EWR 3 (2004), Nr. 2 (März/April 2004)

Hans-Georg Herrlitz / Dieter Weiland / Klaus Winkel
Die Gesamtschule
Geschichte, internationale Vergleiche, pädagogische Konzepte und politische Perspektiven
Weinheim/München: Juventa 2003
(352 Seiten; ISBN 3-7799-1523; 23,00 EUR)
Die Gesamtschule Von einem zentralen Akteur im Deutschen Bildungsrat geht die Mär, er habe bei einem Kamingespräch prognostiziert, dass mit der Einführung der Gesamtschule in etwa zehn Jahren das preußische Gymnasium "geschliffen", die Vertikalität der Bildungsgänge gewichen und einer besseren Chancengerechtigkeit Bahn gebrochen wäre. – Im Nachhinein zeigt sich diese reformpädagogische Emphase einer kurzzeitigen Fehleinschätzung geschuldet, die im vermeintlich breiten bildungspolitischen Konsens der 1960er Jahre über die Bewertungen von Ungleichheitslagen im Bildungssystem davon absah, dass sich Schulreformen in Deutschland nicht plötzlich vollziehen, sondern, wenn überhaupt, in langen Wellen eher im Rückblick sichtbar werden. Dies gilt für die Etablierung einer Unterrichtspflicht, die über 100 Jahre brauchte, um eingehalten zu werden, für die Einführung einer gemeinsamem Grundschule, die fast achtzig Jahre benötigte oder die Akzeptanz von Frauen im Bildungssystem, über ein Abitur gleichberechtigt in der Hochschule anzulanden, wofür ebenfalls fast 80 Jahre zu veranschlagen sind. Oder anders, auf das hier in Rede stehende Buch zum Thema Gesamtschule gewendet: mit mittlerweile 40 Jahren Gesamtschulerfahrung im Rücken ist man in Deutschland auf halbem Weg angelangt.

Zunächst war ich bezüglich der Auswahl der Autoren für diesen Band skeptisch, finden sich doch einige dabei, die unabweisbar zu den zentralen Protagonisten der Gesamtschulbewegung in der Bundesrepublik zählen und nicht damit selbstverständlich verbunden sein muss, in kritischer Distanz Bilanz zu ziehen (Anne Ratzki, Ingrid Wenzler Gerold Becker, Carl-Heinz Evers, Dieter Wunder, Ludwig Huber, Annemarie von der Groeben, Hans-Georg Herrlitz). Doch ich bin, zum Teil, eines Besseren belehrt worden. Insbesondere diejenigen werden diesen Band mit Gewinn lesen, denen das Thema Gesamtschule bisher randständig geblieben ist, die aber jetzt u.a. über PISA darauf gestoßen werden, sich gewollt oder ungewollt damit zu beschäftigen, weil uns der internationale Vergleich zeigt, dass es jenseits des deutschen gegliederten Sonderweges facettenreiche andere integrierte gibt, die zwar keinen Königsweg markieren, sich aber auch hinter der deutschen Tradition nicht verstecken müssen.

Die kenntnisreichen Länderberichte über Frankreich (Hanno Werry), Schweden (Anne Ratzki), England (Christoph Edelhoff), USA (Craig Schieber) und Japan (Volker Schubert) sind besonders lesenswert, weil sie uns einmal mehr darauf verweisen, dass es sowohl das Gesamtschulland, als auch die Gesamtschule im internationalen Vergleich nicht gibt und dass die Einführung integrierter Modelle auch Nachteile mit sich bringt, die nicht vertuscht werden dürfen (etwa der run der Kinder der politischen Eliten in die nicht-öffentlichen Schulen und privaten Paukanstalten und der damit den Mittelschichten aufgebürdete monitäre Preis, Bildungskarrieren in der Möglichkeit zu halten).

