EWR 1 (2002), Nr. 2 (April/Mai 2002)

Detlef Garz
Biographische Erziehungswissenschaft
Lebenslauf, Entwicklung und Erziehung. Eine Hinführung
Opladen: Leske und Budrich 2001
Margret Kraul / Winfried Marotzki (Hrsg.)
Biographische Arbeit
Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung
Opladen: Leske und Budrich 2002
(328 Seiten; ISBN 3-8100-3104-6; 25,50 EUR)
Biographische Arbeit Die beiden hier zu besprechenden Publikationen setzen sich mit einem in den letzten Jahren zunehmend wichtiger werdenden Bereich des Zugangs zu erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen und Theoriebildung, der Biographieforschung, auseinander.

Das Hauptanliegen von Garz ist es, die Biographische Erziehungswissenschaft theoretisch zu begründen. Er tut dies vor dem Hintergrund einer in erster Linie sozialwissenschaftlich verstandenen Erziehungswissenschaft, ohne sich jedoch von den Arbeiten der klassischen Pädagogik (geisteswissenschaftlich oder personal-transzendental) zu distanzieren.

Auf eine einführende Klärung der Verwendung und der Konnotation des Begriffes der "Entwicklung" aus Sicht des Autors folgt ein kurzer Überblick zu Theorien der menschlichen Entwicklung. Der Focus liegt hierbei auf dem strukturgenetischen Ansatz von Lawrence Kohlberg zur Entwicklung des moralischen Urteils und dessen Fortführung. Am Beispiel der Biographie einer jüdischen Frau in Deutschland zwischen 1900 und 1933 werden die Verknüpfungen biographischer Eckpunkte/Wendepunkte und der Entwicklung moralischer Urteilsbildung aufgezeigt. Ein weiteres Beispiel der Verknüpfung von Biographie und ethischer sowie intellektueller Entwicklung gibt Garz mit Hinweis auf Untersuchungen von Perry, der mittels der Analyse von mehreren Hundert Längsschnittinterviews mit Studierenden eine Typologie der Entwicklungsstufen, die Studierende während ihres Studiums durchlaufen, formulierte.

Im Anschluss daran werden zentrale Ergebnisse der Lebenslaufforschung vorgestellt (hier verweist der Autor zwar darauf, dass Lebenslaufforschung und Biographieforschung sowohl als synonyme als auch als differenzierende Konzepte verwandt werden, der Leser muss die Verwendung durch den Autor allerdings selbst erschließen). Im folgenden Kapitel werden die zentralen Aspekten der pädagogischen Anthropologie Heinrich Roths und das Modell der Humanontogenese von Dieter Lenzen als Vertreter einer Entwicklungspädgogik dargestellt. Um seine Vorstellung von der "Entwicklung als Ziel der Erziehung" zu veranschaulichen und zu konkretisieren diskutiert Garz unter Rückgriff auf Hobbes, Locke, Kant, Habermas u.a. die Frage wieviel zivilen Ungehorsam staatsbürgerliche Loyalität verträgt und welche erziehungswissenschaftliche Konsequenzen hieraus erwachsen. Der Band schließt mit der Vorstellung eines Harvard-Projektes aus dem Jahr 1999, das die Entwicklung, die Widerstandsfähigkeit und den Schulerfolg von Jugendlichen fördern soll.

Das teilweise recht dichte und theoretisch anspruchsvoll verfasste Werk entlässt den Leser am Ende etwas unvermittelt. Dieser Eindruck entsteht einerseits durch die zwar anschaulichen Beispiele, die jedoch kaum interpretiert sind, und andererseits durch die daraus resultierende Vermischung der theoretisch abstrakten mit der anschaulichen realen Ebene. Aber vielleicht liegt - positiv formuliert - gerade hier der Reiz, der zum Nachdenken, Nachlesen und somit als Anstoß zur persönlichen (intellektuellen) Entwicklung gesetzt wird. Andererseits schränkt dies auch den Leserkreis ein. Der Band bietet eine gute Arbeitsgrundlage für fortgeschrittene Studierende oder an den Grundlagen einer erziehungswissenschaftlich orientierten Biographieforschung interessierten Leserkreis.

Der von Margret Kraul und Winfried Marotzki herausgegebene Sammelband gibt einerseits einen breiten Ein- und Überblick sowohl über Grundlegung und theoretische Einordnung der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung innerhalb der Disziplin (Beiträge von Schulze und Marotzki) als auch Einblicke in konkrete biographisch orientierte Forschungsprojekte über die Lebensspanne und verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten und Gruppen. Der Beitrag von Dausien beschäftigt sich mit der Frage der Verbindung von Biographie und Sozialisation.

Nach diesen drei ersten Beiträgen auf (rein) theoretischer Ebene folgen eine Reihe interessanter Beiträge, denen konkrete biographische Forschungsarbeiten zu Grunde liege: Der Beitrag von Koller untersucht vor dem Hintergrund eines grundlegenden bildungstheoretischen Diskurses biographische Bildungsprozesse von Immigranten. Thiersch untersucht, welche Bedeutung autobiographische Materialien für die Soziale Arbeit haben. Bohnsack geht der Frage nach, welche biographische Leistungen männliche türkische Jugendlichen zur Orientierungs- und Identitätsfindungsarbeit erbringen müssen. Sann untersucht Biographien von Frauen, die sofort nach der Geburt ein Kind zur Adoption freigaben, nach den Auswirkungen die dieses Ereigniss auf den weiteren Lebensverlauf nimmt. Einen ganz neuen Ansatz wählt Brüdigam, der untersucht, ob biographische Arbeit auch medial, am Beispiel von medialen Fan-Gemeinschaften (Star-Trek), vermittelt werden kann. Der Beitrag von Alheit führt in die reale Welt zurück und untersucht vor dem Hintergrund des Konzeptes des Lebenslangen Lernens die Interdependenz von Biographieforschung und Erwachsenenbildung und die sich daraus ergebenden Veränderungen für die Institutionen der Erwachsenenbildung. Seitter und Kade diskutieren in ihrem Beitrag theoretische Konzepte und empirische Projekte zur Erwachsenenbildung. Von Feldens Beitrag befasst sich mit der Analyse von Lern- und Bildungsprozessen von Studentinnen eines Frauenstudienganges. Eine Arbeit zur Verbindung von Kindheitsforschung und Biographieforschung stellt der Artikel von Andresen dar, die Kindheit in der DDR untersucht. Mit Ortlepps Beitrag zu Gedächtnis und Generation schließt der Band.

Dieser kurze inhaltliche Überblick belegt wie breit und facettenreich sich die erziehungswissenschaftliche Biographieforschung bereits entfaltet hat. Der Band, dessen Aufbau schlüssig und informativ ist, ist einer breiten Leserschaft zu empfehlen.
Ruth Hoh (München)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ruth Hoh: Rezension von: Garz, Detlef: Biographische Erziehungswissenschaft, Lebenslauf, Entwicklung und Erziehung. Eine Hinführung, Opladen: Leske und Budrich 2001. Kraul, Margret / Marotzki, Winfried (Hg.): Biographische Arbeit, Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung, Opladen: Leske und Budrich 2002. In: EWR 1 (2002), Nr. 2 (Veröffentlicht am 00.04.2002), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/810031046.html