EWR 1 (2002), Nr. 3 (Juli 2002)

Ulrich Herrmann (Hrsg.)
Protestierende Jugend
Jugendopposition und politischer Protest in der deutschen Nachkriegsgeschichte
Weinheim und München: Juventa Verlag 2002
(496 Seiten; ISBN 3-7799-1132-9; 45,00 EUR)
Protestierende Jugend Die Beiträge des Bandes gehen überwiegend auf Vorträge zurück, die auf einer Konferenz des Arbeitskreises für Historische Jugendforschung im Jahre 1995 gehalten worden sind. Ein großer zeitlicher Abstand zwischen Vortrag und Veröffentlichung ist zwar bei Tagungsbänden nicht ungewöhnlich (und in diesem Fall durch das gesundheitsbedingte Ausscheiden des Mitherausgebers Michael Buddrus zusätzlich begründet), er hat jedoch seine Kosten: Nicht nur, dass drei der Autoren mittlerweile verstorben sind, einiges von dem, was man hier lesen kann, ist inzwischen an anderer Stelle in ausführlicherer Form erschienen.

Dennoch: Der Ansatz der Veranstaltung und des sie dokumentierenden Bandes hat seinen innovativen Charakter darüber nicht eingebüßt: Jugendprotest in der deutschen Nachkriegszeit zu thematisieren und dabei die Verhältnisse in Ost- und in Westdeutschland in den Blick zu nehmen. Die Gliederung des Bandes folgt diesem Ansatz. So sind die Beiträge des ersten Teils der Jugendopposition und dem politischen Protest in der SBZ/DDR gewidmet. Sie führen von Protestaktionen von Oberschülern (in Dresden Ende der 40er und in Anklam Anfang der 60er Jahre) über studentische Oppositionsgruppen (in Halle Ende der 40er, in Eisenberg und Berlin in den 50er Jahren) und die Jugendopposition im Rahmen der kirchlichen "Jungen Gemeinde" bis zur "Verweigerung durch Republikflucht". Die Beiträge des zweiten Teils behandeln entsprechend Jugendopposition und politische Protestbewegungen in Westdeutschland. Dabei geht es zunächst um die Proteste gegen Wiederaufrüstung und Atombewaffnung in den 50er Jahren, dann um den Widerstand gegen kommunistische Vereinnahmung in der unmittelbaren Nachkriegszeit (am Beispiel von Edelweißpiraten einerseits, in der Berliner Jugendarbeit Engagierter andererseits) und schließlich um den Protest westdeutscher Jugendlicher in den 50er und 60er Jahren (Halbstarke und Studentenbewegung).

Den wissenschaftlichen Analysen sind vielfach Berichte von Zeitzeugen an die Seite gestellt. Da letztere mit zwei Ausnahmen (Wirth, Skriver) der Versuchung widerstanden haben, die Gelegenheit zu später Rechtfertigung bzw. zu nochmaligem Austrag einstiger Kämpfe zu nutzen, und teilweise selbst ein analytisches Anliegen verfolgen, bieten sie tatsächlich eine sinnvolle Ergänzung und Bereicherung. Das gleiche gilt für die beigefügten Dokumente und Fotos, wobei allenfalls die mangelhafte drucktechnische Qualität zu monieren wäre.

Dass der Herausgeber für beide Teile des Bandes nahezu identische Überschriften gewählt hat - für Westdeutschland ist lediglich der "Protest" zu "Protestbewegungen" erweitert -, legt die Vermutung nahe, dass tatsächlich vergleichbare Phänomene mit dem gleichen begrifflichen Instrumentarium behandelt würden. Der Klappentext bestärkt diese Vermutung: "Jugendopposition, Widerstand und politischer Protest", so heißt es hier, "artikulierten sich in den 50er und frühen 60er Jahren in der SBZ/DDR und in der BRD aus ähnlichen Gründen und dokumentierten das Erstarken politisch-kritischen Bewusstseins und demokratischen Engagements bei Angehörigen der jungen Generation". Betrachtet man vor dem Hintergrund dieser Aussage die verschiedenen Beiträge, so ist allerdings nur die Remilitarisierung als gemeinsamer Anlass für jugendlichen Protest in Ost und West auszumachen. Die Opposition gegen weltanschauliche Indoktrination und organisatorische Vereinnahmung im Osten findet in dem Band hingegen ebenso wenig ein Pendant im Westen wie umgekehrt die Krawalle und Aktionen der Halbstarken. Der Herausgeber trägt dieser Tatsache in seinem Vorwort Rechung, indem er sich - durchaus überraschend nach dem bisher Gesagten - zum Prinzip der "Kontrastierung" bekennt. Die Konferenz, so schreibt er hier, habe zeigen sollen, "daß in der Bundesrepublik für andere Formen und Inhalte von Provokation und Protest ganz andere politische Themen im Vordergrund standen, stehen mußten und auch stehen konnten" und daß sich somit "bereits in den frühen 50er Jahren die deutsch-deutsche Gesellschaftsgeschichte de facto in eine Gesellschaftsgeschichte der DDR und eine der BRD" aufgelöst habe (S. 12).

