Seit Ende der 60er Jahre werden von Bildungsreformern eine bessere Bildung für alle und der Abbau der autoritären Lehrerrolle gefordert. Mit dieser Forderung geht die Vorstellung einer autonomen Einzelschule einher, die im Rahmen vorgegebener Richtlinien eigene Programme entwickelt und eigene Schwerpunkte setzt. Die geforderte Autonomie der Einzelschule kann jedoch nicht von außen verordnet werden, sondern entwickelt sich durch innere Prozesse, die erst allmählich in Gang gesetzt werden können.
Hans-Ulrich Grunder und Gerd Schubert beschreiben in ihrem Band solche Schulentwicklungsprozesse und stellen dabei insbesondere die Rolle der Kommunikation und Kooperation zwischen den Lehrern sowohl bei der Bewältigung von Alltagsproblemen als auch bei der Planung und Durchführung von neuen Projekten heraus. In sechs Schulen in Baden-Württemberg wurden Schulentwicklungsprozesse dokumentiert.
In einem einleitenden Kapitel von Hans-Ulrich Grunder wird die Vorgehensweise des Projektes "TĂĽbinger Ansatz der Schulentwicklung durch Kooperation und Vernetzung als wissenschaftliche Begleitung" skizziert. Die Idee der Schule als lernende Organisation und der Begriff Schulautonomie werden im Kontext der aktuellen Diskussion um die Schulentwicklung dargestellt.
In einem zweiten einleitenden Kapitel stellt Gerd Schubert den Forschungsansatz der "Hermeneutischen Schulentwicklung" als theoretische Basis des Projektes vor. Grundlegend für diesen Ansatz ist die Idee der "Schule als Polis", eines politischen Raumes, der durch das gemeinschaftliche menschliche Handeln entsteht und selbst aktives Handeln ermöglicht.
Nach diesen einleitenden Kapiteln ist der Band in drei Hauptteile gegliedert. Im ersten Teil werden die Schulentwicklungsprozesse an den sechs ausgewählten Schulen dargestellt, für die fünf Autorinnen und Autoren jeweils gesondert als Projektbegleiter ausgewiesen sind (T. Bohl, G. Klein, B. Loeben, M. Weingardt, J. Wenzel). Die in den jeweiligen Schulen stattfindenden Entwicklungsprozesse werden hier sehr facettenreich und ausführlich beschrieben, jedoch wird nicht deutlich, welche Stellung die Autoren selbst in der wissenschaftlichen Begleitung hatten. Die Berichte bleiben auf deskriptiver Ebene weitgehend ohne reflexiv-wissenschaftliche Perspektive. Inwieweit die Umsetzung des vorher formulierten Anspruches einer wissenschaftlich begleitenden Unterstützung folgt, gerät damit aus dem Blick.
Im zweiten Hauptteil werden gesondert Bedingungen diskutiert, die von den Autoren als entscheidend fĂĽr den Schulentwicklungsprozess erachtet werden. Dies sind Beziehungen in Entwicklungsprozessen von Schulen (M. Weingardt), Transparenz und Ă–ffentlichkeit in Schulentwicklungsprozessen (B. Loeben, J. Wenzel) und Ressourcen in Schulentwicklungsprozessen (T. Bohl).
Im dritten Hauptteil (G. Schubert: Hermeneutik in Schulentwicklungsprozessen) werden die Beobachtungen aus den Einzelschulen in den Kontext der theoretischen Überlegungen gestellt. Gerd Schubert betont hier den Unterschied zwischen Unterrichtsentwicklung und Schulentwicklung. Die Idee der "Schule als Polis" impliziert eine gemeinsame konsensorientierte Schulentwicklung, die weit über die Unterrichtsentwicklung hinausgeht. Zum Übergang von der "Schule als Verwaltung" zur "Schule als Polis" gehören neue Formen der Verständigung, die wiederum weitere Ressourcen wie Zeit und Kompetenzen erfordern.
Theoretische Konzepte und Erfahrungsberichte aus der Praxis ergänzen sich so, dass die Planung und Vorgehensweise im Projekt nachvollziehbar wird. Auch das zusammenfassende Kapitel im dritten Hauptteil verbindet Theorie und Praxis so, dass ein rundes Gesamtbild entsteht. Insgesamt stellt sich der Band jedoch mehr als eine Dokumentation laufender Schulentwicklungsprozesse denn als Bericht einer wissenschaftlich begleitenden Unterstützung dar.
Zudem erweckt der Band stellenweise den Anschein einer unkorrigierten Vorversion. Weithin der Schweizer Orthographie folgend, wurden die "ß" aus der alten Rechtschreibung in vielen Fällen, aber ohne erkennbares Kriterium, in "ss" umgewandelt. Manche Graphiken (so auf S. 104, S. 127 und S. 142) sind so winzig, dass sie kaum lesbar sind, und an zwei Stellen (S. 69 und S. 71) sind Graphiken eingebunden, die durch fehlende Beschriftungen und fehlende Erläuterungen im Text vollkommen unverständlich bleiben. Dass diese formalen Fehler weder den Autoren noch dem Verlag aufgefallen sind, ist äußerst bedauerlich und lässt einen Eindruck von Lieblosigkeit zurück. Diejenigen Leser, die in der Lage sind, darüber hinwegzusehen, finden in diesem Band jedoch eine interessante Darstellung konkreter praktischer Erfahrungen im Schulentwicklungsprozess.
EWR 1 (2002), Nr. 5 (Oktober - Dezember 2002)
Schulentwicklung durch Kooperation und Vernetzung
Schule verändern
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002
(257 Seiten; ISBN 3-7815-1180-4; 24,80 EUR)
Vera Husfeldt (Göttingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Vera Husfeldt: Rezension von: Grunder, Hans-Ulrich: Schulentwicklung durch Kooperation und Vernetzung, Schule verändern, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002. In: EWR 1 (2002), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.12.2002), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/78151180.html
Vera Husfeldt: Rezension von: Grunder, Hans-Ulrich: Schulentwicklung durch Kooperation und Vernetzung, Schule verändern, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2002. In: EWR 1 (2002), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.12.2002), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/78151180.html