EWR 20 (2021), Nr. 5 (September/Oktober)

Volker Benkert
Unsere Väter, unsere Mütter
Deutsche Generationen seit 1945
Frankfurt am Main: Campus 2020
(246 S.; ISBN 978-593-50527-5; 29,95 EUR)
Unsere Väter, unsere Mütter Generationenforschung hat in den Geschichts-, Sozial- und Erziehungs-wissenschaften wiederkehrende Konjunkturen. Sie fokussiert u.a. gesellschaftliche Krisensituationen, historisch-politische Umbrüche und Transformationsprozesse sowie darin eingelagerte kollektive Sozialisationsbedingungen und -erfahrungen. Damit verbunden ist die Frage, ob gemeinsame Erlebnis-, Denk- und Handlungsweisen bestimmter Alterskohorten zur Herausbildung sog. Generationseinheiten führen, die dann zu Akteur:innen sozialen Wandels werden.
Eine genealogisch orientierte Generationenforschung hingegen fragt beispielsweise nach der Ausgestaltung von Erziehungsverhältnissen in Familien und anderen pädagogischen Settings, nach Tradierungen und Habitualisierungen in verwandtschaftlichen Generationenfolgen oder nach Mustern transgenerationeller Weitergabe, etwa von Kriegserlebnissen und Traumata. Neuere Ansätze fokussieren Generationszusammenhänge zudem als nachträglich konstruierte Erinnerungs- und Selbstdeutungsgemeinschaften von gesellschaftlichen Eliten, die in massenmedialen und wissenschaftlichen Kontexten ihr jeweiliges kollektives Erleben als maßgebliche Generationserfahrungen erzählen und interpretieren. Auch dadurch zeichnen sich Generationskonzepte durch eine breite inhaltliche Deutungsvielfalt, aber auch durch Unschärfe aus.

Der vorliegende Band, der eine Konferenz an der Akademie für Politische Bildung in Tutzing im Jahre 2015 dokumentiert, greift die Komplexität der Thematik in zehn Beiträgen auf, die drei übergeordnete Zugangsweisen eröffnen: (1) Generation und Gesellschaft, (2) Generation und Gedächtnis sowie (3) Generation und Jugend.

Eröffnet wird das thematische Spektrum durch einen Beitrag des Soziologen und Publizisten Thomas Ahbe, der die Verwendung des Generationenbegriffs als genealogische Tatsache, als historisches Deutungsmuster sowie als strategische Selbstthematisierungsformel grundlegend voneinander abgrenzt. Volker Benkert beschreibt die Problematiken einer Generationsgeschichtsschreibung am Beispiel der um 1970 in der DDR Geborenen, die aufgrund unterschiedlicher Sozialisationserfahrungen verschiedene Typiken, allerdings keine generationsübergreifende, transformatorische Avantgarde ausgebildet hätten. Ein weiterer Beitrag des Herausgebers stellt Ergebnisse eines Projektes vor, welches sich mit der politischen Sozialisation und generationellen Identität derselben Alterskohorte vor und nach 1989 beschäftigte. Anhand von 23 biografischen Interviews wird aufgezeigt, wie unterschiedlich ehemalige junge DDR-Bürger:innen auf das nationale, antifaschistische Identifikationsangebot des politischen Regimes und auf Fragen nach der nationalsozialistischen Vergangenheitsbewältigung reagierten.

Dem Mythos der sog. Wendekinder widmet sich der Beitrag von Wulf Kansteiner. Er nimmt damit ein biografisches Kollektiv in den Blick, das sich in seinen Erinnerungsnarrativen aufgrund der doppelten Sozialisation in verschiedenen politischen Systemen eine besondere Flexibilität, Resilienz und Transformationskompetenz u.a. für den postsozialistischen Arbeitsmarkt zuschreibt. Diese Position vertreten auch Adriana Lettari, Christian Nestler und Jane Porath, die in ihrer Erörterung die dritte Generation von DDR-Bürger:innen u.a. anhand autobiografischer Selbstbefassungsliteratur ausleuchten und ein Modell zur wissenschaftlichen Erschließung möglicher Generationszusammenhänge entwickelt haben. Yael Sarah Ben-Moshe analysiert die verschiedenen Darstellungen von Terrorismus in neueren deutschen Filmen und zeigt auf, wie in den dort verwendeten Narrativen Gewalt und unverarbeitete Traumata verschiedener Generationen repräsentiert werden. Das Thema Vaterlosigkeit, dem sich der Beitrag von Lu Seegers widmet, ist seit mehreren Jahrzehnten vor allem in der sozialpsychologisch orientierten historischen Forschung präsent. Anhand von familiären Konstellationen, den Repräsentationen von Vätern in familialen Erinnerungen sowie an Beispielen von sog. Wiedergutmachungsprojekten arbeitet die Autorin die verschiedenen Auswirkungen von kriegsbedingten Vaterverlusten auf die generationellen Beziehungen in Familien aus Ost- und Westdeutschland heraus.