Der Widerspruch zwischen den verschiedenen Inhaltsanzeigen verweist auf eine grundlegende Unsicherheit, die sich auch auf die zentralen Begriffe der Analyse bezieht. Was ist das spezifisch "Jugendliche" am Protest der Dresdner Oberschüler, der Hallenser oder Berliner Studenten? Was ist umgekehrt das "Politische" an den Aktionen der Halbstarken? Und sind diese als "Protest" begrifflich angemessen gefasst - wie die Haltung der "Jungen Gemeinde" als "Opposition"? Wohlgemerkt: In den einzelnen Beiträgen findet man durchaus Bemühungen um eine begriffliche Differenzierung, teilweise orientiert an jenen Ansätzen, die in der Forschung zum Widerstand im NS entwickelt worden sind. In der Begrenzung auf das je einzelne Thema vermögen sie die gestellten Fragen jedoch genauso wenig zu beantworten wie dies der Wiederabdruck von Neuberts grundlegendem Beitrag zu Opposition, Widerstand und Dissidenz in der DDR kann, der sich nämlich gerade nicht auf Jugend bezieht. Den - theoretisch anspruchvollsten - Beiträgen von Breyvogel und Zinnecker zu den Jugendkulturen in Westdeutschland fehlt mit ihrer Konzentration auf die Alltagskultur wiederum der Bezug zur Frage des Politischen im engeren Sinne. Hier hätte in jedem Falle eine - sei es einleitende, sei es zusammenfassende - Betrachtung Not getan, in der Begriffe und Felder der Analyse diskutiert und damit auch einer vergleichenden Betrachtung von "Jugendprotest" in Ost- und Westdeutschland der Boden bereitet worden wäre. Jugendproteste im Westen richteten sich "in der Regel gegen die Werte und Normen der Erwachsenen", so behauptet Patrik von zur Mühlen in seinem Beitrag, während Widerstand und Opposition der Jugendlichen im Osten "weitgehend den Stimmungen und Wünschen der Gesamtbevölkerung entsprachen" (S. 107). Eine starke These, die den Ausgangspunkt für eine solche Betrachtung hätte abgeben können. Doch übersieht sie nicht - wie der gesamte Band - die jugendkulturellen Erscheinungen auch im Osten, wo der Blick allzu rasch auf den "politischen Protest" sich richtet? Und übersieht sie nicht das Zusammengehen der Generationen im Westen (etwa im Kampf gegen die Wiederbewaffnung), wo die Aufmerksamkeit eben ganz den Generationenkonflikten gilt? Oder gibt sie doch treffend die Tatsache wider, dass "Jugendprotest als Generationenkonflikt" zu seiner Entfaltung bestimmter politischer Rahmenbedingungen bedarf?

Fazit: Der Band bietet inhaltlich wenig Neues, ist im Ganzen konzeptuell und begrifflich unzulänglich, verzichtet auf eine Verklammerung der einzelnen Beiträge und lässt damit auch die Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland in unverbundenem Nebeneinander. Dennoch ist er in mehrfacher Hinsicht nützlich: Weil er in gedrängter Form einen Überblick über neuere Forschungen ermöglicht, weil er mit dem Abdruck zweier Auswahlbibliografien den Weg zu weiteren Informationsquellen weist, schließlich und vor allem aber, weil er mit der Zusammenführung von Beiträgen zu Jugendprotest in Ost- und Westdeutschland eine wichtige Vorarbeit für die überfällige vergleichende Betrachtung leistet.
Gerhard Kluchert (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gerhard Kluchert: Rezension von: Herrmann, Ulrich (Hg.): Protestierende Jugend, Jugendopposition und politischer Protest in der deutschen Nachkriegsgeschichte, Weinheim und München: Juventa Verlag 2002. In: EWR 1 (2002), Nr. 3 (Veröffentlicht am 01.07.2002), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/77991132.html