, die eigene Existenz sichern zu können. Die vier Beiträge des abschließenden vierten Teil werden von den Herausgebern in die Perspektive einer zukünftigen Kinderwohlfahrtspolitik gerückt. Er enthält u.a. einen Beitrag von Lüscher, der eine Weiterentwicklung seiner erstmals 1977 publizierten Konzeption einer "Sozialpolitik für das Kind" darstellt, vor allem aber ein Plädoyer von Mierendorff und Olk für eine kindorientierte Perspektive beim derzeitigen Umbau des Sozialstaats. Die Autoren vertreten die Position, dass Bezugspunkt und systematische Begründung einer Kinderwohlfahrtspolitik die Beiträge der Kinder zur Wohlfahrtsproduktion sein müssen, und treten für eine elternunabhängige Existenzsicherung für Kinder ein.

Der Band enthält viele inspirierende und gedankenreiche Beiträge, aber er verfügt nicht über eine organisierende theoretische Perspektive. Genauer: Die Problemstellung des Bandes, die These von der "Kindheitsvergessenheit der Wohlfahrtsstaatsforschung und der Wohlfahrtsstaatsvergessenheit der Kindheitsforschung" wird als Programm formuliert, nicht als Forschungsstrategie. Daher fällt es schwer, die Vielfalt von Beobachtungen, Argumenten und Thesen dieses Bandes zu ordnen und auf ihren Ertrag hin zu pointieren.

Man fragt sich bei der Lektüre der Beiträge unwillkürlich: Lässt sich über Kinder anders als normativ sprechen? Warum erscheint diese Normativität so habituell und unausweichlich? Der Grund besteht m.E. darin, dass die Rede von "Kindern" die gesellschaftliche Konstituierung von Kindheit immer schon voraussetzt. Die Aufgabe einer wohlfahrtstheoretischen Kindheitsforschung (und einer kindheitstheoretisch informierten Wohlfahrtsforschung) bestünde darin, diese Konstituierung von Kindheit selbst zu thematisieren. Geschieht dies nicht, wird vielmehr unvermittelt an "Kindern" angeknüpft, verwickelt sich die Kindheitsforschung in Widersprüche, genauer: Sie verstrickt sich in die strukturellen Ambivalenzen generationaler Ordnungen.

Paradigmatisch für diese Strukturambivalenz ist der rechtliche Status von Kindern. Es trifft zu, dass Kinder keinen Bürgerstatus haben; aber sie sind nicht rechtlos. Der Beitrag von Wiesner stellt dies dar. Mehr noch: Ihre Rechtsposition wird seit geraumer Zeit kontinuierlich gestärkt. Sie ist jedoch bestimmt von Angewiesenheit und Abhängigkeit, von Schutz, Förderung und Bevormundung, wie sie im Konzept der Minderjährigkeit zum Ausdruck kommen. Diese Ambivalenzen können – extrem im rechtlichen Lebensschutz – in unauflösbare Widersprüche führen.

Diese Ambivalenzen und Widersprüche bilden gewissermaßen den Sub-Text der Beiträge oder besser: der Konfiguration von Beiträgen dieses Bandes, sie werden aber nicht thematisch. So ist es gewiss zutreffend, dass das Verbot der Kinderarbeit den marginalen Status der Kinder in einer Arbeitsgesellschaft festgeschrieben hat; was folgt daraus aber für eine Kinderwohlfahrtspolitik? Nirgends in diesem Band wird gefordert, das Verbot aufzuheben. Aber die Frage nach einer Politischen Ökonomie der Kindheit liegt in der Luft; sie wird freilich nicht systematisch entfaltet. Stattdessen werden waghalsige Analogien von Lernen und Arbeiten angeboten, die irgendwie plausibel sind, die aber letztlich nicht in den Kern der Sache führen. Dagegen wäre der Frage nach dem Beitrag der Kinder zur Wohlfahrtsproduktion nachzugehen – gestellt wird sie, näher untersucht wird sie nicht.

