Der Band widmet sich in fünf Abschnitten
- der Etablierung der Erziehungswissenschaft an den Universitäten (M. Späni für die Schweiz; J. Gautherin für Frankreich; P. Drewek für Deutschland; A. L. Fernandes für Portugal und Brasilien),
- der Stellung der Erziehungswissenschaft zwischen Wissenschaft und Lehrmeinung bzw. Doktrin (P. Metz und D. Hameline in zwei Beiträgen zum schweizerischen Herbartianismus; M. Roullet im Blick auf die Lehre der Erziehungswissenschaft in den französischen Ecoles normales; A. Novoa in einem Beitrag zur Entwicklung der wissenschaftlichen Pädagogik um 1900 zwischen Wissenschaft und Normativität),
- dem Verhältnis von Disziplin und Profession (W. Herzog entwickelt das Konzept einer Partnerschaft von Disziplin und Profession; J. Oelkers untersucht anhand des us-amerikanischen Diskurses die Probleme erziehungswissenschaftlicher Forschung; Ph. Gottraux, P. A. Schorderet und B. Voutat sowie V. Barras ergänzen diese erziehungswissenschaftlichen Beiträge um die Perspektiven aus der Politikwissenschaft und der Medizin),
- den Grenzen zwischen den Wissenschaften und ihren Verschiebungen (A. M. Stroß am Beispiel des Verhältnisses von Medizin und Erziehungswissenschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert; M. Schubeius im Blick auf die Institutionalisierung der Psychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland; V. Lussi, Chr. Muller und V. Kiciman desgleichen im Blick auf die spezifischen Entwicklungen in Genf) sowie
- dem Spannungsverhältnis zwischen lokaler und internationaler Dimension der Wissenschaftsentwicklung (L. Criblez für die Schweizer Universitäten; A. Gretler am Beipiel der European Educational Research Association EERA; P. Bertolini und M. Tarozzi im Hinblick auf die Erziehungswissenschaft an den italienischen Universitäten und schließlich J. Schriewer in einer Sicht auf globale Entwicklungen und "nationale Reflexionstraditionen").
Die Ergebnisse der einzelnen Beiträge detailliert zu referieren, ist im Rahmen dieser Sammelbesprechung jedoch nicht beabsichtigt. Vielmehr stellt sich die Frage, welche Forschungsperspektive durch diesen Band aufgezeigt wird. Dies kann man deutlich machen an dem Fokus, der die Beiträge eint, und an Fragestellungen, die man traditionellerweise erwarten würde, die aber hier fehlen. Gemeinsam ist den meisten Beiträgen die Orientierung an einer sozialwissenschaftlichen und sozialgeschichtlichen Perspektive, der es nicht um die "Helden und Denker" (J. Dolch) geht, sondern um die Strukturen und Prozesse der Disziplinbildung und -entwicklung. Dieser Orientierung werden selbst die wenigen Beiträge, die sich mit lokalen Entwicklungen befassen, nachgeordnet. Der Verweis auf die Strukturen zeigt auch schon die zweite Besonderheit des Bandes an: nicht einzelne Theoretiker, wissenschaftliche Schulen oder Theorien und deren Exegese stehen im Mittelpunkt, sondern das Gesamttableau der Entwicklung soll aufgezeigt werden. Dass dies nicht in allen Aufsätzen gleichermaßen gelingt, ist freilich immer auch der Komplexität des Themas geschuldet.
Sind darum aber Einzelfallstudien unnötig und obsolet? Dies kann man nicht behaupten, wenn man die Vielzahl einschlägiger Studien im deutschen Kontext betrachtet. Hier hat insbesondere die Zeit des Nationalsozialismus und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung der Erziehungswissenschaft bzw. auf die Biographien und Theorien ihrer Fachvertreter besondere Aufmerksamkeit erhalten, und innerhalb dieses Rahmens werden insbesondere die Vertreter der sog. geisteswissenschaftlichen Pädagogik - mal kritisch, mal apologetisch - in den Blick genommen.
