EWR 5 (2006), Nr. 6 (November/Dezember)

Dieter Kirchhöfer
EnttÀuschte Hoffnungen
Reflektierte Selbstkommentierungen von SchĂŒlern in der Wende
(Kindheiten, Bd. 28)
Weinheim, MĂŒnchen: Juventa 2006
(270 S.; ISBN 3-7799-0248-6; 28,00 EUR)
EnttĂ€uschte Hoffnungen Man weiß immer noch wenig ĂŒber die Auswirkungen der „Wende“ auf die Biografien von Kindern wie Erwachsenen in der DDR. Über die unmittelbaren Transformationsprozesse hinaus sind auch langfristige Folgen dieses alle Lebensbereiche berĂŒhrenden gesellschaftlichen Umbruchs von Interesse. Kirchhöfer muss somit sein Unternehmen nicht rechtfertigen (vgl. 9). Nun waren diejenigen, die im Mittelpunkt seiner Studie stehen, 1989/90 gerade einmal 10 bis 15 Jahre alt. Die „Wende“ war Teil ihrer Kindheitssozialisation in einem Staat, der in seinem letzten Jahrzehnt immer instabiler wurde und von Jahr zu Jahr an Legitimation verlor – letzteres auch wegen der Zukunftsperspektiven fĂŒr die Kinder. Eine Untersuchung der Frage, ob die „Mauerfallkinder“ Subjekte oder „Objekte eines fremden Gestaltungswillens“ (13) waren, muss diese spezifischen Sozialisationsbedingungen berĂŒcksichtigen. So kam ein vergleichbares Projekt zur Wahrnehmung der „Wende“ bei Ostberliner SchĂŒlern zu dem Ergebnis, dass die „erstarrte DDR-Gesellschaft“ in dieser Altersgruppe „eine RationalitĂ€t des Handelns erzeugt hatte, die sich in den radikalen Umbruchsprozessen bewĂ€hrte“ [1].

Dieter Kirchhöfer untersucht „VerĂ€nderungen in den Reflexions- und Wertungsmustern ostdeutscher SchĂŒler in den Jahren 1989-92“ (7). Zwischen Dezember 1989 und April 1990 wurden in sechs StĂ€dten der DDR ca. 1200 SchĂŒler der 5. bis 12. Klasse aufgefordert, in einem Schulaufsatz „ihre Meinung zu den gesellschaftlichen VerĂ€nderungen im Lande zu formulieren“ (23). 1990 und 1992 sollten sie ihre Texte erneut kommentieren. Die dritte Erhebung, in der noch 172 Texte von SchĂŒlern der GeburtsjahrgĂ€nge 1974-79 aus Greifswald, Neubrandenburg, Berlin, Strausberg und Leipzig ausgewertet wurden, fand die SchĂŒler schon nicht mehr in der DDR-Einheitsschule.

Ob das Vorhaben bereits 1989 als LĂ€ngsschnittuntersuchung geplant war, erfĂ€hrt der Leser leider nicht. Falls ja, dann lĂ€sst das schöne Marx-Zitat („Jede Revolution löst die alte Gesellschaft auf; insofern ist sie sozial. Jede Revolution stĂŒrzt die alte Gewalt; insofern ist sie politisch“) als Aufsatzthema der 11. und 12. Klassen (25) aufhorchen: Es zeigt – wie die Themen „Meine Gedanken, WĂŒnsche und TrĂ€ume zu den VerĂ€nderungen in unserem Lande“ (5.-7. Klasse) und „Mein Leben in und mit der Wende“ (8./10. Klasse) –, dass ein Ende der DDR nicht erwartet, vielleicht sogar jetzt erst ein ‚wirklicher Sozialismus‘ erhofft wurde. Was im Nachhinein als kontinuierlicher Forschungsprozess erscheint, muss somit selbst erheblichen VerĂ€nderungen unterlegen gewesen sein.

