EWR 4 (2005), Nr. 3 (Mai/Juni 2005)

Andreas Poenitsch
Bildung und Relativität
Konturen spätmoderner Pädagogik
Wien: Königshausen & Neumann 2004
(151 S.; ISBN 3-8260-2783-3; 24,00 )
Bildung und Relativität Andreas Poenitsch unternimmt in seiner aus dem Jahr 2001 stammenden und nun nahezu unverändert publizierten Habilitationsschrift den Versuch, ein spezifisch modernes pädagogisches Relativitätsproblem zu analysieren. Dieses Relativitätsproblem sieht er dreifach dimensioniert: (1.) in der Verabschiedung einer einheitlichen Weltvorstellung zugunsten von Entwürfen pluraler Weltversionen, (2.) im Verständnis von Sozialisation als Wechselwirkungsprozess der Vergesellschaftung sowie (3.) im Nachweis der begrenzten Geltung des diskursiven Instrumentariums selbst. Vor dieser dreifach relativen Matrix expliziert Poenitsch Konturen eines spätmodernen Bildungsbegriffs.

"Bildungstheoretische Relativität (...) ist die Signatur heutigen pädagogischen Denkens und ihre Fixierung und Markierung unumgänglich für ein zukünftiges pädagogisches Denken" (9). So kontextualisiert Poenitsch die Titel gebenden Begriffe ‚Bildung und Relativität’. Mit dem Untertitel ‚Konturen einer spätmodernen Pädagogik’ kommt die Umrisshaftigkeit der These zur Sprache. Es wird deutlich, dass eine Problemkonstellation wie Relativität und Pädagogik eben bloß konturiert werden kann. Der Terminus ‚spätmoderne Konturen’ zeigt zudem an, dass es sich nicht um eine von der Moderne getrennte Epoche handelt; – die Kontinuität so mancher Problemlagen legt es nahe, von einer "Sicht auf die in der Moderne selbst angelegten (...) Tendenzen zu sprechen, in diesem Sinne also von Spätmoderne" (21). Für den bildungstheoretischen Bezug fordert Andreas Poenitsch jedenfalls den Begriff der Relativität (anstatt von Relativismus) ein, weil und "wenn es eine vordringliche Aufgabe von Bildung ist, sich von derart gedanklichen Fesseln zu befreien" (29), wobei jede Verfangenheit in allerlei ‚-Ismen’ als eine solche gedankliche Fessel beschrieben wird.

Die Arbeit versteht sich als eine, die "Präzisierung einer Lage, aufklärende Problemschärfungen, Freilegungen" (121) intendiert und keinerlei "positive Ãœberwindung" (27) von Problemlagen leisten will. Dennoch expliziert Andreas Poenitsch einen weit reichenden Anspruch seiner Analyse: Sie habe "für das gesamte pädagogische Denken und Handeln zu gelten, wenn auch in deren Verlauf nur einige wenige – allerdings zentrale – Voraussetzungen und Zusammenhänge pädagogischen Denkens zur Sprache kommen können" (10). Dieser Anspruch lässt sich nur über das vorliegende Verständnis von Pädagogik und Bildung erklären. Der Geltungsanspruch wird über den Bildungsbegriff aufgenommen, der unter Rekurs auf das Denken Theodor Ballauffs formuliert wird: Nur dort sei von Pädagogik die Rede, wo das Thema der Bildung erörtert werde. Daraus ergibt sich die "sachliche Ineinssetzung von Pädagogik und Bildungstheorie" (13). Auf diese Weise identifiziert Poenitsch "den Gedanken der Bildung in dessen historisch und systematisch zu begründenden aktuellen Version" als "einheitsstiftenden Gedanken" (ebd.). Damit liegt eine Analyse vor, die sich als "bildungsphilosophische" versteht, weil sie mit den "Mitteln und Methoden der Philosophie, allen voran der Erkenntnistheorie und Zweigen der Sprachanalyse, angegangen wird" (13). In methodischer Hinsicht bleibt ungeklärt, was nun genau der sprachanalytisch-philosophische Einsatz der Arbeit ist, ebenso wie die Frage die Lektüre begleitet, ob sich die Arbeit nicht doch über weiter Strecken als eine skeptische Arbeit verstehen ließe.

