Betrachtet man die aktuellen methodologischen Diskussionen im Bereich der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in der neben der Sektion "Methoden der empirischen Sozialforschung" nach Versuchen der Annäherung im Jahre 1999 die Sektion "Methoden der qualitativen Sozialforschung" gegründet worden ist, dann gewinnt man den Eindruck, dass es Zeit für ein Standardwerk war, das von einer integrativen Konzeption der Sozialforschung ausgeht. Dieser anspruchsvollen Aufgabe stellen sich die beiden Autoren Christian Seipel und Peter Rieker in ihrem Buch "Integrative Sozialforschung. Konzepte und Methoden der qualitativen und quantitativen empirischen Forschung", das 2003 im Juventa-Verlag erschienen ist. Die Autoren sind erfreulicherweise beide selbst Empiriker, die in ihrem Forschungshandeln zwar der einen oder der anderen "Richtung" angehören, im vorliegenden Buch allerdings die Texte gemeinsam diskutiert haben. So konnte hier ein Buch entstehen, das mehr ist als ein Sammelband mit sonst üblicher thematischer Spezialisierung.
Ernanntes Ziel des Buches ist es, sogenannte "qualitative" und "quantitative" Methoden zu thematisieren, ohne dabei von einer Hierarchie unter den Traditionen auszugehen und Möglichkeiten der wechselseitigen Bezugnahme zu prüfen (s. 9f). Es sieht sich einerseits als Ergänzung zur vorhandenen Methodenliteratur, versucht allerdings zugleich, einen Überblick über Verfahren der "quantitativen" und "qualitativen" Sozialforschung zu geben. Es lassen sich damit mindestens vier thematische Schwerpunkte herauslesen: (1) Eine wissenschaftshistorische, wissenschaftstheoretische und methodologische Diskussion um die Abgrenzung und Abgrenzbarkeit von "qualitativen" und "quantitativen" Methoden, (2) eine Darstellung "quantitativer" Methodologie und Methodik, (3) eine Darstellung "qualitativer" Methodologie und Methodik und (4) eine Diskussion und die Möglichkeiten der Verbindung "quantitativer" und "qualitativer" Ansätze. Hier zeigt sich aber genau die Schwäche des Bandes: vier derartig komplexe thematische Schwerpunkte bekommen einem Buch von 280 Seiten leider nicht und führen möglicherweise auch zu der sehr unterschiedlichen Qualität der einzelnen Kapitel.
Insgesamt gliedert sich das Buch in sechs Kapitel. Das erste, eher wissenschaftshistorische Kapitel thematisiert die Frage, wie sich der aktuelle Methodendualismus innerhalb der Sozialforschung entwickelt hat. Dieses sehr gelungene Kapitel macht deutlich, dass eine solche Unterscheidung vielen "Klassikern" der Soziologie durchaus fremd und "integrierte Sozialforschung" zumindest in der Frühzeit der Sozialwissenschaften gang und gäbe war. Zugleich werden die Traditionslinien verfolgt, die zur heutigen Spezialisierung der beiden Traditionen geführt haben. Dieses Kapitel erscheint für eine nicht primär wissenschaftshistorische Darstellung gut recherchiert und im Wesentlichen auf den Punkt gebracht, wenngleich die Darstellung hier auch sicher aus Platzgründen wichtige Traditionslinien ausblenden musste – so etwa die meisten neueren Entwicklungen außerhalb der "alten Bundesrepublik". Insgesamt wird in diesem Teil aber deutlich, dass die Unterscheidung zwischen "quantitativ" und "qualitativ" selbst das Resultat eines sozialen Konstruktionsprozesses ist. Ärgerlich hier nur der überflüssige, da zu stark verkürzte Abstecher zur empirischen Sozialforschung in der DDR.
Das zweite Kapitel stellt gängige, in der Mainstream-Literatur vertretene wissenschafts- und erkenntnistheoretische Grundannahmen dar – den viel bescholtenen "Positivismus", den Kritischen Rationalismus, die Kritische Theorie sowie die Hermeneutik in einem sehr breiten Verständnis. Im Folgenden werden dann vor allem der kritische Rationalismus als "realistisches" Begründungsmodell quantitativer Forschung sowie die Hermeneutik als "konstruktivistischer" Ausgangspunkt qualitativer Ansätze diskutiert und dabei sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten herausgearbeitet. Dabei gehen die Autoren auf die Bedeutung theoretischen Vorwissens, den Theoriebegriff sowie die Ansprüche an Theorien ein. In diesem Teil wird versucht, die wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Unterscheidung zwischen "quantitativem" sprich nomologisch-deduktivem und "qualitativen" sprich interpretativ-hermeneutischen Forschungshandeln darzustellen, wie man sie in den Verlautbarungen der Mainstream-Vertreter dieser Ansätze findet. Insofern ist der knappe Überblick, den dieses Kapitel gibt, als Einführungstext durchaus nützlich. Inwieweit dies allerdings förderlich ist, eine integrative Methodologie zu begründen, ist fraglich.