Etwas Aufschluss gibt der eingangs zitierte Text eines 15-JĂ€hrigen: „Außerdem stört mich, dass wir die Aufgabe von unserer Lehrerin gestellt bekommen haben. FrĂŒher waren doch auch dauernd Leute von der APW an unserer Schule, und jetzt kriegen die es nicht mal fertig uns ihre WĂŒnsche selbst zu sagen“ (9). Die Akademie der pĂ€dagogischen Wissenschaften der DDR als Auftraggeber wĂŒrde erklĂ€ren, dass im beschriebenen Umfang SchulaufsĂ€tze angeordnet werden konnten. Mit dem Zitat („Wie naiv sind eigentlich diese Leute, dass sie glauben, wir wĂŒrden von heute auf morgen genau das lernen, was sie uns jahrelang verboten haben? NĂ€mlich: frei reden [...]“, ebd.) leitet Kirchhöfer pointiert die Frage ein, die sich auch der Leser stellt: Welche Reflexionsmöglichkeiten (und -fĂ€higkeiten) waren im Erhebungskontext zu erwarten?

Im Kapitel 1 verortet Kirchhöfer die Untersuchung im „öffentlichen Diskurs zu einer Generation der Wendekinder“. Er fragt, ob der Umbruch von 1989 „als generationsprĂ€gendes Ereignis“ erfahren wurde (10), findet das aber nicht bestĂ€tigt: „Systemkrise, Zusammenbruch der Gesellschaft und ihrer Utopien, Vereinigung und Triumph des kapitalistischen Systems und erneute Entillusionierung wurden [...] nicht als gemeinsame Erfahrung erlebt“ (13). Das begrĂŒnde sich aus sozialen und regionalen Differenzen bzw. unterschiedlichen ErfahrungshintergrĂŒnden.

Überraschend ist zunĂ€chst die – nicht nur seiner Forschung – zugrunde liegende Annahme, es habe solche Differenzen nicht gegeben. Die normative Sicht auf die „Wende“ und das recht ungenaue Generationskonzept („dass die im Kindesalter erfahrenen PrĂ€gungen die Tendenz haben, sich als natĂŒrliches Weltbild mit seinen Mustern festzusetzen"; 11) lassen jedoch Aussagen ĂŒber eine potentielle Generationsbildung schwerlich zu [2]. Kirchhöfer hatte eine – politische – „Wendekindergeneration“ vermutet, die „als 20- bis 25jĂ€hrige vielleicht ein besonderes Protestverhalten zeigen wĂŒrde“ (11). Das zumindest war wohl eine Illusion.

Kapitel 2 widmet sich der „Methode der reflektierenden Selbstkommentierung“, mit der Einblicke in IdentitĂ€tsbildungsprozesse gewonnen werden sollen. Die OriginalitĂ€t des Ansatzes liegt darin, die Produktion schriftlicher Texte zu initiieren, auf die – wiederum schriftlich – in zeitlichen AbstĂ€nden reflektierend Bezug genommen wird. Die mehrfache Selbstkommentierung zwinge zur Korrektur „vorschnelle[r] und einseitige[r] Urteile“, das Individuum sei gezwungen, „seine IdentitĂ€t zu konstruieren, zumindest aber zu befragen“ (23). Die Auswertung der Texte erfolgte anhand einer Deskriptorenliste (z.B. „Lehrer-SchĂŒler-Beziehung“, „Einheit/Vereinigung“, „Arbeitslosigkeit“; 27) und der Ermittlung von „NennenshĂ€ufigkeiten“ (28) sowie einer anschließenden „Klassifikation der Wertungen“ der schulischen bzw. gesellschaftlichen VerĂ€nderungen („kritischnegierend“, „affirmativ-bejahend“, ambivalent wertend“; 30ff.). Der eigentliche qualitative Zugang beginnt mit der Ermittlung „kommunikative[r] Reflexionsmuster“ (43). Methodisch beruft sich der Autor dabei auf eigene Vorarbeiten.