Das Problem der Kindheitssoziologie besteht darin, dass sie sich einem Gleichheitsprojekt verpflichtet fühlt; es ist aber offenkundig, dass eine Kinderwohlfahrtspolitik auch einen Begriff von der Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen braucht. Mit dem Verhältnis von Gleichheit und Besonderheit ist das Verhältnis von "Kindern" und "Kindheit" verknüpft. Die Marktabhängigkeit der nicht erwerbstätigen Bevölkerungsgruppe der Kinder ist ein gutes Beispiel. Sie wird durch die Angewiesenheit der Kinder auf Sorgebeziehungen ebenso sehr hergestellt wie abgepuffert, weil diese nicht nur materielle Ressourcen vermitteln, sondern auch Bildungsgelegenheiten schaffen; daher kann die Zukunft der sozialen Bürgerrechte für Kinder nicht gleichbedeutend sein mit einer Defamilialisierung von Kindheit. Für diese Aufgabe greift der Gegensatz von Adultismus und Kindorientierung freilich zu kurz, weil die Frage nach der Besonderheit durch Parteilichkeit überdeckt bzw. entdifferenziert wird. Wohlfahrtstheoretisch würde es beispielsweise darum gehen, die Verwundbarkeit von Kindern konzeptionell neu zu fundieren oder den wohlfahrtspolitischen Übergang von der Status- zur Passagensicherung für die Lebensphase Kindheit auszubuchstabieren.

Dementsprechend ist die Schwäche des Buches sein advokatorischer Zugang zur Wohlfahrt von Kindern; seine Stärken liegen dort, wo diese Naturalisierung problematisiert wird. Bühler-Niederberger beispielsweise weist in einer historisch vertieften Inhaltsanalyse aktueller kinderpolitischer Auseinandersetzungen nach, dass der gesellschaftliche Wert von Kindern in diesen Auseinandersetzungen nicht vorausgesetzt, sondern ermittelt wird; die "Rechenregeln" weisen eine variable Mischkalkulation emotionaler und ökonomischer Anteile auf und konstituieren die Maßstäbe für die Wohlfahrt von Kindern. Was Nützlichkeit und Bedürftigkeit für die Bestimmung der Wohlfahrt von Kindern sind, ist ihre Autonomie für ihre Rechte. Hengst zeigt in seinem Beitrag, dass eine kulturelle Autonomie der Kinder gegenüber der Erwachsenengeneration bereits in einem unerwarteten Ausmaß Realität ist. Es ist eine unübersehbar marktvermittelte Autonomie: Kinder sind eine Macht als Konsumenten, und auf eine widersprüchliche Weise bildet sie den Bezugspunkt einer kollektiven Identität als Kinder, zu der die erwachsenen Advokaten kindlicher Autonomie keinen Zugang haben. Oder Ostner: Die Skandalisierung der Armut von Kindern verkennt, dass der Umbau des erwerbsarbeitszentrierten Sozialstaats, der Übergang von der Status- zur Passagensicherung, bereits im Gange ist. Was die Politik der employability für Kinder bedeutet, dass die gewünschte Vermehrung der Erwerbschancen mit mehr Ungleichheit einhergeht, wird freilich kaum gesehen. Schließlich Lüscher: Als einziger der Autorinnen und Autoren stellt er explizit die Frage, wie die Sozialität des Kindes angemessen erfasst werden kann und schlägt vor, Kinderpolitik als Gestaltung der Generationenambivalenz zu verstehen, die in der Rolle des Kindes institutionalisiert ist.

Mit diesen Beiträgen bietet der Band Ansatzpunkte, um der habituellen Normativität des kindheitssoziologischen Diskurses zu entgehen. Die theoretische Herausforderung, welche in der wechselseitigen Blindheit von Kindheitssoziologie und Wohlfahrtsforschung liegt, besteht darin, die Relationalität sozialer Kindheit zu begreifen, also die Kategorie des Kindes selbst zu problematisieren, anstatt naturalisierend auf Kinder als Repräsentanten einer marginalisierten Bevölkerungsgruppe zurückzugreifen. Der Sozialstaat trägt zur Konstituierung der Kindheit wesentlich bei; wie dies geschieht, wäre Thema der Begegnung von Kindheitssoziologie und Wohlfahrtsforschung. Der Band untersucht aber die Bedeutung des Sozialstaats für die Lebensverhältnisse von Kindern und für die Konstituierung von Kindheit nicht, sondern fordert eine andere Rolle des Kindes, eine andere Politik für Kinder, eine andere (Institutionalisierung der) Kindheit. Damit wird die beklagte wechselseitige Blindheit von Kindheits- und Wohlfahrtsforschung nicht beseitigt, sondern nur anders normiert. Ohne eine Problematisierung der Kindheit als einer Form des Sozialen verfängt sich jedoch auch eine normativ umprogrammierte Kinderwohlfahrtspolitik in den Kindheitsbildern der Moderne.
Michael-Sebastian Honig (Trier)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael-Sebastian Honig: Rezension von: Kränzl-Nagl, Renate / Mierendorff, Johanna / Olk, Thomas (Hg.): Kindheit im Wohlfahrtsstaat, Gesellschaftliche und politische Herausforderungen, Frankfurt / New York: Campus Verlag 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 4 (Veröffentlicht am 05.08.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/59337021.html