EWR 6 (2007), Nr. 1 (Januar/Februar 2007)

Axel Schildt / Detlef Siegfried (Hrsg.)
Between Marx and Coca Cola
Youth Cultures in Changing European Societies 1960 - 1980
New York, Osford: Berghahn Books 2006
(424 S.; ISBN 1-84545-333-6; 32,90 EUR)
Between Marx and Coca Cola Der in der Folge eines internationalen Workshops zu Jugendkultur entstandene englischsprachige Sammelband von Axel Schildt und Detlef Siegfried untersucht PhĂ€nomene von Jugendkultur in der Zeit von 1960 bis 1980 vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen dieser Zeit in einer europĂ€ischen Perspektive. Damit markiert der Band zugleich zwei ForschungslĂŒcken innerhalb der Jugendkulturforschung. Zum einen sind die expressiven und politisch aufgeladenen jugendkulturellen Stile dieser Zeit innerhalb der systematischen, aber auch der empirischen Arbeiten zu Jugendkulturen bislang kaum umfassend untersucht worden. Zum anderen liegen trotz des teilweise globalen Charakters einzelner jugendkultureller Stile und Strömungen nur wenige komparativ angelegte Untersuchungen bzw. SammelbĂ€nde vor, in denen Jugendkulturen in verschiedenen Nationen vor dem Hintergrund ĂŒbergreifender sozialer Transformationsprozesse vergleichend in den Blick genommen werden.

Zugleich setzt der Band, wie die Anlehnung des Titels an den Film von Jean-Luc Godard [1] deutlich macht, an einem populĂ€ren Paradigma der Jugendkulturforschung an, deren Betrachtung zwischen der Zuschreibung von Emanzipation und Protest auf der einen und Konsumorientierung und MassenmedialitĂ€t in Jugendkulturen auf der anderen Seite schwankt. Die Herausgeber betonen in ihrem einfĂŒhrenden Beitrag gesellschaftliche VerĂ€nderungen wie ein steigendes politisches Interesse, die Entwicklung der Konsumkultur, die Bildungsexpansion, die sexuelle Liberalisierung, die Etablierung neuer Massenmedien und die steigende MobilitĂ€t, die den europĂ€ischen Staaten gemeinsam waren und vor deren Hintergrund sich in den 1960er Jahren sowohl jugendkultureller Protest als auch jugendkultureller Mainstream entfaltet haben.

Davon ausgehend stellt der Sammelband die Frage nach der Entwicklung der Jugendkultur vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen wie auch nach ihrer Bedeutung fĂŒr die nationalen Kulturen in Europa: „The goal of this volume is to create a multifaceted picture of the European youth cultures during a secular period of transition differentiated by gender, regional manifestation, social origin, and educational status.“ (3) Insofern richtet sich der Band sowohl an ExpertInnen aus dem Bereich der Jugendkulturforschung wie auch an Interessierte, die sich einfĂŒhrend mit der Entwicklung und der Bedeutung von Jugendkultur in Europa befassen wollen. Hat der Band fĂŒr erstere vor allem den Nutzen, Perspektiven auf jugendkulturelle PhĂ€nomene aus verschiedenen nationalen und lokalen Kontexten zu bĂŒndeln, kann er bspw. bei interessierten Studierenden das Bewusstsein dafĂŒr schĂ€rfen, dass eine Jugend und ihre Stile und Praxen immer vor dem Hintergrund der sozialhistorischen Bedingungen der Gesellschaft betrachtet werden mĂŒssen, aus denen sie erwachsen.

Die fĂŒnf Kapitel, in die der Band gegliedert ist, spiegeln erstens die gesellschaftliche Einbettung der Jugendkultur (Kapitel 1 und 2), zweitens untersuchen sie die Auswirkungen von Jugendkultur auf die Gesamtgesellschaft (Kapitel 3 und 4) und drittens folgen sie Entwicklungstrends innerhalb der Jugendkultur (Kapitel 5). In insgesamt 18 BeitrĂ€gen streift der Sammelband dabei so verschiedene PhĂ€nomene wie die Protestbewegungen, Pop-Musik und Radio, Jugendreisen, die EinfĂŒhrung der Anti-Baby-Pille sowie Drogenkonsum und weist dabei zugleich auf die Differenziertheit der gesellschaftlichen Verwicklungen von Jugendkultur wie auf ihre interne DiversitĂ€t hin.

