EWR 3 (2004), Nr. 1 (Januar/Februar 2004)

Heinz Sünker
Bildung und soziale Gerechtigkeit
Perspektiven für eine demokratische Gesellschaft
Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003
(192 Seiten; ISBN 3-631-50852-2; 29,80 EUR)
Bei diesem Band handelt es sich um eine Aufsatzsammlung, die aus dem Blickwinkel einer sich selbst als kritisch identifizierenden Bildungstheorie das Verhältnis von Bildung, gesellschaftlichen Prozessen und der "gesamten geschichtlichen Bewegung" (S. 25, 77, 92) untersucht und sich gewissermaßen zwischen einer materialistisch orientierten kritischen Gesellschaftstheorie und einer stark von Hegel beeinflussten Bildungsphilosophie verortet, als deren Apologet des 20. Jahrhunderts Hans-Joachim Heydorn gewürdigt wird. Zwar interpretiert Sünker diesen als materialistischen Bildungstheoretiker, da er Bildung nicht als einen isolierten, sondern als einen in den Machtkampf verstrickten individuellen wie gesellschaftlichen Prozess begreife, dennoch steht der von Hegel in der Phänomenologie des Geistes entwickelte Begriff der Bildung Pate für Heydorns bildungstheoretischen Entwurf der "Totalität der Subjektwerdung" (S. 35, 63), die nach einem mühevollen Gang durch die Entfremdungsinstanzen des Bewusstseins in Aussicht gestellt wird.

Dieser Entfremdungsprozess wird von Hegel auch Arbeit genannt und schlägt sich nieder in Marx’ Theorie der entfremdeten Arbeit. Entfremdung, die für den Arbeiter in ihrer ganzen Totalität erfahren wird, kann, abgelöst von der individuellen Bildungsgeschichte, nicht aufgehoben werden, sondern muss als individueller Emanzipationsanspruch sich im Alltag des arbeitenden Menschen niederschlagen. Diese von Feuerbach gegen die spekulative Philosophie Hegels gestärkte Position der Bewusstseins- und Wahrnehmungsperspektive des wirklichen Menschen, dem es im täglichen Überlebenskampf der bürgerlichen Gesellschaft zunächst einmal um die Sicherstellung seiner leiblichen Existenz geht, wird von Marx aufgenommen und zu einem Entwurf gesellschaftlicher Praxis erweitert, die auf der Grundlage einer gerechten Verteilung gesellschaftlich erzeugten Wohlstands, das Humanisierungsprojekt der Aufklärung und Moderne auf den Weg bringen könnte. Dieses Humanisierungsprojekt ist aus dem Blickwinkel einer Kritischen Bildungstheorie schlechterdings nur als langfristiger Selbstbefreiungsprozess zu denken, dessen Gelingen aber nicht garantiert bzw. kalkuliert werden kann. Durch diese Ungewissheit ist einerseits das spekulative Potential einer jeglichen Bildungstheorie begründet, dessen sie sich auch nicht in einem materialistischen Gewand entziehen kann, andererseits birgt dieses dem Humanisierungs- und Bildungsprojekt innewohnende spekulative Potential aber auch einen utopischen Ausblick auf eine versöhnte und befriedete Gesellschaft, in der die Verteidigung der individuellen Menschenwürde als Verteidigung der Menschheit bzw. des Humanisierungsprojekts begriffen würde (vgl. S. 98).

Hauptanliegen dieser Aufsatzsammlung scheint es zu sein, am Beispiel Heydorns, den Sünker als den "inspirierendsten Bildungstheoretiker" des 20. Jahrhunderts charakterisiert, Grundzüge einer Kritischen Bildungstheorie darzustellen, die sich einerseits machtvoll gegen die apokalyptischen Reiter der Postmoderne stemmt (Kap. VI), andererseits aber auch nicht der bürgerlichen Bildungsideologie verfällt, die Auschwitz nicht verhindern konnte, sondern womöglich beförderte (Kap. IX und X). Eine Kritische Bildungstheorie, gereinigt vom unreflektierten Pathos der Aufklärung, aber am normativen Kern des Projekts der Moderne festhaltend (vgl. S. 88), erscheint dann auch nicht mehr als Bildungsphilosophie, sondern als Bildungssoziologie, die vor allem die Stellung der Bildung zwischen Markt und Macht (Kap. II) zu beleuchten habe. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, stellt Bildungstheorie gewissermaßen das strategische und logistische Instrumentarium einer Bildungspolitik bereit, die erstens dem Anspruch der Allgemeinbildung unterworfen ist und zweitens einen Zugang zur Bildung für alle ermöglicht. Ob die Verortung der Bildungstheorie im Department of Politics and Sociology of Education (S. 29) allerdings ausreicht, um sie als kritisch zu definieren, sei dahingestellt angesichts eines, mit Simmel gesprochen, unverdinglichten Rests, der Bildung kraft ihres unveräußerlichen Anspruchs der Autonomie des Subjekts unabdingbar anhaftet. Ausschließlich übersetzt in eine bildungspolitische bzw. bildungssoziologische Funktionslogik, büßt Bildungstheorie nämlich nicht nur ihren spezifischen "normativen Kern" ein, sondern vor allem ihr kritisches Reflexionspotential, das sich zunächst um einen kritischen, nicht-affirmativen Begriff von Bildung bemühen würde, bevor sie Bildungsökonomen ans Werk ließe, die uns vorrechnen, was "machbar" und bezahlbar wäre.

