EWR 6 (2007), Nr. 5 (September/Oktober 2007)

Studien zur deutsch-jüdischen Bildungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert
- eine Doppelbesprechung

Andreas Brämer
Leistung und Gegenleistung
Zur Geschichte jüdischer Religions- und Elementarlehrer in Preußen 1823/24 bis 1872
(Reihe: Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. XXX)
Göttingen: Wallstein 2006
(550 S.; ISBN 3-8353-0031-8; 42,00 EUR)
Ursula Randt
Die Talmud Tora Schule in Hamburg 1805 bis 1942
München/Hamburg: Dölling und Galitz 2005
(283 S.; ISBN 3-937904-07-7; 14,80 EUR)
Leistung und Gegenleistung Die Talmud Tora Schule in Hamburg 1805 bis 1942 Mit den beiden Monographien von Ursula Randt und Andreas Brämer sind zwei weitere interessante Bücher zur deutsch-jüdischen Bildungsgeschichte erschienen. Dabei legt Brämer, derzeit stellvertretender Direktor des Hamburger Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, die erste detaillierte Untersuchung zur Geschichte der jüdischen Religions- und Elementarlehrer in Preußen im 19. Jahrhundert vor. Völlig zu Recht erkennt der Judaist und Historiker Brämer, dass auch viele der neueren, inzwischen kaum überschaubaren Publikationen zur preußischen Bildungs- und Schulgeschichte ihren Betrachtungswinkel weiterhin auf den christlichen Kontext beschränken und die jüdische Minderheit weitgehend unerwähnt lassen. Zwar hat besonders in den letzten Jahren eine rege Forschungstätigkeit zur deutsch-jüdischen Bildungsgeschichte auch seitens der eigentlich in der Pflicht stehenden Erziehungswissenschaft eingesetzt, aber dennoch ist der wissenschaftlich gesicherte Kenntnisstand hier noch immer ausgesprochen lückenhaft. Zumindest für den Bereich der jüdischen Religions- und Elementarlehrer ist ein Teil dieser Forschungslücke durch die fundierte und in ihrem Argumentationsgang gut nachvollziehbare Arbeit von Brämer nun geschlossen worden.

Die auf reicher Materialbasis entstandene, ca. 550 Seiten umfassende Spezialstudie zeichnet ein umfassendes Bild der Verberuflichungs- bzw. Professionalisierungsprozesse der jüdischen Lehrerschaft in allen preußischen Provinzen für die Zeitspanne von knapp 50 Jahren zwischen 1823/24 und 1872. Natürlich wird auch auf die dem Untersuchungszeitraum vorangehende Situation, die für die Modernisierung des jüdischen Schulwesens zentrale Impulse lieferte, in einem konzisen Überblick eingegangen. Die vorwiegend soziologisch und strukturgeschichtlich angelegte Untersuchung konzentriert sich nur auf das niedere Schulwesen, wobei die Definition von Kuhlemann [1] zugrundegelegt wird. Berücksichtigt werden sowohl Lehrkräfte in privaten und öffentlichen Volksschulen als auch die Privatlehrer, die – in Abgrenzung zum privaten Einzelstundenunterricht – in den Haushalten für die komplette Unterweisung jüdischer Kinder zuständig waren. Die letztgenannte Gruppe erhält in der Darstellung dann aber im Unterschied zu den Schullehrern relativ wenig Beachtung, was aber nachvollziehbar ist, da die Anzahl der jüdischen Hauslehrer bis zur Reichseinigung in den Statistiken zurückgeht. Auch die weiblichen Lehrkräfte finden bei Brämer aufgrund des quantitativen Arguments keine Berücksichtigung.

Die Studie basiert, neben einer Fülle von gedruckten Dokumenten und der umfangreichen Sekundärliteratur, im Kern auf einer Auswertung der Archivbestände vor allem der preußischen Verwaltung zum jüdischen Schul- und Unterrichtswesen, den Personal-, Schul- und Vorstandsakten der preußisch-jüdischen Gemeinden sowie der verschiedenen jüdischen Verbände. Besonders aussagekräftig sind die dabei zusammengetragenen und im Anhang abgedruckten Tabellen über den Schulbesuch jüdischer Kinder und die Anzahl der Lehrkräfte an jüdischen Schulen ab 1827 für jeden der preußischen Regierungsbezirke.

