EWR 1 (2002), Nr. 2 (April/Mai 2002)

Hans-Georg Herrlitz
Auf dem Weg zur Historischen Bildungsforschung
Studien ĂŒber Schule und Erziehungswissenschaft aus siebenunddreißig Jahren
Weinheim und MĂŒnchen: Juventa Verlag 2001
(270 Seiten; ISBN 3-7799-1427-1; 24,00 EUR)
Auf dem Weg zur Historischen Bildungsforschung Wanderer kennen das: Auf lĂ€ngeren (Berg-)Touren kommt man immer wieder an Stellen vorbei, die mit einer schönen Aussicht locken und zum Rasten einladen. Der Rundblick ĂŒber die Landschaft und die bis dahin zurĂŒckgelegte Wegstrecke lĂ€sst ein StĂŒck Zufriedenheit aufkommen und gibt gleichzeitig Kraft fĂŒr die noch folgende Wegstrecke. Auch im Leben gibt es immer wieder solche Punkte, an denen wir zurĂŒckschauen und Bilanz ziehen. Ein solcher Punkt im Leben eines Wissenschaftlers ist sicher die Emeritierung. Der Göttinger Erziehungswissenschaftler und Bildungshistoriker Hans-Georg Herrlitz hat dies nun zum Anlass genommen, um seine persönliche Forschungsbilanz aus 37 Jahren als Bildungsforscher zu ziehen. Herausgekommen ist dabei unter dem Titel "Auf dem Weg zur Historischen Bildungsforschung" ein ebenso interessanter wie inspirierender WanderfĂŒhrer durch Herrlitz‘ wissenschaftliche Welt.

Eine solche Bilanz ist natĂŒrlich immer auch ein StĂŒck Selbstvergewisserung. Aber eben nicht nur. Nach der LektĂŒre kann man Hans-Georg Herrlitz sofort zustimmen, wenn er meint, dass sich "dem autobiographischen RĂŒckblick auf eigene Arbeiten generelle Einsichten in die Disziplingeschichte abgewinnen lassen" (S. 12). Denn Herrlitz langweilt seine Leser nicht mit einem ausschweifendem autobiographischen Panorama der kleinen Eitelkeiten – auch wenn er dies einleitend als eine Motivation fĂŒr diese Aufsatzsammlung ein wenig selbstironisch einrĂ€umt –, sondern legt mit insgesamt 15 BeitrĂ€gen einen diachronen Querschnitt durch sein wissenschaftliches ƒuvre der letzten vier Jahrzehnte vor. Er bĂŒndelt diese Studien aus der Zeitspanne zwischen 1964 und 2000 unter den thematischen Schwerpunkten "Schule" (8 BeitrĂ€ge) und "Erziehungswissenschaft" (7 BeitrĂ€ge) und verdeutlicht damit zwei Zentren seiner ForschungstĂ€tigkeit.

Das thematische Spektrum des Schwerpunktes "Schule" erstreckt sich von zwei BeitrĂ€gen zur Didaktik des Deutschunterrichts (Johann Gottfried Herders Beitrag zur Didaktik der SchullektĂŒre [1964, S. 19-31], Vom politischen Sinn einer modernen Aufsatzrhetorik [1966, S. 33-53]) ĂŒber Studien zur Hochschulreife (1968, S. 75-91 und 1971, S. 55-74), Notizen zum Stichwort "Schule – Schultheorie" (1974, S. 107-110), einer politischen "Kampfschrift" aus dem Jahr 1978 zur Stellungnahme des nordrhein-westfĂ€lischen Philologen-Verbandes fĂŒr ein gegliedertes Schulwesen (S. 111-123), die Sozialgeschichte des Gymnasiums (1997, S. 93-105) bis hin zu "Thesen zur Interpretation der deutschen Schulgeschichte" unter dem Titel "Der mĂŒhsame Fortschritt der Schulreform" (2000, S. 125-138).

