EWR 3 (2004), Nr. 2 (März/April 2004)

Schriftlichkeit und Bildung im Mittelalter – eine Doppelbesprechung

Cordula Fink
Das Auge kann hören – das Ohr kann sehen
Zur Geschichte mittelalterlicher Sozialisation und Literalität vor der Erfindung des Buchdrucks 1450
Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003
(648 Seiten; ISBN 3-631-50535-3; 97,50 EUR)
Klaus Arnold (Hrsg.)
In Liebe und Zorn
Briefe aus dem Mittelalter. Ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Klaus Arnold
Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag 2003
(215 Seiten; ISBN 3-7995-0113-4; 22,90 EUR)
Wer im Mittelalter lesen und schreiben konnte, ist eine in der mediävistischen Forschung seit langem und immer wieder thematisierte und auch für die Geschichte von Erziehung und Bildung bedeutsame Frage.[1] Versteht man – zumindest für die Gebiete nördlich der Alpen – das Mittelalter als eine Übergangszeit von einer eher oralen zu einer eher an Schriftlichkeit orientierten Kultur, dann sind mit der Frage nach der Literalität weitergehende Fragen verbunden, z.B. nach der Bedeutung von eigenen Institutionen zur Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten, die sich wiederum auf das Aufwachsen sowie auf die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung auswirken.

C. Fink geht in ihrer Heidelberger Dissertation von solchen Fragen aus, spezieller von den – umstrittenen – Thesen des amerikanischen Kulturkritikers Neil Postman, demzufolge die neue schöne Medienwelt den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen verschwinden lasse, weshalb wir auf dem Rückweg in ein Mittelalter seien, in dem eben diese Unterscheidung weder konzeptionell noch alltagspraktisch vorgenommen worden sei. Erst der Buchdruck und die mit ihm einhergehende Verschriftlichung der Welt habe zu einer Trennung von Erwachsenenwelt und Kindheit geführt, die sich über das Lesen- und Schreibenkönnen einstellte.[2]

Nun weiß man, dass Postman kein Mediävist war, sondern sich auf die vorhandene Literatur bezog, in der wiederum das Buch "L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime" von Philippe Ariès eine besondere Rolle spielt(e), das – durch falsche Titelübersetzungen befördert – offensichtlich nicht angemessen rezipiert wurde.[3] Kritik an den Thesen Ariès‘ gab es schon früh, in Deutschland u.a. von Klaus Arnold [4], und die Literatur zu diesem Thema hat in den letzten beiden Jahrzehnten einen bemerkenswerten Umfang angenommen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Fragen, ob es Kindheit im Mittelalter gegeben habe bzw. wie die Einstellung zum Kind ausgesehen hat. Dabei wird Bezug genommen auf verschiedene Quellen: bildliche Darstellungen und vor allem Texte, in denen Lebensalterseinteilungen vorgenommen, Erziehungsratschläge gegeben oder Biografien geschildert wurden.

Im Ergebnis kann man festhalten, dass die These, es habe im Mittelalter keine Kindheit und keine affektiven Beziehungen zwischen Eltern und Kindern gegeben, nicht haltbar ist. Wenn mich nicht alles täuscht, hat Ariès dies auch gar nicht behauptet, wenngleich manche Passagen seines Buches bei oberflächlicher Lektüre zu solcher Interpretation verführen [5], sondern einen differenzierten Blick auf die Herausbildung des modernen Konzepts von Kindheit geworfen, das sich durch eine Psychologisierung und Pädagogisierung auszeichnet und zu einer Verlängerung der Lebensphase Kindheit geführt hat. Für diesen Wandel gab es keinen genau zu benennenden Ursprung, sondern er hat sich in einem langwierigen Prozess vollzogen und sozialgeschichtlich gesehen im alten Europa erst im 20. Jahrhundert zu einem universalen Muster geführt.