Während die ersten beiden Kapitel also eine gute wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Einführung in die Unterscheidung zwischen sogenannten quantitativen und qualitativen Methoden geben und dabei diese Trennung selbst zum Teil durchaus kritisch reflektieren, sollen die nächsten drei Teile den Ablauf empirischer Sozialforschung auf der Grundlage der beiden "Paradigmen" darstellen. Strukturierendes Prinzip bleibt hierbei im Wesentlichen die Unterscheidung zwischen "quantitativer" und "qualitativer" Sozialforschung (siehe Anmerkung, G.P.) – und dies führt zu einer Darstellung, die so holzschnittartig ist, dass man sich fragt, ob an dieser Stelle nicht weniger mehr gewesen wäre. So sind hier an vielen Stellen Verkürzungen zu finden, die einer weitergehenden Betrachtung nicht standhalten, Verweise sind teilweise so sehr veraltet, zudem finden sich zum Teil ärgerliche Ungenauigkeiten (s.u.).
Doch zunächst zum dritten Kapitel: Das dritte Kapitel behandelt Untersuchungsplanung und Messung in der empirischen Sozialforschung mit den Teilaspekten Forschungsdesign, Auswahlverfahren, Datengewinnung und Gütekriterien. Die beiden ersten Unterkapitel zu Forschungsdesigns und Auswahlverfahren sind zwar etwas schematisch, aber als Einführung und Anregung für weitere Lektüre durchaus hilfreich. In Unterkapitel 3.3 soll nun das Thema "Messen und Datengewinnung" behandelt werden. Was hier für die sogenannte "quantitative Sozialforschung" präsentiert wird, entspricht einem testtheoretischen Ansatz, der zwar weit verbreitet, nicht aber unwidersprochen ist. So wären hier – gerade in Hinblick auf die Entwicklung einer integrativen Methodologie – eine Diskussion bspw. der Arbeiten von Rohwer und Pötter zur "Sozialwissenschaftlichen Datenkonstruktion" (in der Literaturliste erwähnt auf S. 271) sicherlich hilfreicher gewesen als die Fiktion einer homogenen messtheoretischen Orthodoxie zu vermitteln. In Kapitel 3.4 geht es hingegen um Gütekriterien sozialwissenschaftlicher Forschung allgemein. Hier wird nun im Bereich der "qualitativen" Ansätze vor allem auf Lincoln und Guba sowie Steinke eingegangen, also auf AutorInnen, die für eine Um- oder Reformulierung spezifischer Gütekriterien für die qualitative Forschung eintreten. Auch diese Position ist in der Scientific Community keineswegs unwidersprochen (s. etwa die Arbeiten von Udo Kelle, in der Literatur auf 265). Diese beiden Beispiele machen deutlich, was bei der Darstellung des Forschungshandeln in diesem Buch viel zu häufig passiert: Durch Verkürzungen auf orthodoxe Positionen der beiden "Lager" werden gerade die Autoren ausgeblendet, deren Fragen Grundsteine für einen Dialog darstellen könnten. Und gerade dies sollte dieses Buch ja nicht tun.
Kapitel vier resümiert einzelne Verfahren der Datenerhebung wie Befragung, Beobachtung und Gruppendiskussion. Hierauf aufbauend soll das Problem "Offenheit oder Standardisierung" diskutiert werden. Auch hier findet wieder eine Engführung auf bestimmte Verfahren statt, die bestimmte Arten von Daten generieren – und daher besondere Probleme miteinander haben. Wo ist aber bspw. die Analyse von prozessproduzierten Daten (etwa: Einträge über Sanktionen aus dem Bundeszentralregister, Sozial- oder Jugendhilfehilfeakten), aus denen viele wichtige statistisch orientierten Projekte ihre Daten bezogen haben oder die Erhebung und Interpretation von Dokumenten und Selbstdarstellungen, die in vielen Fällen Ausgangspunkt hermeneutischer Analysen waren?