Das preußische Schulwesen im Allgemeinen, besonders aber das niedere Schulwesen und die seminaristische Ausbildung der Lehrer unterlagen starker konfessioneller Segregation. Der Staat förderte nur christliche Lehranstalten, weil das Judentum lediglich als tolerierte Religion betrachtet wurde. Da somit die politische, kulturelle, sozioökonomische und institutionelle Geschichte der jüdischen Religions- und Elementarlehrerschaft partiell getrennt vor dem Hintergrund der allgemeinen Entwicklung verlief, entscheidet sich Brämer zwar für eine sektorale Betrachtungsweise; er lässt die von ihm geschilderten Verberuflichungs- bzw. Professionalisierungsprozesse dennoch als integralen Bestandteil der deutschen Bildungsgeschichte bestehen, indem stets grundlegende bildungshistorische Erkenntnisse quasi als Folien in die einzelnen Abschnitte eingearbeitet sind. Aufgrund des gewählten Blickwinkels verzichtet Brämer auf systematische Vergleiche mit der Situation christlicher Lehrkräfte. Dennoch werden immer wieder aufschlussreiche Verbindungen bzw. Differenzen aufgezeigt, was nachfolgende Vergleichsstudien anregen könnte.

Aus bildungshistorischer Perspektive ist zu begrüßen, dass Brämer zur Eingrenzung des Untersuchungszeitraums nicht auf die sich anbietenden, üblichen politischen Epochengrenzen zurückgreift, sondern thematisch einschlägige Erlasse aus dem preußischen Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten als Eckpunkte wählt, die in den im Titel genannten Jahren bekannt gemacht wurden. Denn trotz der bürgerlich-rechtlichen Gleichstellung der diskriminierten jüdischen Minderheit durch das Emanzipationsedikt von 1812 fanden die Schulbestimmungen des Allgemeinen Landrechts erst mit den Ministerialerlassen von 1823/24 auch auf das jüdische Schulwesen Anwendung, womit zugleich ein Politikwechsel der preußischen Obrigkeit in dieser Frage sichtbar wird. Hinsichtlich der jüdischen Lehrer wurde ab diesem Zeitpunkt eine behördliche Überprüfung und Konzessionierung ihrer Unterrichtsbefähigung zur Voraussetzung ihrer Tätigkeiten gemacht; der preußische Staat begann in diesem bisher vernachlässigten Bereich seinen Gestaltungswillen zu artikulieren, was schließlich mit den „Allgemeinen Bestimmungen“ vom Oktober 1872, die erstmals auf eine landesweite Vereinheitlichung des preußischen Volksschul-, Präparanden- und Seminarwesens abzielten, seinen vorläufigen Abschluss erreichte.

Mit dieser starken Betonung der rechtsgeschichtlichen Rahmenbedingungen zeigt sich bereits einer der vier inhaltlichen Schwerpunkte der Untersuchung, die ihre systematischen Ansätze mit chronologischen Gliederungsprinzipien zu kombinieren weiß. Die drei weiteren, jeweils in eigenen Kapiteln herausgearbeiteten Aspekte umfassen die Möglichkeiten des fachlichen Qualifikationserwerbs, die sozioökonomische Lage und die berufliche Selbstorganisation der jüdischen Religions- und Elementarlehrer. Da der Untersuchungsraum den ganzen, sich in der fraglichen Zeitspanne territorial weiter ausdehnenden preußischen Staat umfasst, hält sich der Autor mit pauschalisierenden Beurteilungen zurück und nutzt die großen regionale Unterschiede zu einer differenzierten Analyse der lokalen und regionalen Besonderheiten. So nimmt die Darstellung bei der Erörterung der unterschiedlichen Qualifikationswege zum Religions- und Elementarlehrer Züge einer Institutionengeschichte an und geht dazu über, verschiedene jüdische Seminare in Berlin, Breslau, Münster, Hannover, Kassel und Bad Ems im Einzelnen darzustellen. Die dabei u.a. mit Hilfe der Lehrpläne aufgedeckten signifikanten Unterschiede der Ausbildungskonzeptionen verweisen auf die jeweils unterschiedlichen religiösen Auffassungen und die individuellen bzw. gemeinschaftlichen Versuche, jüdische Identität mit dem stattfindenden Modernisierungs- und Akkulturationsprozess zu verbinden. Ebenso wird die Betrachtung der sozioökonomischen Entwicklung und der zunehmenden Selbstorganisation der jüdischen Lehrerschaft in den größeren Zusammenhang der beschleunigten soziokulturellen Transformation der deutschen Juden im 19. Jahrhundert gestellt. Für Brämer wirft die Geschichte der jüdischen Religions- und Elementarlehrer in Preußen somit „ein Schlaglicht (...) auf den Prozess der Verbürgerlichung“ (439), die „auch als Indikator für den Erfolg der kulturellen Integrationsleistung herangezogen werden“ könne (31).