Der zweite Teil "Erziehungswissenschaft" enthĂ€lt BeitrĂ€ge zur Geschichte der erziehungswissenschaftlichen Einrichtungen der UniversitĂ€ten Kiel (1966, S. 141-156) und Göttingen (1987, S. 157-178), entfaltet Materialien zur "Restauration der deutschen Erziehungswissenschaft nach 1945 im Ost-West-Vergleich" (1988, S. 179-197), behandelt "KontinuitĂ€t und Wandel der erziehungswissenschaftlichen Lehrgestalt" (1996, S. 199-218), eröffnet einen Blick auf "Einhundert Jahre ‚Die Deutsche Schule‘" (1997, S. 219-235) – das Profil der Zeitschrift, die Herrlitz durch seine TĂ€tigkeit wesentlich mitgeprĂ€gt hat –, informiert ĂŒber "Das Ausland als Argument im erziehungswissenschaftlichen Diskurs 1945-1995" (2000, S. 237-255) und fragt abschließend, ob wir "Aus Geschichte lernen" können (1986, S. 257-267). Die Einleitung zu dieser Aufsatzsammlung (S. 11-16) sowie die Quellennachweise der ursprĂŒnglichen Publikationsorte (S. 269-270) rahmen dieses Panorama ein. NĂŒtzlich wĂ€re sicher ein die Texte erschließendes Personenregister gewesen.

Wie beim Wandern ist es offenbar auch auf dem Weg der wissenschaftlichen Biographie so, dass der Weg aus ein wenig Distanz heraus betrachtet viel klarer aussieht, als man es auf den verschlungenen Pfaden im GestrĂŒpp noch glauben mochte. Sicher war sein wissenschaftlicher Weg auch Herrlitz nach der Promotion noch nicht so klar, wie er sich jetzt durch die Aufsatzsammlung darstellt. Auch hierin liegt das Fesselnde dieses Buches, zeichnet sich indirekt doch auch ab, wie sich eine IdentitĂ€t als Wissenschaftler im wissenschaftlichen Diskurs herausbildet. Wie ist nun Herrlitz‘ wissenschaftliche Wanderkarte durch vier Jahrzehnte Disziplingeschichte vermessen? So interessant und inhaltlich facettenreich die einzelnen BeitrĂ€ge des Bandes auch sind, sie inhaltlich hier im Einzelnen wĂŒrdigen zu wollen, wĂ€re unsinnig, sind sie doch in anderen ZusammenhĂ€ngen bereits rezipiert worden. Vielmehr will ich nach der einigenden Klammer suchen und damit die Orientierungspunkte seines wissenschaftlichen Weges kennzeichnen.

Aus den thematisch weit gespannten BeitrĂ€gen lassen sich zwei Leitmotive der historisch-pĂ€dagogischen Forschungen von Hans-Georg Herrlitz ermitteln: Das erste kann mit einer Formulierung aus dem Beitrag zur Entstehung des Abiturexamens (Studienrecht als Standesprivileg, 1971) verdeutlicht werden: ĂŒber "historische Grundlagen aufzuklĂ€ren" (S. 55). Mit einer traditionellen Ideengeschichte lassen sich keine historischen Einsichten gewinnen, höchstens lĂ€sst sich so "nur die eine HĂ€lfte der historischen Wahrheit" (S. 97) – ein bei Herrlitz beliebtes Motiv – andeuten. Historische Erkenntnisgewinne stellen sich dagegen erst ein, wenn man, wie er es in seiner Studie ĂŒber die Göttinger PĂ€dagogik im 19. Jahrhundert (1987) formuliert, "von dem Höhenzug Herbart’scher Systematik" hinabsteigt "in die Wirklichkeit des akademischen Wissenschaftsbetriebes" und sich dabei von "schlichten Fragen" (S. 157) nach den historisch-konkreten Gelehrten, FakultĂ€ten und Disziplinen, nach den Ausbildungszielen, den Ausbildungsinhalten, den institutionellen Rahmenbedingungen, den Studenten und etwa den Lehrveranstaltungen leiten lĂ€sst. "Sehen wir also nĂ€her zu." (S. 157)