Benjamin Möckels Aufsatz thematisiert die zeitgenössischen Debatten um Jugendliche nach 1945. Dabei geht es ihm weniger um die Frage, ob diese Geburtenjahrgänge ähnliche Kriegserfahrungen teilten und aufgrund dessen als gemeinsame Generation gedeutet werden können. Vielmehr zeigt Möckel auf, wie in den Jugenddiskursen der frühen Nachkriegszeit gesamtgesellschaftliche Schuldlossprechungen und Selbstviktimisierungen in die Metapher einer vermeintlich betrogenen Generation mündeten. Der Werkstattbericht von Andreas Bechthold dokumentiert ein Projekt von Studierenden, die in Deutschland lebende jüdische Jugendliche interviewt haben, und deren Ergebnisse in einer Ausstellung, einem Buch und einem Film dokumentiert worden sind. Fokussiert wurden dabei Fragen nach dem Selbstverständnis der Jugendlichen sowie nach Formen der transgenerationellen Weitergabe, die sich u.a. auf die Partner:innenwahl, das Verständnis von Heimat und die Bedeutung des Holocaust in gegenwärtigen biografischen Selbstdeutungen ausgewirkt haben können.

Insgesamt bietet der Band facettenreiche Einblicke in die verschiedenen Zugangsweisen und Fragestellungen von Generationenforschungen. Mehrere Beiträge verweisen auf das theoretische Schlüsselkonzept des Soziologen Karl Mannheim aus dem Jahr 1928 [1]. Seither ist es vor allem als Erklärungsmodell für die Entstehung historisch-politischer Jugendgenerationen herangezogen worden, etwa für die Wandervogel-, die Kriegskinder-, die Halbstarken- oder die 68er-Generation. Diese werden im vorliegenden Band allerdings nicht näher in den Blick genommen, zumal am Konzept Mannheims kritisch angemerkt worden ist, dass mit seinem Modell nur männliche Heranwachsende erfasst werden, die sich im gesellschaftlich-medialen Raum sichtbar und wirksam generationell formieren konnten. Daran knüpfen erkenntnisgewinnend neuere Ansätze an, die Generationen als kollektive Erinnerungs- und Kommunikationsgemeinschaften von zumeist männlichen Akteuren markieren, die einen privilegierten Zugang zu Öffentlichkeit und Wissenschaft hatten und haben. Über Selbstthematisierungen und Mythenbildungen gelang und gelingt es ihnen, ihre Wirklichkeitskonstruktionen gegenüber anderen Gesellschaftsdeutungen im Nachhinein abzugrenzen. Auch hierzu bietet der Band in mehreren Beiträgen wertvolle Hinweise.

Einen inhaltlichen Schwerpunkt bilden Analysen zur sog. Wendegeneration der DDR. Andere Thematiken, deren wissenschaftliche Erschließung ebenfalls als gewinnbringend eingeschätzt werden kann, sind nicht berücksichtigt bzw. in der Einleitung nur kurz erwähnt: Generationen von Migrant:innen, Jugendliche in Osteuropa oder transnationale genealogische Bezüge, z.B. hinsichtlich der sog. Besatzungskinder. Dies mag auch dem begrenzten Format eines Tagungsbandes geschuldet sein. Wenig treffend ist der Titel des Buches gewählt, der einer dreiteiligen Fernsehserie des ZDF aus dem Jahre 2013 entlehnt ist: Die fünf fiktionalen Schicksale von Angehörigen der jungen Erlebnisgeneration des Zweiten Weltkriegs fesselten ein Millionenpublikum an die abendlichen Bildschirme und könnten falsche inhaltliche Erwartungen bei potentiellen Leser:innen wecken. Als Lektüre eignet sich der Sammelband vor allem für ein interessiertes Fachpublikum, das Kenntnisse in den wissenschaftlichen Grundlagen der Generationenforschung besitzt. Es bleibt zu wünschen, dass die anregenden Diskurse, die hier dokumentiert sind, konstruktive Fortführungen finden.

[1] Karl Mannheim: Das Problem der Generationen. In: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7 (1928), S. 157-185 und S. 309-330.
Wolfgang Gippert (Köln)
Zur Zitierweise der Rezension:
Wolfgang Gippert: Rezension von: Benkert, Volker: Unsere Väter, unsere Mütter, Deutsche Generationen seit 1945. Frankfurt am Main: Campus 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/59350527.html