Von ganz anderer Art als die umfassende Untersuchung von Brämer ist die Veröffentlichung der im Mai 2007 leider verstorbenen Ursula Randt über die Talmud Tora Schule in Hamburg, der wichtigsten Schuleinrichtung des (neo-)orthodoxen Flügels der Deutsch-Israelitischen Gemeinde in Hamburg zwischen 1805 bis 1942. Den eigentlichen, mit reichem Bildmaterial versehenen Ausführungen, die 2/3 der knapp 300 Seiten umfassen, wird eine vollständige Liste der deportierten und ermordeten Angehörigen der Talmud Tora Schule vorangestellt. Außer diesem beklemmenden Zeugnis der NS-Verbrechen enthält der zweite Teil des Buches umfangreiche Anhänge, wobei neben Zeittafel, Anmerkungsapparat und Namensregister (ein Sachregister fehlt leider) die abgedruckten Erinnerungen von Zeitzeugen und die von der Autorin mühevoll rekonstruierten Lebensläufe der Lehrer, die auch für die Biographieforschung und die Hamburger Lokalgeschichte interessant sein dürften, beeindrucken.

Die Darstellung beschränkt sich weitgehend auf eine chronologisch gegliederte Institutionengeschichte, wovon einiges von der Autorin schon früher veröffentlicht wurde, was nun eine Ergänzung und neue Einbettung erfährt. Die Erörterung des rechtlichen, sozialen und geistesgeschichtlichen Bedingungsfeldes der Talmud Tora Schule findet nur ansatzweise statt, da die Autorin in von ihr bekannter Manier die Geschichte dieser Schule mit der Schilderung der mit ihr verbundenen Menschen und Ideen lebendig darstellt und deshalb auf strukturgeschichtliche Analysen verzichtet. Aus der Anlage dieser sozio-historiographisch orientierten Schilderungsweise ergibt sich, dass rechtsgeschichtliche Wendepunkte wie die hamburgische Verfassungsreform von 1860, die in den nachfolgenden Jahren auch zu einer Reorganisation der jüdischen Gemeinde und zu einer in Deutschland einzigartigen, bis 1938 in Kraft bleibenden innerjüdischen Toleranzverfassung führte (später als das „Hamburger System“ bezeichnet), wenig Beachtung finden, obwohl doch mit der Modifikation bzw. Aufhebung des Gemeindezwanges auch das Problem der Aufsicht und Finanzierung des jüdischen Schulwesens berührt wurde. Somit steht der fundamentale Zusammenhang der Entwicklung der Schule mit dem langwierigen Prozess der staatsbürgerlichen Gleichstellung der Hamburger Juden wie auch der Rechtsstellung und inneren Entwicklung der jüdischen Gemeinde im Untersuchungszeitraum nicht im Mittelpunkt der Untersuchung, obwohl der weit über Hamburg ausstrahlende so genannte „Tempelstreit“ in den Jahren nach 1817 von der Autorin gebührend berücksichtigt wird. Die minutiösen Schilderungen verschiedener Festveranstaltungen an der Talmud Tora Schule sind für einen mit den Hamburger Verhältnissen vertrauten Leser durchaus ergiebig, wobei eine genauere und systematische Aufschlüsselung der Schüler nach sozialer Herkunft hilfreich gewesen wäre. So finden sich nur vereinzelt Zahlen zu Schulbesuch und -abschlüssen (die Schule erhielt als „Höhere Bürgerschule“ 1869 die Befugnis zur Ausstellung von Berechtigungszeugnissen für den Einjährig-freiwilligen Militärdienst). Auch eine Kopplung der Daten zum allgemeinen Schulbesuch und den grundlegenden demographischen Entwicklungen in Hamburg mit den Zahlen der Talmud Tora Schule hätte ihre Bedeutung im Gesamtgefüge des Hamburger (jüdischen) Schulwesens besser zur Geltung bringen können.