Kritisch ist Bildungstheorie nicht automatisch dadurch, dass sie Marx’ Theorie der entfremdeten Arbeit oder Adornos Theorie der Halbbildung aufnimmt, beide Theoriestücke durch Bourdieu und Lefebvre filtert und unter Einschluss von Hegels Rechtsphilosophie in Heydorns Bildungstheorie als das non plus ultra emphatisch zusammenführt. Nicht nur bleiben im Zuge einer rasterhaften, mechanistischen Analysearbeit wichtige Theorieelemente verborgen, die den zugrunde gelegten Entwürfen Pate stehen - so wird etwa Feuerbach als Begründer einer "Theorie des totalen Menschen" (S. 49) überhaupt nicht berücksichtigt und Kant erscheint nur am Rande als Verfasser einer mehr schlechten als rechten Vorlesung über Pädagogik (S. 169-170), nicht aber als Kritiker eines dogmatischen Erkenntnisstandpunkts, der für die Kritische Theorie insgesamt federführend wurde. Darüber hinaus verleitet eine mechanistische Arbeitsweise, die im Grunde genommen die Antworten immer schon kennt, den Interpreten dazu, eine einseitige Sichtweise auch gegenüber jenen Theoretikern zu entwickeln, die doch eigentlich als Bürgen für einen kritischen Erkenntnisstandpunkt herangezogen werden.

So ist m. E. unverständlich, weshalb Heydorns Bildungstheorie um ihr eschatologisches Element verkürzt wird, welches nicht nur ihre Verbindung vor allem zu Hegels Jugendschriften offen gelegt hätte, sondern auch Heydorns Bodenhaftung im existentialistischen Zeitgeist, den beispielweise Adorno im "Jargon der Eigentlichkeit" vehement attackierte. Wahrscheinlich hätte sich Heydorns Eschatologie unverträglich gezeigt sowohl mit einer soziologischen, als auch mit einer materialistischen Definition von Bildungstheorie, weshalb sie sozusagen unter den Tisch fallen musste und mit ihr die gesamte Idee der Bildung, die aus der Perspektive des kritischen Kant eben nicht deckungsgleich mit einem schwärmerischen Ideal ist, wie Sünker annimmt (S. 175), sondern als theoretisches Konstrukt an die Gesetze des Verstandes, der Logik gebunden ist, durch welches sich das Faktum der Vernunft wie auch die absolute Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes erklärt. Geht es, wie Sünker anmahnt, im Kontext einer kritischen Bildungstheorie auch immer um "das Problem eines umfassenden Begriffs von Vernunft", dann muss solche Arbeit am Begriff auch geleistet werden, welches ohne Bezugnahme auf die "große Philosophie", wie sich Adorno in seinen Hegelstudien ausdrückt, wohl kaum gelingen kann.

Ebenso spricht es nicht unbedingt für eine kritische Rezeption des Heydornschen Bildungsbegriffs, wenn Heydorns Rückgriff auf die Mäeutik umstandslos einer Pädagogik "wechselseitiger Anerkennung" (S. 77) zugeordnet wird, als bestünde die Logik der mäeutischen Methode nicht gerade darin, nur solche Fragen beim Schüler hervorzubringen, deren Antworten immer schon feststehen, denn die Wahrheit, auf die der platonische Dialog zielt, muss nicht gefunden, sondern nur wiedergefunden werden. Insofern ist die von Sünker mehrfach als kritisch apostrophierte Mäeutik (vgl. S. 34 und S. 51) alles andere als eine Methode des "consciousness-raising" (S. 18) zur Förderung eines differenten, aber verallgemeinerbaren "Ausdrucks- und Unterscheidungsvermögens" (S. 177); vielmehr liegt der Mäeutik eine affirmative, normative Pädagogik zugrunde, die der Ambivalenz der Moderne zutiefst widerspricht und diese geradewegs in die Arme eines wertekonservativen, traditionsbewussten Neoliberalismus drängt, dem die gesellschaftliche Reproduktion angepasster Leistungsträger als höchstes Ziel der Bildung gilt. Hier hätte eine kritisch sich verortende Bildungstheorie, die sich jeglichem Positivismus von Hause aus entzieht, unbedingt zu intervenieren, statt ein Lehrverfahren zu favorisieren, das den Dialog eigentlich nur zum Schein betreibt und im Zuge eines tendenziell reproduktiven Lernens gesellschaftlich etablierte Machtstrukturen vollends verfestigt.

