EWR 2 (2003), Nr. 2 (März/April 2003)

Sigrid Biskupek
Transformationsprozesse in der politischen Bildung
Von der Staatsbürgerkunde in der DDR zum Politikunterricht in den neuen Ländern
Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2002
(226 Seiten; ISBN 3-87920-468-3; 23,60 EUR)
Transformationsprozesse in der politischen Bildung Der Zustand des Volksbildungssystems der DDR war neben der wirtschaftlichen Situation und der Beschränkung der Reisefreiheit das am meisten diskutierte Thema der Wendezeit. Hier wurde, wie in kaum einem anderen Bereich, Reformbedarf gesehen. Kritisiert wurde dabei weniger der naturwissenschaftliche Unterricht, der in Zeiten der "PISA-Katastrophe" ein ungeahntes come back erlebt, sondern vor allem die politische Indoktrination, die das ganze Schulsystem durchzog und in einem Fach seine quasi wesenhafte Emanation erfuhr, dem Fach "Staatsbürgerkunde".

Sigrid Biskupek zeichnet in ihrem Buch die Entwicklung von diesem Fach zur derzeitigen Situation der schulischen Politischen Bildung in den Neuen Ländern nach. Wenn ein solches Vorhaben überhaupt auf 226 Seiten gelingen soll, so muss es exemplarisch gelingen. Die Fülle des Materials wäre sonst nicht zu bearbeiten, wie einschlägige Quellensammlungen belegen. In der Einleitung führt die Autorin in die "Rolle der staatsbürgerlichen Erziehung in der DDR" ein, gibt Auskunft über "Ursachen des gesellschaftlichen Umbruchs", erläutert die "Fragestellung der Arbeit" und das "methodische(n) Vorgehen". Die Kontextualisierung des Themas durch den Umriss des zeitgeschichtlichen Hintergrunds ist kurz und notwendig vereinfachend, gibt aber gerade den mit der Materie weniger vertrauten Lesern die Möglichkeit, das untersuchte Material einordnen zu können. Ihren methodischen Zugriff wählt Biskupek zweifach: zum einen interpretiert sie ausgewählte Quellentexte, zum anderen setzt sie gezielt die retrospektive Befragung von Zeitzeugen ein. Beide Methoden stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern werden durch die Interpretationsleistung der Autorin sinnvoll und hilfreich aufeinander bezogen.

In einem zweiten Teil wird der eigentliche Prozess der Veränderung sukzessive und nach inhaltlichen Gesichtspunkten geordnet dargestellt. Ausgehend von der "Schulsituation im Herbst 1989" über "Reformversuche der Staatsbürgerkunde zur Gesellschaftskunde" wird in einem dritten Schritt die (beabsichtigte) "Aus- und Weiterbildung von Gesellschaftskundelehrern" dokumentiert und zuletzt der gewichtige "Einfluß westdeutscher Akteure auf die Entwicklung der Gesellschaftskunde" untersucht. In dieser Phase, die etwa mit dem Entstehen der Neuen Bundesländer und der damit auf sie übergehenden Bildungshoheit identisch ist, endet die chronologische Spanne der Arbeit. Dieser Schnitt ist insofern konsequent, als die zentrale Verantwortung des Bildungsministeriums (ehemals Volksbildungsministeriums) mit diesem Datum erlosch. Dem 1990 noch kurzzeitig zentral installierten Fach "Gesellschaftskunde" war so kein langes Leben beschert.

In einem dritten Teil untersucht die Autorin darum noch einmal den gleichen Zeitraum, allerdings wie angekündigt nun mit dem Instrument der retrospektiven Befragung von Akteuren. Dies sind zuerst und als wichtigste Gruppe die Lehrer in vier Fallbeschreibungen. Auf nur knapp zehn Seiten wird sodann die Perspektive der Schüler dargestellt. Trotz der quantitativen Differenz sind auch die Aussagen der vier Schüler von z.T. erhellender Prägnanz.

In einem vierten Teil schließlich betrachtet die Autorin die skizzierten Wandlungen noch einmal zusammenfassend und eröffnet einen kurzen Ausblick auf die sich an die von ihr untersuchte Phase anschließenden Ereignisse mit Bezug auf die schulische politische Bildung.

Ein Anhang stellt nicht nur ein Abkürzungs- und Literaturverzeichnis zur Verfügung, sondern stellt auch eine Zeittafel zur Einordnung der verwendeten Dokumente bereit, legt den Interviewleitfaden offen, stellt ein knappes Organigramm des Bildungssystems der DDR und eine Stundentafel der POS zur Verfügung, aus welcher die Wochenstunden des Staatsbürgerkundeunterrichts (1 Stunde ab der 7. Klasse und 2 Stunden in der 10.) und des kurzlebigen Gesellschaftskundeunterrichts des Jahres 1990 (1 Stunde von der 7. bis zur 10. Klasse) hervorgehen.

