EWR 6 (2007), Nr. 5 (September/Oktober 2007)

Tilman Grammes / Henning Schluß / Hans-Joachim Vogler
Staatsbürgerkunde in der DDR
Ein Dokumentenband
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006
(558 S.; ISBN 3-8100-1893-9; 44,90 EUR)
Staatsbürgerkunde in der DDR Mit dem Untergang der DDR verschwand auch das Fach Staatsbürgerkunde. Die „gelernten DDR-Bürger“ sind mittlerweile in die Jahre gekommen und die heutigen Jugendlichen in den neuen Bundesländern kennen Staatsbürgerkunde bestenfalls aus Geschichten ihrer Eltern und Großeltern. Zwar galt das Unterrichtsfach Staatbürgerkunde in der DDR sowohl im Bewusstsein der Bevölkerung als auch aus der Sicht der SED als wichtigstes Instrument politischer Erziehung im einheitlichen sozialistischen Bildungssystem und für Margot Honecker war es für die Vermittlung der „DDR-Ideologie“ ein durch nichts zu ersetzendes, unverzichtbares Fach. Dennoch stellt sich die Frage: Lohnt es heute noch, außer aus historischem Interesse, sich mit dem Fach Staatsbürgerkunde in der DDR zu befassen oder war es tatsächlich nur „eine Fußnote der Weltgeschichte“ (13), die ohne Schaden vergessen werden kann? Wer die Schrift von Tilman Grammes, Henning Schluß und Hans-Joachim Vogler liest, wird schnell zu einer anderen Meinung kommen. Einerseits scheinen Politische Bildung in der Bundesrepublik und Staatsbürgerkunde in der DDR mehr gemeinsam gehabt zu haben, als beiden Seiten bewusst war und ist, andererseits machen die Autoren deutlich, dass die Auseinandersetzung mit dem Fach Staatbürgerkunde als permanenter Wetzstein politischer Bildung dienen kann, „um dem immer möglichen Missbrauch durch neue vormundschaftliche Vermittlungsansprüche vorzubeugen“ (472).

Die vorgelegten Quellen und Interpretationen führen drei unterschiedliche und sich ergänzende Forschungsprojekte zusammen. Neben dem Projekt „Alltags- und Sozialgeschichte des Staatsbürgerkundeunterrichts in der DDR“ (Leitung: Günter C. Behrmann/Universität Potsdam und Tilman Grammes/ zu dieser Zeit TU Dresden. Laufzeit 1993-1996), das sich vor allem mit den Mikrostrukturen des Unterrichts, der Unterrichtskommunikation und den Erinnerungen der daran beteiligten Lehrer/innen und Schüler/innen beschäftigte, stammen wesentlich Teile aus dem Dissertationsprojekt von Hans-Joachim Vogler, das den Zugriff der staatlichen Kontrollinstanzen, also die polykratische strukturierte politische Steuerungsebene untersuchte und den Forschungsarbeiten von Henning Schluß zur DDR-Opposition, die einen kritischen Blick auf das Fach dokumentieren. Außerdem wurden zwei Gastbeiträge von Günter C. Behrmann aufgenommen, die die Promotionsforschung zur Staatsbürgerkunde dokumentieren und analysieren.

Es ist wahrscheinlich diese Vernetzung von mehreren Forschungsvorhaben, die dazu geführt hat, dass die Autoren weit mehr als „einen Dokumentenband“ vorgelegt haben. Insofern führt der Titel des Bandes den Leser/die Leserin in die Irre. Aber es ist keine ärgerliche Irreführung. Im Gegenteil: das Buch bietet vielmehr als der Titel vermuten lässt. Es ist keine bloße Sammlung von Dokumenten, die durch eine Einleitung, durch einige Interpretationen und vielleicht ein Fazit zusammengehalten werden. Der Band ist auf 558 Seiten eine dichte Beschreibung, Analyse, Interpretation und Reflexion des Unterrichtsalltags des Staatsbürgerkundeunterrichts der DDR anhand von zum Teil unveröffentlichten Dokumenten. Die Stellung und die Funktion der Dokumente sind dabei unterschiedlich. Zum Teil sind sie den einzelnen Kapiteln nachgestellt und sie sprechen dann für sich selbst, zum Teil sind sie geschickt und erhellend in die Darstellung und die Interpretationen eingebunden. Außerdem werden weitere Dokumente durch die Autoren in einem Online-Archiv zur Staatsbürgerkunde zur Verfügung gestellt.