Doch nun zur zentralen Argumentation in den Hauptkapiteln, die sich über das Bildungsverständnis entwickelt: Bildung kommt über eine dreifache Verhältnisbestimmung zur Sprache, die sich als für den gesamten systematischen Aufbau der Arbeit relevant erweist. Diese Verhältnisbestimmung wird als das Verhältnis eines "Ich zu sich selbst", als das Verhältnis "eines Ich zu anderen Menschen" und als das Verhältnis zwischen "einem Ich und dem, was üblicherweise mit Welt bezeichnet wird" (18) gefasst. Diese dreifache Relationierung findet sich in drei Hauptkapiteln der Arbeit wieder aufgenommen.

Im ersten Hauptkapitel "Bildung und erkenntnistheoretische Relativität" kommt das Verhältnis von Mensch und Welt in den Blick. Dort findet sich eine Interpretation von Nelson Goodmans Modell von Welt und Welterzeugung, die eine Relativierung in eine Vielzahl möglicher ‚Weltversionen’ ermöglicht. Nelson Goodmans erkenntnistheoretisches Programm der ‚Weltversionen’ wird auf bildungstheoretische Implikationen hin untersucht, wobei dabei Anzeichen für ein fiktives Element im Bildungsgedanken ausgemacht werden.

Das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft analysiert Andreas Poenitsch in seinem zweiten Hauptkapitel ("Bildung und gesellschaftstheoretische Relativität"). Dort stellt sich die Frage nach der Konstitution des Sozialen als Frage nach dem Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft. Dieser Prozess der Vergesellschaftung wird bei Georg Simmel und dessen Neubestimmung von Sozialisation – als Folge eines dynamischen Gesellschaftsbegriffs und im Verständnis von Vergesellschaftung als Prozess der Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft – aufgesucht, wobei Sozialisation somit als Wechselwirkungsprozess von Vergesellschaftung perspektiviert wird. Damit wird auch ein gesellschaftstheoretischer Kontext bildungstheoretischem Nachdenken zugänglich. Folgend findet sich ein kurzer Exkurs zu systemtheoretischen Perspektiven, der Möglichkeiten und vor allem Grenzen eines systemtheoretischen Zugriffs auf Pädagogik thematisiert.

Das dritte Hauptkapitel "Bildung und argumentations- bzw. texttheoretische Relativität", das die Relation eines ‚Ichs zu sich selbst’ zu thematisieren hätte, findet sich in der Analyse nun modifiziert wieder. Statt in den Diskurs um Subjektivität, Identität und dessen Kritik einzutreten und weil hier eine Interpretation von Bildung gedacht wird, die dem Menschen weniger eine "Hauptrolle des über sein Denken Verfügenden" (25) als "die weniger gewichtige Rolle zuweist, Mittler zu sein zwischen Anspruch und Erfüllung mitmenschlicher und sachlicher Aufgaben" (25), wird hier eine "noch einigermaßen frische Diskussion" (26) aufgegriffen: jene um die Wiederbelebung der Rhetorik und Argumentationstheorie für pädagogisches Denken. So stellt sich die Frage, ob an die Stelle der Geltung und Verbindlichkeit von pädagogischen Aussagen nun Zustimmung tritt. Die zentrale These der Relativität von Rezeption wird verfolgt, um Konturen argumentations- bzw. texttheoretischer Relativität ausfindig zu machen.

Insbesondere im Anschluss an dieses dritte Hauptkapitel, das – dem systematischen Aufbau der Arbeit nach – das Verhältnis eines ‚Ichs zu sich selbst’ unter spätmodernen bildungstheoretischen Perspektiven zu verhandeln hätte, ergeben sich Rückfragen. Fraglich erscheint beispielsweise der ‚Verzicht’ auf eine Diskussion von Subjektivität und Identität: Ist mit der Diskussion von Argumentations- und Texttheorie oder von Rezeptionsästhetik tatsächlich jenes Terrain abgedeckt, in dem die Relationen des Subjekts zu sich selbst zur Sprache kommen? Wird die Frage nach spätmoderner Subjektivität so ‚umgangen’ oder kommt hier etwas nicht zur Sprache? Offen bleibt zumindest die Frage danach, wer denn zustimmt, wenn es beispielsweise um Zustimmung aufgrund von Geltung geht.