In diese Tradition lassen sich die Bände von C. Heinze über die Pädagogik an der Universität Leipzig, H. Retter über Oswald Kroh, W. Klafki und J.-L. Brockmann über Herman Nohl und seinen Kreis und von G. Meyer-Willner sowie von W. Sacher und S. Martinsen über Eduard Spranger einordnen. Auch diese Bände werden nicht im Einzelnen und detailliert vorgestellt, sondern unter dem Blickwinkel der Forschungsperspektive befragt.
Interessanterweise gibt es, wie die Bände belegen, immer noch viel Neues zu entdecken, wenn man sich den Quellen jenseits der publizierten Schriften zuwendet. Dies wird augenfällig an der umfangreichen Dokumentation über Kroh bei Retter und an der Auswahlausgabe des Briefwechsels zwischen Spranger und Käthe Hadlich von Sacher/Martinsen. Aber auch die anderen Bände basieren auf einer Vielzahl bisher nicht bekannter oder zumindest nicht benutzter Quellen. Dies hat u.a. mit den Sperrfristen in den Archiven zu tun, aber sicher auch mit der zunehmenden Distanz zu der Zeit, die untersucht wird.
Distanz ist aber nicht gleichbedeutend damit, dass es vornehmlich jüngere Kolleginnen und Kollegen wären, die sich mit der Vergangenheit abmühen. Nur von dem Autor der Leipziger Studie lässt sich sagen, dass er nicht nur mit der Zeit des Nationalsozialismus, sondern auch mit den Protagonisten der Darstellung keinen - zumindest keinen erkennbaren - Berührungspunkt hat. Vielleicht ist Heinzes Studie auch darum in der Konzeption unterschieden von den anderen. Der Autor hat zuvor schon einige Beiträge zu Theodor Litt veröffentlicht, wendet sich aber in seiner Studie nicht Litt allein zu, sondern versucht, die Entwicklung der Pädagogik an der Universität Leipzig im Kontext der institutionellen und personellen Konstellationen und der wissenschaftspolitischen Rahmenbedingungen zu analysieren. Dabei werden im zweiten, umfänglicheren Teil allerdings dann doch wieder die Positionen von Fachvertretern (H. Schneider, H. Volkelt, Th. Litt) bzw. von wichtigen Randfiguren (H. Freyer, E. Bergmann) nacheinander dargestellt. Heinze folgt im ersten Teil seiner Arbeit also in einem gewissen Maße den Vorstellungen, die in dem o.g. Band von Schneuwly/Hofstetter zu erkennen waren, und ermöglicht so eine Kontextuierung der verschiedenen Ansätze, ohne diese Möglichkeit aber selbst zu nutzen. So stehen beide Teile letztlich doch eher nebeneinander.
Eine ebenfalls über die Einzelperson hinausgehende "individual- und gruppenbiografische" Studie wird im Untertitel des Bandes von Klafki/Brockmann versprochen. Ausführlich werden die Debatten und Entwicklungen des Kreises um Nohl in den Endjahren der Weimarer Republik und zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft dargestellt, wobei die Friktionen innerhalb dieses Kreises, der sich in Befürworter und Kritiker des nationalsozialistischen Regimes teilte und darüber hinaus nicht wenige Mitglieder hatte, die emigrieren mussten, und vor allem die "Annäherung" Nohls an den Nationalsozialismus eingehend thematisiert. Dabei wird sichtbar, dass die Autoren des Bandes sich ein anderes Ergebnis ihrer Studien gewünscht hätten, eine deutliche Distanzierung Nohls vom Nationalsozialismus sowie vor allem eine Auseinandersetzung Nohls mit seinen eigenen Texten und insbesondere mit seiner Vorlesung über "Die Grundlagen der Nationalen Erziehung" vom WS 1933/34. Gegenüber der Einschätzung einer Kontinuität im Denken Nohls, wie sie u.a. Hasko Zimmer vertritt, den die Autoren fälschlicherweise als "Keim-Schüler" bezeichnen, ist für Klafki/Brockmann eine langsame Annäherung Nohls an einige Elemente des Nationalsozialismus in den frühen 1930er Jahren erkennbar, die bei einem Treffen des Nohl-Kreises im August 1933 eine deutliche Verstärkung erfuhr. Die spätere Abwendung vom Nationalsozialismus hinzunehmend erscheint so die genannte Vorlesung als ein Dokument einer nur zeitweiligen Verirrung. Dieses Muster ist aus der Geschichte des Umgangs mit dem Nationalsozialismus nicht unbekannt und kann daher durchaus plausibel gemacht werden. Für eine abschließende Wertung sind aber auch die ausführlichen Darstellungen in diesem Band nicht ausreichend. Viel eher muss man festhalten, dass am Ende viele Fragen offen geblieben sind.