Die größten Probleme sehe ich allerdings im fünften Kapital, das verschiedene Auswertungsverfahren behandelt. Was in 5.1 in Bezug auf uni- und bivariaten Statistiken dargestellt wird, ist auf der Ebene, auf der es hier diskutiert wird, zum großen Teil sehr schlicht und damit überflüssig. Bei multivariaten Verfahren hingegen haben sich die Autoren etwas zu viel vorgenommen; dort wird es aufgrund von Unschärfen bedenklich. Im Unterkapitel über Strukturgleichungsmodelle findet sich etwa der Satz: "Um die 'Maximum-Likelihood' (ML) Methode anzuwenden, ist es erforderlich, dass die Daten normalverteilt sind." (186) Ohne nun zu diskutieren, was es bedeuten soll, dass Daten "normalverteilt" sind, setzen gerade ML-Schätzer dies nicht generell voraus. Ich gehe davon aus, dass auch die Autoren dies wissen, fürchte aber, dass gerade der unbedarfte Leser hier in die Irre geführt wird. Ereignisanalyse wird in sechs Zeilen präsentiert, der weiterführende Literaturverweis auf Diekmann/Mitter 1984 ist nun wirklich völlig veraltet und entspricht überhaupt nicht mehr dem "State of the Art"! Ähnlich sieht es im Bereich der "qualitativen" Methoden aus. Zur Typenbildung wird vor allem auf die m.E. gute Veröffentlichung von Susann Kluge zu verwiesen. Dadurch werden aber andere Ansätze - wie etwa der von Uta Gerhard - nur am Rande gestreift, und dies erscheint mir bedenklich. Im Kontext der "Typenbildung" wird sodann der Ansatz fallvergleichender und computerunterstützter qualitativer Analyse gleich "mitbehandelt". Die beiden Ansätze haben – insbesondere bei Kluge – zwar etwas miteinander zu tun, was aber in diesem Kontext – etwa in den Arbeiten von Strauss/Corbin – diskutiert wird, geht doch wohl über eine Methode der Typenbildung deutlich hinaus. Von objektiver Hermeneutik verstehe ich nicht genug, um eine differenzierte Kritik der knapp drei Seiten zu liefern, die diesem Ansatz zugedacht sind – m.E. ist es aber sehr gewagt, ein so komplexes Verfahren in dieser Kürze vorzustellen. Diese Beispiele könnten noch erweitert werden. Ingesamt werden also auch in diesem Kapitel in den beiden methodischen Traditionen bestimmte Forschungs-Stile herausgehoben – andere und m.E. wichtige Ansätze aber nicht diskutiert, denn sie passen nicht in die Dichotomie "qualitativ" – "quantitativ"! So fehlt zum Beispiel der gesamte Bereich der statisch orientierten explorativen Datenanalyse (wie z.B. Cluster- und Korrespondenzanalysen, MDS ...) oder der die Ragin'sche "Case-Oriented Research", die versucht, auf der Basis von Fallvergleichen falsifizierbare Zusammenhangshypothesen zu entwickeln.
Hat man also diese drei Kapitel hinter sich gelassen, kommt Teil sechs zur "Integration quantitativer und qualitativer Forschung", dessen Anregungen allein schon die Lektüre dieses Buches lohnen. Hier werden zum einen bestehende Vorschläge dargestellt und in Hinblick auf ihre Stimmigkeit und den zu erwartenden Ertrag diskutiert. Diese Darstellung ist systematisch und weist auf Schwächen dessen hin, was bspw. im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 186 publiziert worden ist. So problematisieren die Autoren bspw. die Ansätze, die von einer Validierung der Ergebnisse verschiedener Teilstudien ausgehen, wie sie etwa von Erzberger und Kelle – aber auch von mir – vertreten worden sind. Zugleich aber zeigen sie Perspektiven für eine weitere Entwicklung integrativer Sozialforschung auf. Diesen Teil hätte ich mir deutlich ausführlicher gewünscht, denn hier wird deutlich, dass es sich bei den Autoren um kompetente, methodisch und methodologisch reflektierende Forscher handelt, die ihr Handwerk verstehen!
Das Buch von Christian Seipel und Peter Rieker ist also vielleicht nicht das, was es vorgibt zu sein: eine Einführung. Es ist aber dennoch wichtig und lesenswert, denn es belebt einen Diskurs mit neuen Gedanken, der zurzeit Gefahr läuft, im "Lagerdenken" eines falschen Methodendualismus zu verstummen!
Anmerkung
Der Autor dieser Rezension gesteht ein, dass er in seinen Arbeiten im Kontext des Sonderforschungsbereichs 186 an der Universität Bremen zunächst selbst diesem Irrtum aufgesessen ist und evtl. mit dafür verantwortlich ist, dass diese Fragen irrtümlich nun so diskutiert werden.
EWR 3 (2004), Nr. 2 (März/April 2004)
Integrative Sozialforschung
Konzepte und Methoden der qualitativen und quantitativen empirischen Forschung
Weinheim/MĂĽnchen: Juventa 2003
(280 Seiten; ISBN 3-7799-1710-6; 19,50 EUR)
Gerald Prein (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gerald Prein: Rezension von: Seipel, Christian / Rieker, Peter: Integrative Sozialforschung, Konzepte und Methoden der qualitativen und quantitativen empirischen Forschung, Weinheim/MĂĽnchen: Juventa 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/77991710.html
Gerald Prein: Rezension von: Seipel, Christian / Rieker, Peter: Integrative Sozialforschung, Konzepte und Methoden der qualitativen und quantitativen empirischen Forschung, Weinheim/MĂĽnchen: Juventa 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 2 (Veröffentlicht am 31.03.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/77991710.html