Der genaue Blick auf die historische Wirklichkeit also ist das zentrale Motiv. Damit meint Herrlitz selbstverstĂ€ndlich nicht "einen naiven Empirismus", sondern eine "empirisch und theoretisch gehaltvolle Weiterentwicklung der historischen Schul- und Bildungsforschung" (S. 14-15). Seine historischen Fragen sind dabei alles andere als "schlicht", sie bereiten vielmehr erst die Basis fĂŒr tragende Interpretationen. Damit fĂŒhlt sich Herrlitz der "realistischen Wendung in der pĂ€dagogischen Forschung" verpflichtet, wie sie sein Göttinger AmtsvorgĂ€nger Heinrich Roth 1962 gefordert hat. Wenn auch die frĂŒhen Arbeiten in weiten ZĂŒgen noch recht traditionell und deskriptiv sind, so zeigen sie unĂŒbersehbar aber schon die Fragen nach dem historisch-konkreten Ort des Untersuchungsgegenstandes. Somit spiegeln die hier versammelten AufsĂ€tze nicht nur Herrlitz‘ eigene Wissenschaftlerbiographie, sondern vor allem den Weg der historischen Bildungsforschung in den letzten drei bis vier Jahrzehnten von der traditionellen, ideengeschichtlich orientierten "Geschichte der PĂ€dagogik" zur empirisch arbeitenden, archiv- und quellenorientierten, an realen historisch-pĂ€dagogischen und bildungspolitischen Prozessen interessierten historischen Bildungsforschung. Dementsprechend versteht Herrlitz die Geschichte der PĂ€dagogik als "forschende Disziplin nach dem Muster einer historischen Sozialwissenschaft" (S. 11).

Das zweite Leitmotiv seiner bildungshistorischen Forschungen ist die Frage nach der Demokratisierung der Bildungsbeteiligung und der Beseitigung der Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung. In seiner resĂŒmierenden Vorlesung zu den "mĂŒhsamen Fortschritten der Schulreform" formuliert er eine These, die dieses Anliegen verdeutlicht und gleichzeitig seinen eigenen Forschungsbeitrag verortet: "Sozialgeschichtlich betrachtet ist seit den 60er Jahren an den Schulen und Hochschulen der Bundesrepublik mehr in Bewegung gekommen als in jeder Epoche der deutschen Bildungsgeschichte zuvor. Zwar ist es bislang keineswegs gelungen, die soziale Ungleichheit der Bildungsbeteiligung in ihren vier klassischen AusprĂ€gungen [...] restlos zu beseitigen, doch hat es auf jedem dieser Problemfelder [...] unterschiedlich zufrieden stellende Fortschritte gegeben." (S. 134)

Herrlitz‘ eigene Arbeiten, die hier dazuzurechnen sind, sind insgesamt einem modernisierungstheoretischen Forschungsansatz verpflichtet, "der auf die langfristigen Erfolge der staatlichen Bildungspolitik" (S. 128) verweist. Stets auf der Grundlage empirisch gewonnener, z.T. serieller Daten fragt er u.a. nach Entwicklungstrends, WachstumsschĂŒben oder historischen Stagnationsphasen. Allerdings: Wie bringt man eine an historischen Subjekten und EinzelfĂ€llen orientierte Forschung zusammen mit den Ergebnissen historischer LĂ€ngsschnitte auf der Basis serieller Daten, ohne dabei die EinzelfĂ€lle und die mit ihnen verbundenen Prozesse vernachlĂ€ssigen, ignorieren oder nivellieren zu mĂŒssen und andererseits ohne den Blick auf langfristige EntwicklungsschĂŒbe aus den Augen zu verlieren. Eine Antwort auf diese m.E. nicht ganz unwesentliche methodische und forschungsstrategische Frage habe ich auch bei Herrlitz noch nicht gefunden.

Nicht selten sind auch historisch-sozialwissenschaftliche Studien recht trockene Kost fĂŒr die Leser. Bei Herrlitz nicht. Denn er zeigt, dass NarrativitĂ€t und Auswertung serieller Daten kein Widerspruch sein muss. Überhaupt sind seine Arbeiten immer erfreulich klar in der Sprache und prĂ€zise im Urteil. Auch zeichnet ihn eine fĂŒr deutsche Professoren meist ungewöhnliche, aber wohltuende Selbstdistanz aus, die er etwa in der Einleitung unter Beweis stellt, wenn er sich selbstkritisch und nicht ohne Ironie mit seinem Sprachgebrauch der 70er Jahre auseinandersetzt, auf seinen frĂŒhen "forschen Optimismus" (S. 14) verweist oder schildert, wie er einen "originellen, höchstpersönlichen Einfall" (S. 15) gleichzeitig in einer Arbeit eines Kollegen entdeckte. So entbehrlich manche Leser die Einleitung als Gebrauchsanweisung fĂŒr die Aufsatzsammlung vielleicht empfinden werden – denn die BeitrĂ€ge sprechen fĂŒr sich selbst –, so erfrischend lĂ€sst sie sich lesen und so klar zeigt sie Herrlitz‘ persönlichen Stil als Wissenschaftler – und natĂŒrlich seinen autobiographischen Blick.