Kapitel 3 („Die erkennbaren Reflexionsmuster“) konfrontiert den Leser recht unvermittelt mit Ergebnissen: Die drei Erhebungen folgten – dem Autoren zufolge – den Mustern „UngezĂŒgelte Hoffnung“, „Entillusionierende RealitĂ€tserfahrung“ und „Gespaltene Wahrnehmung“. Unterschieden werden „Reflexionsmuster individueller Befindlichkeit“ und „Reflexionsmuster gesellschaftlicher RealitĂ€t“. Das Kapitel ist mehr als eine Analyse. Es ist ein Dialog des Forschers mit seinen Probanden: ĂŒber die DDR, ĂŒber die Perspektiven der deutschen Einheit, ĂŒber LebensentwĂŒrfe von Kindern und Jugendlichen. FĂŒr Kirchhöfer ist die Zeit der dritten Erhebung „durch eine zunehmende Konsolidierung kapitalistischer VerhĂ€ltnisse in Ostdeutschland charakterisiert“ (49), und er scheint fast ĂŒberrascht von der „Akteursperspektive“ (51) und dem „Optimismus“ als „Grundbefindlichkeit“ (53) der SchĂŒler, da diese doch „den individuellen SubjektivitĂ€tsanspruch unter entfremdeten sozialen VerhĂ€ltnissen realisieren mĂŒssen“ (55). Seine Annahme, dass die SchĂŒler „vor allem die destruktiven Wirkungen des Umbruchs reflektieren und einen regelrechten ErnĂŒchterungsschock erleben wĂŒrden, war nicht haltbar“ (49f.). Die Beurteilungen der individuellen und der gesellschaftlichen Perspektive gehen zwar – wie in anderen Jugendstudien – oft auseinander, ob fĂŒr letztere aber deswegen schon die „enttĂ€uschte Hoffnung als grundlegende Disposition“ (58) gilt, erscheint nur bedingt plausibel. Den Charakter einer „Ent-tĂ€uschung“ hat zweifellos die wachsende Einsicht, dass die Teilhabe an den Segnungen der Markwirtschaft begrenzt ist – kaum ein Text, in dem nicht die drohende bzw. eintretende Arbeitslosigkeit der Eltern und das ZurĂŒckschrauben von AnsprĂŒchen thematisiert ist. Ein möglicherweise damit verbundener Zugewinn an Reflexion oder auch unterschiedliche BewĂ€ltigungsstrategien lassen sich jedoch vermutlich erst aus grĂ¶ĂŸerer zeitlicher Distanz bestimmen.

Im Kapitel 4 sind die „kommentierten Selbstzeugnisse“ umfangreich abgedruckt (185 von 270 Seiten). SchulaufsĂ€tze sind das nicht – man merkt den Texten an, dass ihre Verfasser MĂŒhe hatten, die auf sie einströmenden EindrĂŒcke zu ordnen. Dass die „Wende“ fĂŒr die meisten SchĂŒler eine Anomieerfahrung darstellte, teilt sich sofort mit. Hat man vor Augen, dass sich viele FĂŒnft- und SechstklĂ€ssler „Westzeitungen“ (die BRAVO), „Konzerte von Pop-SĂ€ngern“, „schicke Klamotten“ und bessere Autos gewĂŒnscht haben – nach ihren „WĂŒnschen“ wurden sie ja gefragt – relativiert sich jedoch Kirchhöfers primĂ€re Deutung einer erzwungenen politischen Um- oder Neuorientierung. Dass die Jugendlichen die „Wendezeit“ als Zeit der WĂŒnsche erlebt haben, hat hingegen eine ganz eigene Aussagekraft. Die alltagskulturelle Dimension bleibt bedauerlicherweise aus der Analyse ausgeklammert.

Kaum nachvollziehbar ist die Behauptung, die SchĂŒler hĂ€tten ĂŒber Eltern, Familie und Freunde „kaum reflektiert“ (25). Von „Wir fahren einen Citroen“ (53) bis zu „Ich forderte nieder SED, Freie Wahlen und Aufdeckung der Verbrechen“ (164) – die Familien sind durchgĂ€ngig prĂ€sent. In Hoffnungen wie BefĂŒrchtungen bilden sie die Folie fĂŒr die SchĂŒleraufsĂ€tze, auch wenn die SchĂŒler ihre Eltern (im Gegensatz zu den Lehrern) nicht bewerten. Auffallend ist die hohe Identifikation mit den Eltern, die als einzige als Garanten von StabilitĂ€t erscheinen.

