EWR 1 (2002), Nr. 2 (April/Mai 2002)

Ulrich Herrmann / Karin Priem (Hrsg.)
Konfession als Lebenskonflikt
Studien zum württembergischen Pietismus im 19. Jahrhundert und die Familientragödie des Johannes Benedikt Stanger
Weinheim und München: Juventa Verlag 2001
(407 Seiten; ISBN 3-7799-1125-6; 35,00 EUR)
 Konfession als Lebenskonflikt Hervorgegangen ist diese Publikation, die nach mehreren Ankündigungen letztes Jahr erschien, aus dem Tübinger Forschungsprojekt "Kindheit und Jugend vor dem Ersten Weltkrieg". War es im ersten Teil um die weltliche Bauern-Arbeiter-Gemeinde Ohmenhausen bei Reutlingen gegangen[1], bildete jetzt das konfessionell geprägte Milieu den Gegenstand[2]. Daß letztlich die Brüdergemeinde Wilhelmsthal bei Ravensburg, eine erwecklich-pietistische Dorfneugründung der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts, ins Zentrum der Publikation rückte, lag an einem archivalischen Fund: dem von einem Nachfahren dokumentierten und der Forschungsgruppe überlassenen Briefwechsel zwischen dem Wilhelmsthaler Johann Benedikt Stanger (1838-1906) und seinen Angehörigen, vor allem den Eltern, sowie seinem ehemaligen Lehrer Thumm. Diese Briefe bilden den Hauptteil des Buches, dem fünf Beiträge als Einführung vorangestellt sind.

Der erste Beitrag ist der einzige, in dem der Briefwechsel untersucht wird. Dargestellt werden Stangers Ausbruch aus dem "Lebens- und Gedankenkreis des württembergischen Pietismus" sowie seine Heimat Wilhelmsdorf und die Herkunftsfamilie und abschließend wird, den Buchtitel aufnehmend, die pietistische Frömmigkeit als Lebenskonflikt, Stanger spricht von "Religionskrieg", gedeutet (Ulrich Herrmann). Die beiden nächsten Texte nehmen religions- und sozialhistorische Kontextualisierungen vor, indem die Frühgeschichte Wilhelmsdorfs dargestellt werden und die für den schwäbischen Pietismus prägenden, historisch unterschiedlich ausgeformten Endzeiterwartungen (Andreas Gestrich). Die letzten beiden Beiträge sind historisch-pädagogisch angelegt und resumieren breitere Studien: Zuerst werden, auf der Grundlage von Gesprächen, Erziehung und Sozialisation in Wilhelmsdorf um 1900 untersucht (Eckart Schultz-Berg) und dann ein spezifischer Teil württembergisch-pietistischer Erziehung analysiert, die Korrektion verwahrloster Kinder in den Rettungshäusern (Karin Priem).

Der Hauptteil mit dem Briefwechsel umfaßt 105 Briefe aus den Jahren 1853 bis 1875, davon ein Drittel aus Stangers Feder. Dokumentiert wird der schwierige, von Rechtfertigungen, Selbstzweifeln, Trotz begleitete Weg Stangers aus seinem engen Herkunftsmilieu, in dem schon Schillerlektüre unter Sündenverdacht stand. Dieser Weg nach draußen verlief in sechs in Einleitungen kurz erläuterten Etappen über ein Schullehrerseminar der württembergischen Erweckungsbewegung und zwei Hilfslehrerstellen, zuerst in einem württembergischen Dorf, dann im schweizerischen Hauptwil, gefolgt von zwei Privatlehrerstellen, ebenfalls in der Schweiz (in einer davon machte Stanger in einer großbürgerlichen Familie die befreiende Erfahrung, daß Frömmigkeit und Weltoffenheit sich nicht ausschließen müssen) und endete schließlich im englischen Lancaster, wo Stanger bis zu seiner Pensionierung 1888 Französisch und Deutsch unterrichtete und 1906 starb.

Wie freudlos und hart es im pietistisch-erwecklich württembergischen Sozialmilieu des 19. Jahrhunderts zuging, vermittelt sich darin, daß die Lektüre dieses Briefwechsels wirklich beschwerlich ist: so erscheint die Mutter, bei aller gelegentlichen Sorge um so handfeste Dinge wie Socken oder warme Kuhmilch, vor allem besessen davon, den Sohn zur Wiedergeburt, zum rechten Glauben zu bringen. Der Sohn antwortet mal in rationaler Argumentation, mal trotzig, mal zerknirscht, mal kitschig à la Gartenlaube und bleibt dabei, daß er anders als seine Familie leben und vor allem fromm sein wolle. Hier von "Familientragödie" zu reden, so der Untertitel, changiert mir etwas sehr ins Melodramatische. Schließlich hat Stanger ja mit zunehmender Entfernung von Wilhelmsdorf zu einem ihm zusagenden Leben gefunden. Eher scheint es sich um die Ablösungs- bzw. Absetzungsbewegungen eines Sohnes zu handeln, in denen familiäre Verständigungsprobleme am Religiösen festgemacht werden, weil dies zumindest für die Eltern die einzige für Gefühle zur Verfügung stehende Sprache darstellt.

Wer sich in Zukunft mit konfessioneller, zumal schwäbisch-pietistischer Sozialisation beschäftigen wird, wird auf dieses Buch zurückgreifen. Es enthält einen sorgfältig kommentierten, exemplarischen Briefwechsel und fünf informative Beiträge, die unterschiedliche Perspektiven auf dies spezifische konfessionelle Sozialisationsmilieu eröffnen. Allerdings bleiben diese Einführungsbeiträge merkwürdig additiv, ohne wirklichen Bezug aufeinander; auch ist zu vermuten, daß der redundante Briefwechsel durch Kürzungen gewonnen hätte.

Anmerkungen:

[1] Vgl. Andreas Gestrich: Traditionelle Jugendkultur und Industrialisierung. Sozialgeschichte einer ländlichen Arbeitergemeinde Württembergs, 1800-1920. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 69). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986; Susanne Mutschler: Ländliche Kindheit in Lebenserinnerungen. Familien- und Kinderleben in einem württembergischen Arbeiterbauerndorf an der Wende vom 19. Zum 20. Jahrhundert. (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Bd. 64). Tübingen 1985
[2] Vgl. Karin Priem: Die Geschichte der evangelischen Korrektionsinstitution Rettungshaus in Württemberg (1820-1918). Zur Sozialdisziplinierung verwahrloster Kinder. (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 53). Köln, Weimar, Wien: Böhlau 1994.
Pia Schmid (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Pia Schmid: Rezension von: Herrmann, Ulrich / Priem, Karin (Hg.): Konfession als Lebenskonflikt, Studien zum württembergischen Pietismus im 19. Jahrhundert und die Familientragödie des Johannes Benedikt Stanger, Weinheim und München: Juventa Verlag 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 2 (Veröffentlicht am 00.04.2002), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/77991125.html