Schon die Einleitung von Hans-Georg Herrlitz und seine Dokumentation zu programmatischen Marksteinen integrierter Schulkonzepte zeigen die immer wieder einmal aufkeimenden Wünsche nach einer gemeinsamem Schule für alle in Deutschland jenseits von "Stand und Klasse" und die Aktualität der Argumente schon im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Herrlitz schießt dabei nur einmal über das Ziel hinaus, als er gleichsam die Humboldtschen Reformen mit Koselleckscher Diktion als "Sattelzeit gesamtschulähnlicher Reforminitiativen" markiert (10), ohne überhaupt auf den Königsberger oder Litauischen Schulplan hinzuweisen. Vielleicht wären es für den heutigen Betrachter eher die Einlassungen eines Heinrich Schulz aus dem Jahr 1911, die zukünftig als dezidierte Hinwendung zu Gesamtschulversuchen gelesen werden sollten und die in diesem Band dokumentiert sind. Ich gestehe, ich kannte sie bis dato nicht und war bei der Lektüre beeindruckt, mit welcher Präzision etwa über innere Differenzierung und soziale Ausgrenzung geschrieben worden ist. Themen, die uns gerade nach PISA sehr interessieren. Die dabei vorgelegten Bonmots sind mehr als geistreiche Bemerkungen, wenn es etwa über die Arbeiterkinder nach einer gemeinsamen Grundschulzeit für alle heißt, in "diesem Alter werden es die begabten Proletarierkinder doppelt schwer und bitter empfinden, daß sie in der dürftigen Volksschule zurückbleiben müssen, während der unbegabte Sohn des reichen Seifenhändlers auf die höhere Schule übersiedelt" (29).

Im ersten Teil des Bandes Historische Texte und Dokumente 1819-1969 finden sich noch weitere Marksteine für die sich bahnbrechende Idee auch einer gemeinsamen Schule jenseits der Primarschulzeit, wobei die Auswahl sicher aus Platzgründen begrenzt, aber nicht notgedrungen unkommentiert bleibt. So stehen etwa Auszüge aus dem Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule in der sowjetischen Besatzungszone (1946) neben der Direktive Nr. 54 der Alliierten Kontrollbehörde in Deutschland (1947) oder die Bremer (1949) und Berliner Schulgesetze (1948) neben der Gesamtschulempfehlung des Deutschen Bildungsrates (1969). Eine Verknüpfung hin zur Bildungsreformphase in der Bundesrepublik unterbleibt gleich ganz bzw. wird durch den ersten Beitrag im mit Länderberichte überschriebenen zweiten Teil nicht bilanziert (Ingrid Wenzel). Insofern wird für die alte Bundesrepublik zwar nüchtern eine unabweisbare Expansion der Gesamtschule ausgeführt, freilich nur plakativ beschrieben, warum diese Entwicklung vor dem Hintergrund der gesamten Bildungsexpansion eher randständig geblieben ist. An den B-Ländern allein und dem bildungspolitischen Rollback nach der Auflösung des Bildungsrates lag dies nämlich nicht, sondern war auch den hausgemachten Schwierigkeiten geschuldet, die davon absahen, überbordende Anfangserwartungen den Realitäten anzupassen und einen Weg einzuschlagen, der nicht mehr darauf zielte, die allein selig machende Schulform gefunden zu haben.

Die im weiteren Verlauf des zweiten Teiles beschriebenen Teilstudien zur Gesamtschulentwicklung in den nicht-deutschen Ländern stehen für sich genommen als Solitäre in diesem Band und sind eher allgemeine Berichte über Schulentwicklungsprozesse in diesen Ländern, die auch mit kulturhistorischer Brille gelesen werden können. Eine übergeordnete gesamtschulspezifische Fragestellung unterblieb. Nichtsdestotrotz liest man sie mit besonderem Gewinn, weil sie zum Teil detailreicher scheinen als manches, was bisher vorgelegt wurde.