Auf eine hermeneutische Textanalyse wurde verzichtet, weil „die Zielstellung der Untersuchung es nicht erforderlich machte“ (42). Lohnend wĂ€re es allemal gewesen. Das beginnt schon bei den Einleitungen der Texte, die – offenbar unterschiedlich normiert (z. B. Greifswald: „Es passiert viel in unserem Land, auch wir möchten unsere Meinung Ă€ußern“, 83ff.; Neubrandenburg: „Meine Gedanken...“, 194ff.) – Fragen nach differenten Aufgabenstellungen, deren Deutungen und textstrukturierenden Wirkungen aufwerfen. Welches kommunikative Reflexionsmuster ist erkennbar, wenn ein SiebtklĂ€ssler pragmatisch eine Tabelle mit den Rubriken „Gedanken“, „WĂŒnsche (TrĂ€ume)“, „Erfahrung“ fertigt, um unter die Stichwortsammlung dann „Alles Scheiße!“ zu setzen (183)?

Die vorgestellte Erhebungsmethode eröffnet Möglichkeiten, die ĂŒber herkömmliche Befragungsmethoden hinausgehen, indem Textformen erzeugt werden, die eine NĂ€he zu Brief oder Tagebuch zeigen. Diese maßgeblich auf der Basis von HĂ€ufigkeitsverteilungen auszuwerten, erscheint im Hinblick auf Aufwand und Ergebnis unbefriedigend. Hier hĂ€tte es auch eine standardisierte Fragebogenerhebung getan. Kommunikative Reflexionsmuster lassen sich hingegen nur rekonstruieren, indem man sich – bei BerĂŒcksichtigung der Trias von Sender, Medium und EmpfĂ€nger – auf die Texte analysierend einlĂ€sst, um die Bedeutungen zu lesen und zu verstehen, die die Verfasser der „Wende“ und ihrer eigenen Rolle in diesem Prozess gaben. Das schĂŒtzt auch vor EnttĂ€uschungen eigener Erwartungen und einer Instrumentalisierung der Texte fĂŒr einen nicht die Lebenswelt der 10- bis 15-jĂ€hrigen reprĂ€sentierenden Diskurs („In den Texten wurden Aussagen nahezu ohne Reflexion der eigenen Stellung im vergangenen System wiedergegeben, die SchĂŒler gaben sich nicht als FunktionstrĂ€ger zu erkennen, sie hatten scheinbar ohne Ämter, ohne Verantwortung agiert [...]“; 26). Die gnadenlos korrekte Wiedergabe der Orthographiefehler, die zeigt, dass die SchĂŒler schneller dachten, als sie ihre Gedanken aufschreiben konnten, erschwert ĂŒbrigens das Lesen und wirkt teilweise beschĂ€mend. Eines machen die „wiederholten Selbstkommentierungen“ der Jugendlichen in jedem Fall deutlich: Diese Untersuchungsgruppe dĂŒrfte auch kĂŒnftig noch von einigem Interesse sein.

[1] Stock, Manfred/Tiedtke, Michael (1992): SchĂŒler erfahren die Wende. Schuljugendliche in Ostdeutschland im gesellschaftlichen Transformationsprozess. Weinheim, MĂŒnchen, S. 13.

[2] Vgl. Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen. In: Ders. (1964): Wissenssoziologie. Berlin/Neuwied, S. 536. Mannheim spricht von „der ersten Jugendzeit“ und sieht die potentielle Generationsbildung mit der gewonnenen ReflexivitĂ€t zwischen dem 17. und 25. Lebensjahr (S. 538f.).
Petra Gruner (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Petra Gruner: Rezension von: Kirchhöfer, Dieter: EnttĂ€uschte Hoffnungen, Reflektierte Selbstkommentierungen von SchĂŒlern in der Wende (Kindheiten, Bd. 28). Weinheim, MĂŒnchen: Juventa 2006. In: EWR 5 (2006), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2006), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/77990248.html