Nun ist es immer schwierig, eine Aufsatzsammlung zu rezensieren, die naturgemäß keine innere Systematik aufweist und daher umso mehr von der thematischen Rahmung abhängt. Diese ließe sich beschreiben als ein Plädoyer für Bildung im Sinne eines Konstituierungsprozesses des Subjekts und seiner Urteilskraft (vgl. S. 177), die erforderlich erscheint im Hinblick auf die "Verteidigung des Projekts der Moderne" (S. 84) gegen postmoderne Positionen, die ein Ende der Geschichte oder den Tod des Subjekts verkünden. Schneiden dann auch noch deutsche Schüler im internationalen Schulvergleich schlecht ab, werden diese Befragungsergebnisse, wie Sünker gegen die Autoren der Pisa-Studie kritisch anmerkt, als sicheres Indiz eines unausweichlichen Kulturverfalls gedeutet, der ebenso unausweichlich erscheint wie die Benachteilung von Kindern aus unteren sozialen Schichten (vgl. S. 10). Demgegenüber versteht Kritische Bildungstheorie die gesellschaftliche Klassenstruktur nicht als naturwüchsiges Schicksal, sondern als einen historisch gewachsenen und demzufolge auch veränderbaren Ordnungszusammenhang. Dessen Dynamik hängt wiederum von der Diskurs- bzw. Demokratiefähigkeit der Bürger ab, ihre Interessen kompetent zu vertreten, weshalb das Bildungsprojekt unweigerlich mit dem Demokratisierungsprozess der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt (vgl.S.177).

Wie oben bereits herausgearbeitet, steht im Mittelpunkt der von Sünker vorgelegten Aufsatzsammlung Heydorns Bildungstheorie und deren Anschlussfähigkeit für den gegenwärtigen, von postmodernen Strömungen dominierten Diskurs um ein zeitgemäßes Konzept von Bildung. Heydorns Anschlussfähigkeit wird an Hand unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen z. B. aus der Perspektive der Bildungsökonomie oder Bildungspolitik in zehn Kapiteln überprüft und m. E. auch unter Beweis gestellt - ungeachtet der von mir oben bereits angemerkten Verkürzung der Heydornschen Bildungstheorie um ihre spekulativen Momente. Diese zu bearbeiten, hätte den Ansatz Heydorns gegenüber dem postmodernen "Dandytum" (vgl. S. 86), auch innerhalb des sich zunehmend ausdifferenzierenden Wissenschaftsbetriebs, sicher nicht geschwächt, sondern im Gegenteil resistent gemacht gegen den in allem Pragmatismus lauernden Positivismus.

Dass eine Auseinandersetzung mit Heydorns Bildungstheorie, einschließlich der darin eingearbeiteten klassischen Idee der Bildung, für den gegenwärtigen bildungstheoretischen Diskurs um die Bedingungen der Möglichkeit von Bildung fruchtbar sein kann, wird von Sünker überzeugend vorgetragen und durch referierende Passagen rund um die zentralen Positionen anschaulich gemacht. Gelegentlich wiederholt sich das bearbeitete Material, so dass beim Leser der Wunsch nach einer systematischen Verbindung der Einzelbeiträge entsteht, wodurch manche Wiederholung dem Rotstift zum Opfer fiele, zugunsten eines roten Fadens, der die Eckpunkte einer Kritischen Bildungstheorie strukturell zur Anschauung brächte. Trotz der im ersten und letzten Kapitel dokumentierten Rahmung der Einzelbeträge unter Begriffe wie Bildung, Politik, Demokratie und soziale Gerechtigkeit, bauen diese nicht aufeinander auf, sondern fangen gewissermaßen immer wieder bei Null an und transportieren ihre Ergebnisse nicht in den nächsten Abschnitt weiter. Dadurch entsteht der Eindruck einer gewissen Gleichförmigkeit der Argumentation, der sich aber erst in der Zusammenschau der Einzelbeiträge auftut, die, jeder für sich genommen, einzigartig sind im Spektrum der gegenwärtigen Tagungskultur, innerhalb derer das bloße Zitieren eines Marx oder Engels den Redner entweder als noch nicht im Zeitgeist angekommen brandmarkt oder als geistigen Ziehvater des Terrors. Daher ist es Sünker zu danken, dass er neben Heydorns Theorie der Bildung Marx’ Theorie der entfremdeten Arbeit bearbeitet und dadurch vor allem dem jungen Leser einen ganz anderen Blick auf das "Projekt der Moderne" ermöglicht. So ist diese Aufsatzsammlung durchaus zur Lektüre zu empfehlen und erinnert an Theoriestücke, deren Hypothesen, wie etwa die Totalität der Entfremdung oder der Verdinglichung des Bewusstseins, aus der gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbruchsituation ihre eigentliche Beweiskraft erst ziehen.
Ursula Reitemeyer (Münster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ursula Reitemeyer: Rezension von: Sünker, Heinz: Bildung und soziale Gerechtigkeit, Perspektiven für eine demokratische Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 1 (Veröffentlicht am 05.02.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/63150852.html