Letztlich bleibt insbesondere der dritte Teil des Bandes, Problemfelder genannt, in seiner Beschreibung der Gesamtschule in Deutschland heute blass. Die zentralen Labels der Gesamtschulpädagogik werden zwar durch die Autoren aufgeführt (Differenzierung und Integration, Beurteilungsverfahren und soziales Lernen oder Ganztagsschule), bleiben jedoch in ihrer Programmatik vollkommen unhinterfragt bzw. erscheinen als bloße Verlängerung der schon einmal vorgelegten Berichte aus dem Band von Gudjons/Köpcke (1996) [1]. Dabei werden Ergebnisse aus den fünf immer wieder hervorgezogenen Gesamtschulleuchttürmen in Köln, Göttingen, Wiesbaden, Bielefeld und Hamburg gestriffen, ohne ihre Übertragbarkeit zu prüfen oder einmal Beispiele aus anderen der mittlerweile fast 800 Gesamtschulen vorzulegen. Gegen Kritik "von außen" haben sie sich gleich vollkommen immunisiert. So fehlt etwa überall ein Hinweis auf die von Köller et al. angetretene Debatte um die Notengebung in der nordrhein-westfälischen Gesamtschule, die doch sogar die Kultusministerin auf den Plan gerufen hatte und immer wieder auch in der Öffentlichkeit zitiert worden ist [2]. Allein im Beitrag von Dieter Wunder aus dem letzten Teil Bilanz und Perspektiven wird hiervon im Ungefähren gehandelt mit der Einlassung, wonach "PISA (...) wohl endgültig (zwingt), sich auch öffentlich der Kritik zu stellen und bestimmte Mängel zu beheben (...), die sich etwa in der Geringschätzung von Leistung zeigten" (342).

Das Gesamtschulbuch für die Bundesrepublik Deutschland ist dieser Band einmal mehr nicht geworden, wiewohl dies sicher auch nicht der Anspruch war. Wer systematischere Analysen braucht, blättere in älteren Kompendien (etwa Baumert/Raschert in der Enzyklopädie Erziehungswissenschaft) [3] oder in jüngsten [4]. In ihnen wird sichtbarer, wie aus einem gesellschaftlichen Experiment [5] eine Regelschule wurde [6] und was getan werden könnte, diese weiter in der Möglichkeit zu halten. – Im Grunde müsste das Gesamtschulbuch vorgelegt werden, solange diejenigen in der Öffentlichkeit zu finden sind, die als Kenner und kritische Freunde in diesem Band geschrieben haben und noch realitätsgesättigt jenseits eingelebter Ideologien darüber berichten könnten, wenn sie wollten. Ohnedies werden sicher weitere vierzig Jahre ins Land gehen ...



[1] Gudjons, Herbert/Köpcke, Andreas (1996) (Hrsg.): 25 Jahre Gesamtschule in der Bundesrepublik Deutschland. Eine bildungspolitische und pädagogische Bilanz. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
[2] Köller, Olaf/Baumert, Jürgen/Schnabel, Kai U. (1999): Wege zur Hochschulreife: Offenheit des Systems und Sicherung vergleichbarer Standards. Analysen am Beispiel der Mathematikleistungen von Oberstufenschülern an Integrativen Gesamtschulen und Gymnasien in Nordrhein-Westfalen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2, S. 385-422.
[3] Baumert, Jürgen (in Zusammenarbeit mit Jürgen Raschert) (1983): Gesamtschule. In: Lenzen, D. (Hrsg.): Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. Band 8. Stuttgart: Klett-Cotta, S. 228-269.
[4] Köller, Olaf (2003): Gesamtschule – Erweiterung statt Alternative. In: Cortina, K.S. et al. (Hrsg.): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen im Überblick. Reinbek: Rowohlt, S. 458-486.
[5] Raschert, Jürgen (1974): Gesamtschule: ein gesellschaftliches Experiment. Stuttgart: Klett-Cotta.
[6] Baumert, Jürgen/Raschert, Jürgen (1978): Vom Experiment zur Regelschule. Stuttgart: Klett-Cotta.
Axel Gehrmann (Rostock)
Zur Zitierweise der Rezension:
Axel Gehrmann: Rezension von: Herrlitz, Hans-Georg / Weiland, Dieter / Winkel, Klaus: Die Gesamtschule, Geschichte, internationale Vergleiche, pädagogische Konzepte und politische Perspektiven, Weinheim/München: Juventa 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/77991523.html