Was die Arbeit von Klafki/Brockmann hervorhebt, ist die detaillierte Kontextualisierung des Geschehens. Nicht die Vorlesung allein wird thematisiert, sondern ihre Entstehung aus einem bestimmten Milieu und ihre Stellung innerhalb eines längeren Prozesses nachgezeichnet. Weitere solche dichten Darstellungen und Beschreibungen sind nötig, um die Entwicklungen in jenen Jahren noch tiefer und vergleichend analysieren zu können.
In eine ähnliche Richtung geht die Studie und Dokumentation von H. Retter über O. Kroh. In der Einleitung schildert Retter, wie er Mitte der 1960er Jahre zu seinem Dissertationsthema - er schrieb eine Arbeit über Krohs Pädagogik - kam und wie er mit dem schon damals sichtbar werdenden Problem der nationalsozialistischen Vergangenheit umging: es wurde "auf kleinster Flamme gekocht" (13). Das hier vorgelegte Buch dokumentiert somit die Arbeit an einer zweifachen "Verdrängung" und ist allein schon unter diesem Gesichtspunkt von hohem Interesse, denn der Autor thematisiert seine eigene Geschichte immer mit, ohne in Selbstanklage oder Apologie zu enden.
Etwa die Hälfte des Bandes nehmen die Dokumente ein, die, ausgehend von den Nachkriegserinnerungen von Schülern und Mitarbeitern Krohs in der Zeit des Nationalsozialismus, sich insbesondere den Jahren 1937 bis 1950 widmen. Im Mittelpunkt stehen dabei Dokumente zu den Versuchen Krohs, nach 1945 an der Berliner Universität (später Humboldt-Universität) bzw. an der Freien Universität wieder eine Professur zu erlangen, sowie Gutachten über und Texte von Kroh aus den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft, die das Bild eines Forschers zeichnen, der eine nationale Grundhaltung aufwies und sich in der Zeit des Nationalsozialismus als Hochschullehrer und Wissenschaftspolitiker exponierte. Diese Dokumente, die eine wichtige Grundlage der Interpretation Retters bilden, erlauben es dem Leser, sich ein eigenes Bild zu machen, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass es sich nur um eine Auswahl von relevanten Dokumenten handeln kann. Retter bezieht sich denn auch in seiner Darstellung immer wieder auch auf Veröffentlichungen Krohs, die in der Dokumentation lediglich als Gegenstand von Beurteilungen vorkommen. Aus diesen Beurteilungen wird aber wiederum ersichtlich, wie problematisch die Einschätzung Krohs (und anderer in der Nazizeit publizierender Pädagogen) ist, denn sie zeigen eine Bandbreite von Anerkennung bis hin zu Ablehnung, jeweils auch von unerwarteter Seite, wenn andere sich als Nationalsozialisten verstehende Wissenschaftler Kroh kritisieren und Vertreter der Pädagogik in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR Kroh positiv bewerten. Eindeutige Urteile sind als auch hier nicht zu erwarten.