Die Dokumente selbst und die damit verbundenen Analysen konzentrieren sich auf die 1970er und 1980er Jahre, „als das Fach Staatbürgerkunde organisatorisch hinreichend konsolidiert war und inhaltliche Strukturprobleme deutlich werden“ (26). Die Autoren versuchen eine multiperspektivische Sicht auf das Unterrichtsfach Staatsbürgerkunde in der DDR. Zum einen nähern sie sich ihrem Untersuchungsgegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven – Unterrichtskommunikation, Lehrer, Schülerinnen und Schüler, Staatsbürgerkundemethodik und Unterrichtsforschung, Jugendforschung, staatliche Bildungspolitik der SED sowie oppositionelle Sichtweisen. Zum anderen setzen sie unterschiedliche Methoden qualitativer Unterrichtsforschung ein: Inhaltsanalyse, narrative Interviews, Gruppeninterviews und Gruppendiskussionen, nachträgliche Reflexionen, Analysen handschriftlicher Unterrichtsplanungen und Schülermitschriften, Re-Analysen der Unterrichtsforschung in DDR-Dissertationen, Unterrichtsmitschnitte usw. (27). Dies ist ein neuer Zugang, der auch als Modell bzw. Vorbild für eine noch zu schreibende Geschichte der politischen Bildung in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland gesehen werden kann.

Den Analysen vorgeschaltet ist eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des Staatsbürgerkundeunterrichts (Kapitel 1), in der die Autoren zum einen deutlich machen, dass Staatsbürgerkunde in der Tradition obrigkeitsstaatlicher politischer Erziehung gesehen werden muss und in der einzelne Etappen der Entwicklung und der Ausgestaltung dieses Unterrichtsfaches herausgearbeitet werden.

Kapitel 2, das für mich eines der interessantesten Kapitel ist, beschäftigt sich mit der Unterrichtskommunikation. Sie wird in unterschiedlichen Formen dokumentiert, in Verlaufsbeschreibungen von Unterrichtsstunden aus Fachzeitschriften und Dissertationen. Mit technischen Medien, d.h. Unterrichtsaufzeichnungen durch Tonband, Film und Video und dem Versuch Erinnerungsspuren der Lehrenden und Lernenden in Gruppendiskussionen und nachträglichen Reflexionen zu erschließen. So gehören zu den Dokumenten nicht nur Teile aus transkribierten Unterrichtsstunden, sondern auch das Transkript einer Gruppendiskussion von 13 westdeutschen Politikdidaktikern, Schulpädagogen und Studenten, die die Tonaufzeichnung einer Staatsbürgerkunde „mit Westblick“ auswerten und den Unterricht unter den Leitfragen diskutieren, wie sich die Unterrichtsstunde zu ihren Erwartungen an Staatsbürgerkundeunterricht verhält, wie dieses Dokument interpretiert werden kann und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Politikunterricht in der alten Bundesrepublik sie sehen (131ff.). Insgesamt kommt dieses Kapitel zu dem Ergebnis, dass sich im Staatsbürgerkundeunterricht sowohl katechisierende als auch dialektische bzw. heuristische Unterrichtsgespräche finden lassen.

Kapitel 3 stellt die Perspektive der Lehrenden auf den Unterricht im Fach Staatsbürgerkunde in den Mittelpunkt. Thematisiert werden Lehrerausbildung, Planungsmaterialen und Unterrichtshilfen sowie die Weiterbildung der Stabü-Lehrerinnen und -Lehrer. Besonders interessant in diesem Kapitel sind die biographischen Erinnerungen aus dem Projekt „Alltags- und Sozialgeschichte des Staatbürgerkundeunterrichts in der DDR“, in dem Interviews mit mehr als 30 Lehrer/innen aus unterschiedlichen Regionen der DDR geführt wurden (177ff.). Diese Selbsteinschätzungen der Lehrerinnen und Lehrer und ihres Unterrichts können unmittelbar mit den Einschätzungen der Schülerinnen und Schüler verglichen werden, mit denen sich das nächste Kapitel beschäftigt.