Man kann also inzwischen recht nüchtern Ariès‘ Buch selbst historisieren und seine Bedeutung für die intensive Auseinandersetzung mit den Konzepten und der Realität von Kindheit(en) herausstellen. Postman allerdings hat Ariès benutzt, um seine kulturkritische Sicht auf die Gegenwart zu untermauern, wobei er wie viele andere Ariès offenbar nicht richtig gelesen hat. Man mag über die Bedeutung der Thesen Postmans für die Gegenwart streiten – in manchen Momenten drängt sich schon der Eindruck auf, dass weite Teile der heutigen Gesellschaft infantilisiert sind -, sie dezidiert als Ausgangspunkt für eine Darstellung von Sozialisation und Literalität im Mittelalter zu finden überrascht: "Auslöser dieser Arbeit war das Unbehagen an Neil Postmans überaus negativer Einschätzung des Mittelalters ..., insbesondere an [seiner] ... apodiktischen These, Bildung und Erziehung seien erst mit der Erfindung des Buchdrucks gleichsam als ‚Wissensexplosion‘ in die Welt getreten" (Fink, 562).

Davon abgesehen, dass Postman an der von Fink zitierten Stelle (und auch wohl sonst) nicht behauptet hat, "Erziehung und Bildung seien erst mit der Erfindung des Buchdrucks ... in die Welt getreten", sondern lediglich von der Wissensexplosion durch den Buchdruck im Allgemeinen spricht, hat die Autorin einen hohen Beweisdruck aufgebaut, dem sie nicht gerecht wird. Dies zeigt sich schon konzeptionell und begrifflich, wenn sie unter Bildung lediglich Wissen und unter Erziehung – trotz der Referenz auf S. Bernfeld [6] – einen "Prozeß der mit unterschiedlichen Methoden arbeitenden Wissensvermittlung" versteht, wenn bei aller Ausführlichkeit der Auseinandersetzung mit dem Begriff Literalität der Eindruck entsteht, dass die Autorin oft eher von Alphabetisierung spricht, und wenn zwischen literat und literal, zwischen Literalität und "literacy" nicht mehr unterschieden wird.

Die Bezugnahme auf die ökologische Entwicklungstheorie Urie Bronfenbrenners [7] als Rahmen ist gleichfalls überraschend, kann aber gut begründet werden. Leider setzt Fink das damit vorhandene Instrumentarium nur sehr schematisch und oberflächlich ein. Dies hängt auch damit zusammen, dass sie die Quellen ihrer Argumentation recht willkürlich benutzt, in den Zeiten, Textgattungen und sozialen Feldern springt, die schriftlichen Quellen (Hagiografien, Rechtstexte) oft als wirklichkeitsgetreue Aussagen über die Realität interpretiert und zuweilen Aussagen trifft, die mangels Belegen nicht nachvollziehbar sind (137, 238).

In ihrem Impetus, die Bedeutung der Literalität für das Mittelalter zu erweisen, verliert die Autorin insgesamt die Distanz zu ihrem Gegenstand. Niemand wird leugnen, dass Schriftlichkeit auch im Mittelalter eine große Rolle gespielt hat und dass ihre Bedeutung im Laufe der Jahrhunderte immer stärker wurde. Doch bleibt zu berücksichtigen, dass weit über 90 % der Bevölkerung davon ausgeschlossen blieben. Auch in dem von Fink als Untersuchungsgegenstand herangezogenen Adel war die Kenntnis des Lesens und Schreibens lange Zeit randständig, und selbst wenn man lesen und schreiben konnte, hat man dies trotzdem oft Schreibern überlassen.

Letztlich hofft die Autorin am Ende, die "Erkenntnis gestärkt" zu haben, dass "das Mittelalter nicht nur über Kindheit als kategoriale Größe, sondern über eine literale Kultur und Zivilisation sowie über ein europaweites Netz an vielfältigen und der Bildung dienenden Einrichtungen und über literale Menschen verfügte, und dies vor der Erfindung des Buchdrucks" (591). Ersteres hat sie nicht geleistet, da die Arbeit insgesamt ganz andere Schwerpunkte aufweist, letzteres ist als Erkenntnis so neu nicht, dass es dafür fast 600 Seiten bedurft hätte.