Die nachgezeichnete dreifache Relationalität – die Entwürfe pluraler Weltversionen, die alternative Deutung von Sozialisation als Wechselwirkungsprozess der Vergesellschaftung sowie der Nachweis der begrenzten Geltung des diskursiven Instrumentariums selbst – interpretiert Andreas Poenitsch als Anzeichen für ein spezifisches Relativitätsproblem, das Bildung neue spätmoderne Konturen gibt. Dabei – so die Schlussfolgerung – zeigen die drei exemplarischen Durchgänge, dass pädagogisches Denken und Handeln "umfassend und durchgängig von Relativität gekennzeichnet" (120) ist: "Pädagogische Relativität ist die Chance, aus Anlaß heute nicht mehr zu umgehender Mehrdeutigkeit zwischen Eindeutigkeit bzw. Allgemeingültigkeit und Beliebigkeit weiterzudenken" (122). Die hier konturierte Skizze pädagogischer Relativität könnte eine "skeptische Vorsicht gegenüber vorschnellen Antworten und vermeintlichen Lösungen verbreiten" (124) und damit – so Poenitsch – wäre in rebus paedagogicis schon einiges gewonnen. Auch in diesem Resümee wären weitere Explikationen und Präzisierungen hilfreich gewesen: Was ist nun damit gemeint, wenn es gilt "zwischen" (122) Eindeutigkeit und Beliebigkeit weiterzudenken? Wichtig wäre beispielsweise auch, ob die "skeptische Vorsicht" (124) nun ein Ergebnis der Studie oder ihr Einsatz ist.

Insgesamt lassen sich einige Punkte auf unterschiedlichen Argumentationsebenen der Sache nach problematisieren. Der ‚Problemkontext Relativität’ bleibt sowohl einleitend als auch im Ergebnis unscharf, ebenso wie die Verbindung von Bildung und Relativität ungeklärt erscheint: Welche Relationalität bezeichnet dieses ‚und’? Diese Fragen mögen gleichwohl als ein Indikator dafür gelten, dass ein an die Analyse gerichteter Anspruch eingelöst werden kann: eine Diskussion in Gang zu halten, Fragen als Fragen ohne direkten Lösungsanspruch offen zu halten. Aus diesem Grund kann die Lektüre des Buches – jedenfalls für alle an bildungstheoretischen Diskussionen Interessiere – als ein Gewinn bezeichnet werden. Sie ermöglicht eine differenzierte Sicht auf mögliche bildungsrelevante Bereiche heute, in denen nicht absolute Gewissheiten und Sicherheiten, sondern relative relationale Verstrickungen der Bildenden mit sich, mit anderen und mit Welt auszumachen sind. Auf den knapp 150 Seiten findet sich eine vom Aufbau her systematische Abhandlung eines exemplarischen Zugriffs auf den Fragekontext von Bildung und Relativität, der unter Bezug auf andere Referenzliteratur freilich auch Anderes in den Blick bekäme. Die auf Aktualität setzende Frage, ob heuer ein Buch mit dem Titel ‚Bildung und Relativität’ verändert geschrieben werden müsste, scheint m.E. nicht vordringlich zu sein; denn der vorgelegte, über manche Passagen skeptische Argumentations- und Gedankengang öffnet den Raum für ein (Nach-) Denken über Bildung, das auf eine nicht bloß in Jahreszahlen zu messende Aktualität verweist.





Elisabeth Sattler (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elisabeth Sattler: Rezension von: Poenitsch, Andreas: Bildung und Relativität, Konturen spätmoderner Pädagogik, Wien: Königshausen & Neumann 2004. In: EWR 4 (2005), Nr. 3 (Veröffentlicht am 20.05.2005), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/82602783.html