Von der Perspektive der Wissenschaft aus ist das Kapitel 5 sicherlich das zentrale des Bandes. Es fragt danach, wie die Unterrichtspraxis durch die erziehungswissenschaftliche Forschung in der DDR wahrgenommen und bewertet wurde und versteht sich als einen Beitrag zur Wissenschaftssoziologie und -politik der DDR. Dieses Kapitel zeigt, dass trotz beständiger politischer Versuche der Vereinheitlichung und Dogmatisierung das intendierte Einheitlichkeitsparadigma der Forschungswirklichkeit nicht standhielt. So finden sich neben einer wissenschaftlich angeleiteten und empirisch orientierten Kritik der Unterrichtspraxis auch Kontroversen in der Disziplin der Staatsbürgermethodik. Es sind Kontroversen auf der Ebene der Konzeptionen z.B. zwischen Ekkehard Sauermann und Gerhart Neuner in den 1960er Jahren zum „Problemunterricht“ oder Kontroversen um die kommunikative Ausgestaltung des Unterrichts zwischen den lehrerbildenden Standorten Halle und Leipzig in den 1980er Jahren. Neben einer Analyse der unterschiedlichen „Methodiken“ für den Staatbürgerkundeunterricht, einschließlich der unveröffentlichten Methodik von 1988/89 enthält dieses Kapitel Dokumente zur Wirkungsforschung des Staatsbürgerkundeunterrichts und eine knappe Studie von Günter C. Behrmann über die Promotionsforschung zur Staatsbürgerkunde.

Kapitel 6 beschäftigt sich mit der Jugendforschung in der DDR, insbesondere mit der Arbeit des Zentralinstituts für Jugendforschung in Leipzig. Die als geheim eingestuften Dokumente machen nicht nur die zunehmenden Widersprüche zwischen offizieller Propaganda und den tatsächlich politisch-ideologischen Einstellungen der Jugendlichen deutlich; sie werfen gleichzeitig auch ein Licht auf die Rolle der Sozialwissenschaften in der DDR.

Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der staatlichen bzw. politischen Kontrolle des Staatsbürgerkundeunterrichts. Diese erfolgte durch unterschiedliche Institutionen und auf unterschiedlichen Ebenen. „Alle Kontrollinstanzen können entweder dem Parteiapparat der SED, dem ZK der SED, Abteilung Volksbildung, oder dem MfV, dort verschiedenen Abteilungen wie der Abteilung Unterricht oder Abteilung Gesellschaftswissenschaften, Hauptreferat Staatsbürgerkunde, zugeordnet werden“ (368). Bei der Überprüfung wurden Methoden der Hospitation, schriftliche und mündliche Befragungen von Lehrern und Direktoren sowie anhand des Lehrplans konzipierte Leistungstests eingesetzt. Dabei erschien der Staatsbürgerkundeunterricht den staatlichen Kontrolleuren als durchweg problematisch. Immer wieder werden Differenzen zwischen Theorie und Praxis aufgezeigt und Lehrende und Lernende scheinen grundsätzlich als potentiell deviante Akteure wahrgenommen worden zu sein.

Kapitel 8 macht deutlich, dass es zwar in der DDR „eigen-sinnige Verhaltensweisen“ gab, aber keine Unterrichtsdokumente aufgefunden werden konnten, in denen explizit oppositionelles Verhalten deutlich wurde.

Das Scheitern der Staatsbürgerkunde nach dem Mauerfall wird in Kapitel 9 aufgegriffen und das Buch endet mit einer ausführlichen, auch selbstkritischen Bilanz des gesamten Bandes, der als zusammenfassende und eigene Analyse der Staatsbürgerkunde in der DDR gelesen werden kann.

Der multiperspektivische Zugang, die unterschiedliche Verwendung der Dokumente, die Dichte der Analyse machen das Buch nicht immer einfach zu lesen, dennoch sollte der Leser/die Leserin den langen Atem und die Disziplin aufbringen, dieses Buch sorgfältig durchzuarbeiten. Ich kenne keine Arbeit, die so nah an die unterrichtliche Wirklichkeit des Staatsbürgerkundeunterrichts heranführt wie dieser „Dokumentenband“.
Peter Massing (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Massing: Rezension von: Grammes, Tilman / Schluß, Henning / Vogler, Hans-Joachim: Staatsbürgerkunde in der DDR, Ein Dokumentenband. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/81001893.html