EWR 3 (2004), Nr. 5 (September/Oktober 2004)

Fritz Bohnsack
Demokratie als erfĂĽlltes Leben
Die Aufgabe von Schule und Erziehung. Ausgewählte und kommentierte Aufsätze unter Berücksichtigung der Pädagogik John Deweys
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2003
(454 Seiten; ISBN 3-7815-1297-5; 24,80 )
Demokratie als erfülltes Leben Fritz Bohnsack stellt in diesem Buch Aufsätze aus vier Jahrzehnten seiner Denkgeschichte zusammen und kommentiert sie aus seiner heutigen Perspektive. Dabei bezieht er aktuelle Forschung und Überlegungen zu Schulreform und Lehrerbildung auf Themen wie 'Demokratie', 'erfülltes Leben', 'Sinn', 'Selbsterziehung'. Es geht Bohnsack weniger um Theorieentwicklung als um – im biografischen Vorwort begründete – wertbezogene Anliegen und die Hoffnung, dass "eine Reform der Schule verhindern könnte, dass der Wahnsinn der Nazi-Zeit und des Krieges sich wiederholt" (8). Den roten Faden des Buches bildet Bohnsacks Verständnis vom "Leitbild einer demokratischen Schule", das er als für sein Leben zentralen sinnstiftenden "Bewegungsgrund" bezeichnet (8).

Bohnsack bezieht sich auf eine Fülle schulpädagogischer sowie schul- und religionspsychologischer Forschung und Literatur auch aus der neuesten Zeit und greift deren Befunde und Problemstellungen auf. Theoretische Hauptbezugspunkte seiner Kommentare bleiben über die Jahre hinweg die Schriften von John Dewey und Martin Buber. Diese (und die Schriften Makarenkos) werden in den beiden ersten Kapiteln des Buches erörtert. Es folgen Überlegungen zu Strukturen einer 'demokratischen' Schule (3. Kapitel), 'demokratischen' Lernprozessen (4. Kapitel), 'demokratischen' Strukturen einer Lehrerausbildung und -fortbildung (5. Kapitel) sowie zu Belastung, "Sinn-Entwicklung" und "erfülltem Leben" bei Lehrern (6. Kapitel). Die Reihenfolge der Beiträge entspricht in etwa der Chronologie ihres Erscheinens (wenn bei Zitaten im vorliegenden Text eine Jahreszahl vermerkt ist, zeigt sie das Jahr der Ersterscheinung des zitierten Textes an.) Jeden Artikel kommentiert Bohnsack im Anschluss und nimmt dabei auf Dewey Bezug. Dabei hat er den Anspruch, "nicht nur Aktualität und Grenzen von Deweys Ansatz, sondern überhaupt des Konzeptes von 'Demokratie' als erfülltes Leben" (8) zu erweisen.

Internationale Befunde zu Schulmüdigkeit, Schulunlust nimmt Bohnsack zum Ausgangspunkt, um provozierende Fragen an die derzeitige Erfolgs- und Leistungsorientierung (Evaluation, PISA) zu stellen (1987, 170). Er fordert einen pädagogischen Leistungsbegriff sowie Beteiligung und Mitverantwortung der Schüler beim Organisieren von Lernprozessen (1987, 176). Ausgehend von Befunden zu Diskrepanzen zwischen formulierten Zielen im Feld Schule und den Effekten schulischer Interaktionen plädiert er für die "Überwindung des heimlichen Lehrplans antisozialer Lernprozesse in der Schule" (1996, 229ff) und verfolgt die These, "daß eine wachsende 'Offenheit' von Unterricht als Voraussetzung einer Erziehung zur 'Mündigkeit' normativ geworden sei" (1981, 129). Bezugnehmend auf Befunde zum wachsenden "Sinndefizit" in Schulen (Hurrelmann 1980, hier 1990, 267) verbindet er seine reformpädagogische Kritik an schulischen Lernstrukturen und Lehrerrolle mit Fragen nach sinnvollen Lebensperspektiven.

Den Dreh- und Angelpunkt für Schulreformen sieht Bohnsack in einer " Selbsterziehung der Lehrer-Person" (1999, 245). "Selbsterziehung" umfasst für ihn einen kritischen Umgang mit 'Pflichten' (2001, 434), Sinnentwicklung (2003, 379ff), Gelassenheit und Präsenz, "eine gewisse Souveränität der Distanz gegenüber Belastungen und Überforderungen von außen und innen" (1999, 245), eine Haltung der Absichtslosigkeit im zielgerichteten Handeln (1999, 247) und "eine langsame und nachhaltige Verwandlung der Person in Richtung Stille und Stabilisierung" (2001, 374). Er sieht darin eine Passung zur Biografieforschung (2001, 435) und grenzt sich ab von Tendenzen in der Forschung zur Belastung von Lehrern, welche aus seiner Sicht Kontrolle der Lebensgeschehnisse zum entscheidenden Kriterium für gelingende Lehrertätigkeit betonen (2001, 371). Bohnsack vertritt die These, dass Selbstreflexivität ebenso 'Selbstmanagement' bzw. 'Psychohygiene' (Fend 1998) unzureichend sind für die angesichts der Belastungen von Lehrern erforderliche "personale Stabilität" (2001, 371). Diese umfasst als "religiöse Stabilisierung" (2001, 367) nach Bohnsack wesentlich Hingabe und Entspannung im Wissen um die Grenzen aller rationalen Bemühungen und das Bewusstsein eines nicht-kontrollierbaren, umgreifenden Ganzen.