Aus der Verbindung der skizzierten beiden leitenden Forschungsperspektiven erwĂ€chst ein bildungspolitisches Engagement, das Herrlitz‘ Arbeiten durchgĂ€ngig kennzeichnet. Er versteht seine historischen Arbeiten selbstverstĂ€ndlich nicht rein positivistisch oder antiquarisch, sondern verfolgt eine wissenschaftlich-aufklĂ€rende Absicht, um aus dem gesellschaftlich verflochtenen historischen Prozess Problemlösungsstrategien abzuleiten. Die Frage nach Zweck und Ziel der historischen Forschung ist stets immanent vorhanden. Er bezieht politisch Stellung, ohne kurzschlĂŒssige historische Analogien zu zeichnen oder Historie politisch zu funktionalisieren. (Wenn das in den 70er Jahren auch bei ihm nicht ganz ausgeschlossen war, so bedauert er dies im RĂŒckblick merklich [S. 15]). Ganz auf dieser Linie befindet sich sein Anliegen, "nicht nur die schul- und bildungshistorische Forschung in hochspezialisierten Projekten weiter voranzutreiben, sondern die Ergebnisse dieser BemĂŒhungen in den Wissensbestand von Hand- und LehrbĂŒchern zu ĂŒbersetzen" (S. 15). Dort bĂŒndeln sich dann im Idealfall ideen-, struktur- und sozialgeschichtliche Gesichtspunkte als empirisch abgesicherte Grundlage kĂŒnftiger Bildungsplanungen. Dieses Engagement verdeutlich Herrlitz, wenn er im letzten Beitrag "Aus Geschichte lernen?" (1986) nach dem Ziel historischer Bildungsforschung ĂŒberhaupt fragt: "Historisch begrĂŒndet und empirisch fundiert Illusionen auszurĂ€umen und Mutlosigkeit zu zerstreuen – könnte das nicht doch eine ĂŒberzeugende Antwort auf die Frage von Herwig Blankertz sein, ‚zu welchem Ziel eigentlich‘ eine sozialwissenschaftlich orientierte Schulgeschichte gelesen werden sollte?" (S. 265) Ich meine, ja! Vielleicht hat schon Fontane diesen Gesamtkontext auf den Punkt gebracht: "Corinna, wenn ich nicht Professor wĂ€re, so wĂŒrd ich am Ende Sozialdemokrat."

Nicht nur wissenschaftlichen Wanderern sei dieses Buch empfohlen, sondern vor allem jenen Lesern, die sich fĂŒr unsere Disziplingeschichte im Spiegel der Entwicklung einer Wissenschaftlerbiographie interessieren. Gerade Menschen, die zur wissenschaftlichen Wanderschaft aufbrechen wollen, wird dieses Buch eine ermutigende ReiselektĂŒre sein. Dass sich quasi im Vorbeigehen dabei auch so manches Inhaltliches lernen lĂ€sst, versteht sich bei den materialreichen Arbeiten von Hans-Georg Herrlitz von selbst. Wenn er fĂŒr den Titel dieser Aufsatzsammlung die Metapher des Weges wĂ€hlte, so deutet Herrlitz damit nicht nur den Suchprozess nach dem "richtigen" Weg an, sondern signalisiert auch, dass der Weg noch lange nicht sein Ziel erreicht hat.
Jörg-W. Link (Potsdam)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jörg-W. Link: Rezension von: Herrlitz, Hans-Georg: Auf dem Weg zur Historischen Bildungsforschung, Studien ĂŒber Schule und Erziehungswissenschaft aus siebenunddreißig Jahren, Weinheim und MĂŒnchen: Juventa Verlag 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 2 (Veröffentlicht am 00.04.2002), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/77991427.html