Ganz anders kommt der Band mit Briefen aus dem Mittelalter, den der Hamburger Mediävist Klaus Arnold herausgegeben hat, daher. Nicht primär für ein wissenschaftliches Publikum zusammengestellt, zeigen die ausgewählten Briefe sicherlich, dass Lesen und Schreiben auch im Mittelalter eine Rolle gespielt haben. Sie zeigen aber auch die sozialen Gebrauchsweisen und Begrenzungen. In seiner Einleitung nimmt auch Arnold Bezug auf die Frage, wer lesen und schreiben konnte, und er präsentiert mit den ausgewählten privaten Briefen die Welt der Schriftlichkeit im Mittelalter jenseits der Urkunden und Skriptorien. Freilich weist er auch darauf hin, dass man von "nicht eben vielen original erhaltenen ... Privatbriefen" ausgehen könne (Arnold, 12). Also: Schriftlichkeit ja, aber doch in recht engen Grenzen. Dabei zeigt die Auswahl weiterhin, dass auch Frauen des Schreibens und Lesens kundig waren, in welchen Größenordnungen dies zu finden war, bleibt jedoch offen.

Die ausgewählten Briefe thematisieren Alltagsfragen (familiäre Probleme, Heiratspläne, Bewirtschaftung der Güter), Kriegserfahrungen (Briefe aus dem Kreuzzug), religiös-mystische Erfahrungen und die Liebe bis hin zur "‘verbalerotische(n) Kommunikation‘ bei Hofe" (8) im Briefwechsel zwischen Kurfürst Albrecht Achilles und Anna von Brandenburg im 15. Jahrhundert (132 ff.). In vielen Schreiben kommt Sorge und Zuneigung, zuweilen aber auch Kühle, Strenge, gar Abneigung zum Vorschein. Ersteres gilt vor allem in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern (92 ff., 107 ff.), wenngleich der erwähnte "verbalerotische" Kurfürst im Umgang mit seinen Töchtern eher kühl und distanziert reagierte (141 ff.).

Leider erfährt man zu wenig über die jeweiligen Kontexte, aber es handelt sich ja auch nicht um ein Buch für Wissenschaftler, doch erfährt man einiges über das Lesen und Schreiben sowie über die private Kommunikation in Briefen. Die Quellen- und Literaturhinweise laden zu vertiefenden Studien ein. Zuweilen bietet die Begrenzung mehr!

Anmerkungen

[1] Vgl. als Standardtext dazu Wendehorst, A.: Wer konnte im Mittelalter lesen und schreiben? In: Fried, J. (Hrsg.): Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters. Sigmaringen 1986, S. 9-33.
[2] Vgl. Postman, N.: Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt a.M. 1983 (amerik. Originalausg. 1982).
[3] Ariès, Ph: Geschichte der Kindheit. München 1975 (franz. Originalausg. 1960, mit einem selbstkritischen Vorwort in 2. Aufl. 1973). Die englische Übersetzung trug den ebenso missverständlichen Titel "Centuries of Childhood".
[4] Arnold, K.: Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance. Beiträge und Texte zur Geschichte der Kindheit. Paderborn, München 1980.
[5] Vgl. etwa die folgende Passage: "Die mittelalterliche Gesellschaft ... hatte kein Verhältnis zur Kindheit; das bedeutet nicht, daß die Kinder vernachlässigt, verlassen oder verachtet wurden. Das Verständnis für die Kindheit ist nicht zu verwechseln mit der Zuneigung zum Kind; es entspricht vielmehr einer bewußten Wahrnehmung der kindlichen Besonderheit, jener Besonderheit, die das Kind vom Erwachsenen ... kategorial unterscheidet." (Ariès 1975, S. 209)
[6] Bernfeld, S.: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt a.M. 1967 (zuerst 1925). Bernfeld hat bekanntlich unter Erziehung die "Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache" gefasst, und sich damit nicht bzw. nicht primär oder gar ausschließlich auf Wissensvermittlung bezogen. Aus der "Entwicklungstatsache" wird im übrigen bei Fink später zweimal völlig sinnentstellend und -entstellt eine "Erziehungstatsache" (400, 542).
[7] Bronfenbrenner, U.: Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Stuttgart 1981 (engl. Originalausg. 1979).
Klaus-Peter Horn (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Klaus-Peter Horn: Rezension von: Fink, Cordula: Das Auge kann hören – das Ohr kann sehen, Zur Geschichte mittelalterlicher Sozialisation und Literalität vor der Erfindung des Buchdrucks 1450, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/63150535.html