Dennoch ist aus bildungshistorischer Perspektive diese Veröffentlichung mehr als die Summe der im Vorwort angekündigten „Episoden der Schulgeschichte“. Zum einen liegt mit ihr nach der von Joseph Goldschmidt anlässlich der Hundertjahrfeier der Talmud Tora Schule von 1905 veröffentlichten Schulgeschichte ein neuer Überblick über den gesamten Zeitraum der Existenz dieser Einrichtung vor. Zum anderen wird nach verschiedenen Publikationen [2] zu den von der jüdischen Aufklärung, der Haskala, initiierten und von Seiten des liberalen bzw. des „Reformjudentums“ getragenen, säkularisierten jüdischen Schulen, die in den letzten Jahren entstanden sind, mit dem Beitrag von Randt nun der Akkulturationsprozess des strenggläubig geblieben Teils des deutschen Judentums beleuchtet. Die Entwicklung von einer traditionellen Lehranstalt zur Unterweisung (und materiellen Versorgung) mittelloser jüdischer Knaben in Talmud und Tora zu einer religiös geprägten bürgerlichen Real- (1892) bzw. Oberrealschule (1932) zeichnet den Wandel des orthodoxen jüdischen Schulwesens in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert anschaulich nach. Dabei geht die Autorin auf zentrale Elemente des vor allem von dem Frankfurter Rabbiner Samson Raphael Hirsch geprägten neoorthodoxen Bildungsideals „Tora im Derech Erez“, also der Verbindung von traditionellem Judentum und moderner Bildung, ein, indem sie die von Isaac Bernay zwischen 1821 und 1829 an der Hamburger Talmud Tora Schule versuchten Modernisierungsmaßnahmen näher beschreibt, was für eine weitere bildungshistorische Forschung ebenso von Interesse ist wie die starke Orientierung der Schule an reformpädagogischen Methoden und Zielen unter der Leitung von Joseph Carlebach in den 1920er Jahren. Damit hat Ursula Randt in ihrem letzten Werk einen weiteren Beitrag zu der von ihr maßgeblich angestoßenen Erforschung des jüdischen Schulwesens in Hamburg vorgelegt.

Die beiden vorliegenden Arbeiten von Andreas Brämer und Ursula Randt laden zur weiteren Erforschung der deutsch-jüdischen Bildungsgeschichte ein. Insbesondere die ausgesprochen ergiebige Untersuchung von Brämer könnte als Bezugspunkt für nachfolgende und über den preußischen Kontext hinausgehende Spezialstudien aus lokal- oder regionalgeschichtlicher Sicht dienen.

[1] Kuhlemann, Frank-Michael, Modernisierung und Disziplinierung. Sozialgeschichte des preußischen Volksschulwesens 1794-1872, Göttingen 1992 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 96).

[2] Hier ist u.a. zu verweisen auf: Berg, Meike (2003): Jüdische Schulen in Niedersachsen. Tradition – Emanzipation – Assimilation. Die Jacobson-Schule in Seesen (1801-1922). Die Samsonschule in Wolfenbüttel (1807-1928). Köln/Weimar/Wien: Böhlau. Zu nennen ist auch die seit 2000 beim Waxmann Verlag erscheinende Publikationsreihe ‚Jüdische Bildungsgeschichte in Deutschland‘, hrsg. von Ingrid Lohmann, Britta L. Behm und Uta Lohmann. Hier vor allem Lohmann, Ingrid (Hg.) (2000): Chevrat Chinuch Nearim. Die jüdische Freischule in Berlin (1778-1825) im Umfeld preußischer Bildungspolitik und jüdischer Kultusreform. Eine Quellensammlung, Münster u.a.: Waxmann.
Peter Dietrich (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Dietrich: Rezension von: Brämer, Andreas: Leistung und Gegenleistung, Zur Geschichte jüdischer Religions- und Elementarlehrer in Preußen 1823/24 bis 1872 (Reihe: Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden Bd. XXX). Göttingen: Wallstein 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/83530031.html