Es ließe sich an dieser Arbeit manches kritisieren. So drängt sich die Frage auf, weshalb die Autorin eigentlich von "Transformationsprozessen" spricht. Welcher Begriff von Transformation steht hinter dieser Formulierung? Greift man auf den gebräuchlichen Begriff einer "nachholenden Modernisierung" zurück, wie er von Wolfgang Zapf vertreten wird, welche sich von "Modernisierung" lediglich dadurch die Bekanntheit des Endzustandes abhebt, so ist dies gerade für die von Biskupek untersuchte Zeitspanne nicht nur kaum wahrscheinlich, sondern auch nicht durch ihr Ergebnis gedeckt. Die installierte Gesellschaftskunde war schließlich ein Eigenprodukt des Bildungsministeriums und gerade keine Übernahme westlicher Transformationsvorbilder. Wenn überhaupt, dann ließe sich die daran anschließende Phase der Bildungsreform in Länderhoheit als so begriffene Transformation beschreiben. Auch dies wirft freilich mehr Fragen als Antworten auf.

Diese Fragen zu stellen bedeutet aber, das Anliegen des Buches gründlich misszuverstehen. Sigrid Biskupek möchte eine Zeitspanne bildungspolitischer Wandlungsprozesse möglichst vielperspektivisich und gleichzeitig so beschreiben, dass auch entferntere Beobachter einen Zugang zu diesen Prozessen finden können. Es sind auf den ersten Blick Kleinigkeiten, die den Griff zu diesem Buch leicht machen. Schon der Umfang des Buches wirkt nicht abschreckend, wie so viele kompendienartige Materialsammlungen. Das kleine Abkürzungsverzeichnis macht das DDR-Kauderwelsch, dass für viele den exklusiven Charakter einer Geheimsprache hat, dechiffrierbarer. Es ist kein Buch für den ewig gleichen Zirkel der DDR-Experten, die noch die letzte Stasi-Akte aus kleinsten Schnippselchen rekonstruieren, und auch nicht für die Insider, die sich die frühere Ideologienähe in Form wissenschaftlicher Apologien des Systems bewahrt haben.

Gleichwohl und hierin liegt das besondere Verdienst von Sigrid Biskupek, ist das Buch nicht oberflächlich. Die Autorin scheut auch nicht den Staub der Archive, aber sie weiß, wonach sie suchen muss und was sie getrost liegen lassen kann. Sie kann wichtiges von weniger wichtigem und unwichtigem unterscheiden. Die untersuchten Archive sind sorgfältig und begründet ausgewählt. Jede Stufe der DDR-Bildungshierarchie ist hier vertreten. Vom Bundesarchiv, das die zentralen Akten beherbergt, über das Thüringische Staatsarchiv, das die Bezirksebene archiviert, und das Parteiarchiv Gera bis hinunter zu einem Kreisarchiv in Rudolstadt und schließlich dem Archiv des Schulamtes Jena sind alle Hierarchieebenen vertreten. Die beigebrachten Dokumente sind zum Teil erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dass mit Ausnahme des Bundesarchivs sich alle Quellen auf den thüringischen Raum beziehen, was sicher mit dem Arbeitsfeld der Autorin zu tun hat, die als Lehrerin und Mitarbeiterin des Thüringischen Pädagogischen Landesinstitutes ihre Dissertation mit lokalem Bezug anlegte, ist kein Nachteil. Die zentralistische Struktur der DDR macht es möglich, aus dieser Querschnittsauswahl pars pro toto Schlussfolgerungen für die gesamte Republik abzuleiten. Der Vergleich mit inzwischen reichlich publizierten und materialüberquellenden Quellentextbänden zum Thema, die freilich weithin auf eine Interpretation dieser Quellen verzichten, macht deutlich, dass hier eine Insiderin schreibt, die für ihr Thema zu interessieren versteht. Für die vertiefende Beschäftigung kann nach der Lektüre auf eben jene Quellentextbände zurückgegriffen werden. Die dann mögliche Prüfung der hier sehr knapp ausgewählten Dokumentausschnitte wird zeigen, wie präzise die Autorin ihren Punkt getroffen hat.

Biskupek behandelt Ihr Thema nicht nur kenntnisreich, sondern auch anregend. Besonders wohltuend ist, wie sie als z.T. in diese Prozesse des Wandels Involvierte auf jeglichen apologetischen Duktus wie auch den der billigen Selbstanklage verzichtet. Dies Buch ist ein Beispiel dafür, dass wissenschaftlich notwendige Distanz nicht über die Gnade der westlichen Geburt oder des untergegangen Systems hergestellt wird, sondern über eine reflexive Bezugnahme zum Gegenstand. Wer Aufschlüsse über diese kurze aber ereignisreiche Phase gesamtdeutscher Bildungsgeschichte sucht und noch nicht zum engen Zirkel der Eingeweihten gehört, dem sei dies Buch nachdrücklich empfohlen. Es verlangt geradezu nach einer Fortsetzung, die den Fortgang der Entwicklungen auf dem Gebiet der schulischen politischen Bildung analysiert.
Henning Schluß (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Henning Schluß: Rezension von: Biskupek, Sigrid: Transformationsprozesse in der politischen Bildung, Von der Staatsbürgerkunde in der DDR zum Politikunterricht in den neuen Ländern, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 2 (Veröffentlicht am 01.04.2003), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/87920468.html