Eine Auswahl aus einem größeren Kontext liegt auch mit der Publikation der Briefe vor, die Spranger und K. Hadlich zwischen 1903 und 1960 gewechselt haben. Die ausgewählten Briefe und Karten umfassen zwar lediglich einen Bruchteil der gesamten Korrespondenz, bieten aber tiefe Einblicke in Leben und Werk Sprangers. Einige Aspekte werden von den Herausgebern im Anhang angesprochen, aber eine das Material insgesamt ausmessende Analyse ist auf den wenigen Seiten sicher nicht zu erwarten. Die Fragen jedoch, die dort gestellt werden – z.B. ob Spranger Antisemit war, was einige Textstücke nahelegen –, sind allemal von weiterführendem Interesse. Solche und weitere Fragen werden sich besser beantworten lassen, wenn auch die restlichen Briefe ediert werden, was hoffentlich bald geschieht. Ohne Berücksichtigung dieser Briefe scheint mir aber eine fundierte Auseinandersetzung mit Spranger nicht mehr möglich, und dies nicht nur in biographischer Hinsicht, sondern auch im Blick auf sein Werk.
In dem von Meyer-Willner herausgegebenen Sammelband werden diese und andere Aspekte auf der Grundlage der Briefe und anderer Quellen schon bearbeitet. Die Beiträge werden eingerahmt von einem Abriss der Spranger-Forschung von W. Eisermann am Anfang des Bandes und der Dokumentation eines autobiographischen Textes von Spranger über "Meine Studienjahre – 1900 bis 1909" an seinem Ende, kommentiert wiederum von Eisermann. Die Bandbreite der Beiträge reicht von der Auseinandersetzung mit Sprangers Erziehungsphilosophie (H.-E. Tenorth), der Darstellung von Sprangers Tätigkeit als Privaterzieher und Lehrer (W. Sacher), der Analyse des Verhältnisses Sprangers zum "Jüdischen" (K. Himmelstein) und zum "Faschismus" (F. H. Paffrath), die Diskussion des Wissenschaftsethos (G. Bräuer) und des Bildes der Frau bei Spranger (A. Fechner-Mahn) bis hin zur Beschäftigung mit säkularreligiösen Aspekten in Sprangers Kulturpädagogik und -psychologie (K. Priem) sowie seinem Konzept des Protestantismus (H. Retter).
Nicht alles davon ist neu, aber fast durchgängig ist der Versuch zu erkennen, die Quellengrundlagen auszuweiten und nicht bei den hergebrachten Deutungen allein stehen zu bleiben. Am deutlichsten wird dies pars pro toto in dem Beitrag von Himmelstein, der als Kritiker Sprangers und der Spranger-Forschung bekannt ist. Anhand einer Vielzahl von Einzelbelegen arbeitet Himmelstein die durchaus nicht immer angenehm zu lesende antisemitische Haltung Sprangers heraus, die sich bis in die Zeit nach 1945 finden lässt. Andererseits, und darauf weist Himmelstein selbst zumindest knapp hin, hat Spranger jüdischen Kolleginnen und Kollegen bzw. Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durchaus geholfen. Diese Diskussion ist noch nicht abgeschlossen, aber dass sie jetzt in einem Band zu Spranger aus dem Kontext seiner Anhänger geführt wird, deutet eine Öffnung des Diskurses zwischen Anhängern und Kritikern an, die lange überfällig war.
Der Durchgang durch die fünf Bände zur Pädagogikgeschichte in Deutschland verweist darauf, dass biographische und institutionenzentrierte Einzelfalldarstellungen durchaus ihre Bedeutung haben. Kritisch ist aber festzuhalten, dass eine Verknüpfung von struktureller und Einzelfall-Analyse nur ansatzweise zu finden ist. In der Regel wird in den vorgestellten Studien zwar eine weitergehende Kontextualisierung vorgenommen als in früheren Studien, was sich im Hinblick auf die Verhältnisse in der Zeit des Nationalsozialismus nur positiv bemerkbar macht, aber die Versionen der Kontextualisierung unterscheiden sich voneinander und sind zudem immer noch oft begrenzt. Dabei ist zugestanden, dass es schwer ist, den richtigen Grad zwischen Struktur und Fall zu treffen. Insofern sind die Erwartungen, die in dem Band von Schneuwly/Hofstetter für die Wissenschaftsgeschichte der Erziehungswissenschaft geweckt werden, zwar noch nicht eingelöst, aber es findet erkennbar eine Annäherung statt. Es bleibt also selbst in einem Bereich, von dem manche meinen, wir wüssten doch jetzt alles, noch einiges zu entdecken und zu erforschen.