Im Anschluss an den einleitenden Beitrag der Herausgeber, der exemplarisch auf einige gesellschaftliche Entwicklungen in der Zeit zwischen 1960 und 1980 eingeht, befassen sich in Kapitel 1 unter dem Stichwort „Politics and Culture in the ‚Golden Age’“ drei BeitrĂ€ge mit den Bedingungen von Jugendkultur und deren spezifischen Ausformungen in den 1960er Jahren vor dem Hintergrund unterschiedlicher Deutungsmuster. So untersucht Arthur Marwick die Kultur der 1960er Jahre auf der Basis des Paradigmas der kulturellen Revolution, Detlef Siegfried hinterfragt auf der Grundlage des enormen wirtschaftlichen Aufschwungs der 1950er und 1960er Jahre das PhĂ€nomen ‚1968‘. Rob Kroes arbeitet schließlich in seinem Beitrag das Konstrukt der ‚Amerikanisierung’ der europĂ€ischen Kulturen auf, indem er den Einzug amerikanischer Marken, Produkte und wirtschaftlicher Strategien in den europĂ€ischen Markt und in die europĂ€ische Kultur an ausgewĂ€hlten Beispielen untersucht. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die europĂ€ische Rezeption der amerikanischen Massenkultur analog zur Bricolage der jugendkulturellen Stile als ein Spiel mit Elementen verstanden werden muss, an dessen Ende die Internationalisierung von PhĂ€nomenen steht, die schließlich eher als Aspekte einer internationalen Jugendkultur denn als solche der amerikanischen Kultur verstanden werden mĂŒssen (103).

In Kapitel 2 nehmen vier BeitrĂ€ge die Entwicklung jugendkultureller Stile zwischen „Leisure Time and Consumerism“ in den Blick. Dabei untersucht Peter Wicke die Bedeutung von Musik fĂŒr die Entstehung jugendkultureller Stile und macht deren Ausblendung innerhalb der frĂŒhen Jugendkulturforschung zum Thema. Wicke betont ausgehend von Medienberichten aus den spĂ€ten 1950er und frĂŒhen 1960er Jahren und von einer Analyse des VerhĂ€ltnisses von Musik und Gesellschaft vor dem Hintergrund der Entstehung der Musikindustrie die Notwendigkeit der Unterscheidung von kommerzieller Jugendkultur und politischen Jugendbewegungen in dieser Zeit. Andererseits zeigt er am Beispiel von Fanstilen, wie Subkulturen eigene musikalische, Ă€sthetische und symbolische Praxen entwickeln, mit denen sie ebenjene Differenzierungslinie wieder ĂŒberschreiten. In weiteren BeitrĂ€gen dieses Kapitels analysiert Konrad Dussel englischsprachige Popmusik in westdeutschen Radiostationen und hinterfragt die Behauptung von der Depolitisierung der Jugend in den 1970er und 1980er Jahren, untersucht Axel Schildt die ReiseaktivitĂ€ten westdeutscher Jugendlicher innerhalb Europas und stellt deren Bedeutung fĂŒr die Internationalisierung von Jugendkultur heraus, wĂ€hrend schließlich die diskursanalytische Studie von Uta G. Poiger auf Formen des Radikalismus in Westdeutschland eingeht. Sie untersucht den Blick der linksradikalen Szene auf die aufstrebende Konsumgesellschaft und die damit verbundenen neuen Formen des Imperialismus in Deutschland und legt dar, warum WarenhĂ€user zum Angriffsziel des Protests gegen den Vietnamkrieg wurden. Ihr Beitrag fordert davon ausgehend zu einem Diskurs darĂŒber auf, wie Konsumkultur im Kontext von Jugendkulturen und anderen gesellschaftlichen Gruppen thematisiert und praktiziert wird.

Explizit mit den Protestkulturen der Jugend befassen sich die vier BeitrĂ€ge in Kapitel 3, das mit „Political Protest“ ĂŒberschrieben ist und in dem insbesondere die Gegenkultur in Deutschland und Nordeuropa im Fokus steht. So z.B. der Artikel von Wilfried Mausbach, der die auf der kulturkritischen Auseinandersetzung der Frankfurter Schule mit Nazi-Deutschland und der amerikanischen Konsumorientierung basierende westdeutsche Gegenkultur von Aussteigertum, Kulturkritik und Anti-Kriegsprotesten in den Blick nimmt. Mausbach zeigt mit Bezug auf die Entwicklungen in Deutschland und den USA und vor dem Hintergrund von Analysen dieser Protestform, dass diese nicht, wie oft beschrieben, als Gegner der Modernisierung der Gesellschaft zu verstehen ist, sondern als Mahner eines bewussteren Umgangs mit dieser. Ein weiterer Beitrag von Henrik Kaare Nielsen befasst sich mit der Anti-Atomkraft-Bewegung in DĂ€nemark und Westdeutschland und bestimmt diese als wichtigen Akteur der Demokratisierung der Gesellschaft in beiden LĂ€ndern. Um die Studierendenbewegung in DĂ€nemark und Schweden geht es in zwei Analysen von Steven L.B. Jensen und Thomas EtzemĂŒller.