Bohnsack beruft sich mit allen genannten Aspekten auf Dewey. Zentrale Bedeutung gewinnt dabei Deweys Demokratieverständnis, demgemäß die Entfaltung der Qualität individueller Erfahrungen und die Wertschätzung ihrer Vielfalt die Basis für soziale Qualifizierung darstellen. Als Grundlage einer demokratischen Schule nimmt er Bezug auf Deweys Verständnis von indirektem Lehren und handlungsorientiertem Lernen (occupations) (33-41) und rekurriert u.a. auf die "Grundhaltung des Experimentierens" (158), die Integration von Interesse und Leistung und "offene Kommunikationen und Kooperationen angesichts spezifischer Situationsproblematik" (1993, 193). In den späteren Kapiteln greift er insbesondere Begriffe wie "the sense of an enveloping whole" und "peace in action" (370) aus Deweys späteren Schriften zu Religion und Ästhetik auf.

Bohnsack bewegt sich dabei durchgängig auf einer normativ appellativen Ebene. Dabei behandelt er pädagogische Ideen nicht so sehr als Hypothesen und revisionsbedürftige Unterscheidungen für Beobachtungen (wie er selbst es für Dewey referiert, S. 16), sondern als generalisierbare Ideale für Lehrer, die "zu Subjekten der Veränderungen werden müssen" (158, Herv. R.L.-R.; zum häufigen Gebrauch des Modalverbs vgl. u.a. 227, 246). Damit wird ein Kernpunkt von Deweys Philosophie unterlaufen: von Situationen her zu denken, also Handeln nicht von Intentionen und Idealen (an die appelliert werden kann) aus zu betrachten, sondern von beobachtbaren (Überraschungs-)Effekten und rekursiven Prozessen. Bohnsack verwendet oft Deweys Begriffe, ohne dessen philosophische Implikationen mitzudenken: z.B. Deweys Verständnis von intersubjektiv bedingter, habituell konstituierter Subjektivität sowie den zentralen Stellenwert von Situationen und Interaktionen. In diesem Kontext können beispielsweise "Person" oder "personale Autorität" – zentrale Begriffe bei Bohnsack – kaum ungebrochen übernommen werden. Dewey selbst grenzt sich immer wieder explizit ab vom Konzept der "Introspektion", welches Bohnsack hingegen als "das konstituierende Element jeden biografischen Lernens bezeichnet" (2001, 409). Wenn Bohnsack die Kernidee von Deweys laboratoy school, dessen Verzicht auf allgemeine Zielvorgaben und das Reflektieren erfolgter Situationen des Interagierens und Lernens, nur als Bedürfnisorientierung deutet (2003, S. 158), ignoriert er den systematischen Stellenwert von Situationen in Deweys Philosophie. Gerade Bohnsacks Kritik an Dewey bezieht sich häufig auf Stellen, an denen Dewey sich idealisierenden und normierenden Denkformen entzieht: Wenn er z.B. an Dewey bemängelt, dass dieser auf 'Autorität' der Lehrer-Person verzichte (2003, 265) oder dass er "den Zugang zum 'umgreifenden Ganzen' nicht in seine Pädagogik aufgenommen hat" (442). Das Potential, das Dewey mit seinen Bemühungen um Unterbrechung alltäglicher Denkgewohnheiten zur Verfügung stellt, wird so kaum genutzt.

Bohnsacks wertbezogene Antworten auf Befunde der Schulforschung bedeuten einerseits eine mutige Irritation von Tendenzen zu Beschleunigung, Dauerwettkampf und Erfolgszwang sowie eine engagierte Herausforderung für die derzeit verbreitete schulpädagogische und bildungspolitische Orientierung an Effektivität und Messbarkeit. Andererseits sind seine Empfehlungen, Entspannungstechniken und die Entwicklung religiöser Haltungen in ein "Anforderungsprofil für Lehrerausbildung" (2001, 434) aufzunehmen und Studium und Referendariat als "Initiation" in eine lebenslange Arbeit der "Selbsterziehung" (2001, 431) zu verstehen, in verschiedenen Hinsichten problematisch. Entgegen expliziten Absichten sind sie nicht nur mit der Gefahr verbunden, Potentiale und Anforderungen wissenschaftlicher Lehrerbildung – z.B. begrifflich reflexiver Arbeit an Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten im Sinn Deweys – zu vernachlässigen, sondern darüber hinaus mit Tendenzen, Lehrer auf immer subtilere Weise in persönlichen Bereichen zu normieren.
Roswitha Lehmann-Rommel (Freiburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Roswitha Lehmann-Rommel: Rezension von: Bohnsack, Fritz: Demokratie als erfĂĽlltes Leben, Die Aufgabe von Schule und Erziehung. Ausgewählte und kommentierte Aufsätze unter BerĂĽcksichtigung der Pädagogik John Deweys, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2003. In: EWR 3 (2004), Nr. 5 (Veröffentlicht am 05.10.2004), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/78151297.html