Im Kapitel 4 kreisen drei BeitrĂ€ge unter dem Stichwort „Gender Transformations“ um VerĂ€nderungen der Geschlechterrollen und -verhĂ€ltnisse im Zuge der sexuellen Liberalisierung der Gesellschaft. Dabei befasst sich Dagmar Herzog mit der Bedeutung der EinfĂŒhrung der Pille fĂŒr junge Frauen in Westdeutschland, die sich vor dem Hintergrund der Etablierung von linken politischen KrĂ€ften und der Entstehung des Feminismus in Westeuropa und Nordamerika ereignete und gleichzeitig wesentlich zur Auflösung moralischer Prinzipien gegenĂŒber SexualitĂ€t auf der einen und der Objektivierung des weiblichen Körpers auf der anderen Seite beitrug. Julian Bourg betrachtet in seinem Artikel den französischen Diskurs zu PĂ€dophilie in den 1970er Jahren und stellt diesen in seinen historischen Zusammenhang. Im letzten Beitrag dieses Kapitels untersucht Barry Doyle die MĂ€nnlichkeitsvorstellungen der britischen Arbeiterklasse zur gleichen Zeit und setzt sich mit der mangelnden Thematisierung von politischem Protest bei deren sozialwissenschaftlicher Analyse auseinander.

Um theoretische Bestimmungen des PhĂ€nomens ‚Jugendkultur‘ geht es schließlich in den drei abschließenden BeitrĂ€gen des fĂŒnften Kapitels, wo unter dem Titel ‚Cultures, Countercultures, Subcultures‘ die DiversitĂ€t von Jugendkulturen zum Thema gemacht wird. Dabei lenkt Thomas Ekman JĂžrgensen mit der Analyse der Zerschlagung der Gegenkultur von Kopenhagen den Blick auf die lokale Ebene der in diesem Band untersuchten PhĂ€nomene, wobei internationale Entwicklungen stets im Fokus bleiben. Franz-Werner Kersting untersucht in seinem Beitrag die linke politische Szenerie in Westdeutschland und weist anhand biographischer Skizzen der RAF-Mitglieder Ulrike Meinhof und Margrit Schiller auf gesellschaftliche, biographische und generationsbezogene Aspekte der Radikalisierung von politischen KrĂ€ften hin. Der letzte Artikel des Bandes von Klaus Weinhauer befasst sich mit PhĂ€nomenen von Drogenkonsum und JugendkriminalitĂ€t im Westdeutschland der 1960er und 1970er Jahre und beschreibt deren rĂ€umliche und soziale Ausbreitung in dieser Zeit vor dem Hintergrund der Entwicklung einer allgemeinen gesellschaftlichen Gegenkultur der Jugend.

Der Band „Between Marx and Coca-Cola” versammelt AufsĂ€tze, die Jugendkulturen zwischen den 1960er und 1980er Jahren vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Wandlungsprozesse in Europa betrachten. FĂŒr eine noch immer weitgehend in der DiversitĂ€t der aktuellen Jugendkultur und in nationalen Perspektiven gefangene Jugendkulturforschung erscheint die dabei geleistete Betonung der InternationalitĂ€t jugendkultureller PhĂ€nomene und deren RĂŒckbezug auf die sozialhistorischen Bedingungen ihrer Existenz als ein großer Gewinn. Da stört auch nicht weiter, dass die Vergleichsperspektive vorwiegend aus dem Nebeneinanderstellen nationaler PhĂ€nomene und Entwicklungen gewonnen wird und dass der Schwerpunkt des Bandes eindeutig auf der westdeutschen und nordeuropĂ€ischen Jugendkultur liegt.

Die ĂŒberwiegend empirisch mit konkreten BezĂŒgen zu jugendkulturellen PhĂ€nomenen angelegte Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Vermitteltheit von Jugendkultur und mit der Bedeutung von globalen und lokalen politischen sowie wirtschaftlichen Ereignissen, die in diesem Band gefĂŒhrt wird, war fĂŒr mich sehr erkenntnisreich. Die Sammlung rahmt und ergĂ€nzt Studien aus der an politischen PhĂ€nomenen interessierten Jugendkulturforschung, die meist fallrekonstruktiv eben jene Vermittlung in den Blick genommen haben. Der hier begonnene Perspektivwechsel, der Jugendkulturen nicht mehr nur als gesellschaftlichen Innovations- oder Risikofaktor, sondern als soziales PhĂ€nomen betrachtet, das von Jugendlichen vor dem Hintergrund bestimmter gesellschaftlicher Bedingungen hervorgebracht wird, erscheint fĂŒr die Forschungstradition sehr lohnend. Daher sei der Band all jenen dringend empfohlen, die aktuell auf dem Gebiet der Jugendkulturforschung arbeiten.

[1] vgl. die 1965 veröffentlichte französisch-schwedische Produktion „Masculin-FĂ©minin or: The Children of Marx and Coca-Cola“.
Nicolle Pfaff (Halle/Saale)
Zur Zitierweise der Rezension:
Nicolle Pfaff: Rezension von: Schildt, Axel / Siegfried, Detlef (Hg.): Between Marx and Coca Cola, Youth Cultures in Changing European Societies 1960 - 1980. New York, Osford: Berghahn Books 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 1 (Veröffentlicht am 30.01.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/84545333.html