EWR 6 (2007), Nr. 2 (März/April 2007)

Kinderlandverschickung im Nationalsozialismus - Eine Doppelbesprechung

Renate Bandur
Von Berlin in das Sudetenland
Meine KLV-Lagerzeit von 1944-1945
(Dokumente und Berichte zur Erweiterten Kinderlandverschickung 1940-1945; Bd. 6)
Bochum u.a.: Projekt-Verlag 2006
(165 S.; ISBN 3-89733-131-4; 12,00 EUR)
Jürgen Feuerhake
Die erweiterte Kinderlandverschickung in Hannover 1940-1945
Erinnerungen - Tagebücher - Dokumente
(Dokumente und Berichte zur Erweiterten Kinderlandverschickung 1940-1945; Bd. 7)
Bochum u.a.: Projekt-Verlag 2006
(298 S.; ISBN 3-89733-139-X; 18,50 EUR)
Von Berlin in das Sudetenland Die erweiterte Kinderlandverschickung in Hannover 1940-1945 Die beiden hier zu besprechenden Bände gehören zu der Reihe „Dokumente und Berichte zur Erweiterten Kinderlandverschickung“ des Projekt-Verlags, über deren Zielsetzungen bereits im Rahmen einer früheren Rezension berichtet wurde [1]. Sowohl Renate Bandur als auch Jürgen Feuerhake legen – diesen Zielsetzungen entsprechend – jeweils weitgehend unkommentierte Quellensammlungen vor, die sich hinsichtlich ihres Inhalts und ihres Gebrauchswertes recht unterschiedlich beurteilen lassen.

Unter dem Titel „Meine KLV-Lagerzeit von 1944-1945“ setzt Renate Bandur ihr 2004 als Band 3 dieser Reihe erschienenes Buch fort. Wie seinerzeit publiziert sie auch hier Briefe und Postkarten, die sie als Mädchen aus der Erweiterten Kinderlandverschickung (KLV) heraus an ihre Eltern in Berlin geschickt hatte und die ihre Mutter löblicherweise gut aufbewahrte, so dass für den Zeitraum 1944-1945 „insgesamt 108 Briefe und Karten erhalten geblieben“ sind (10). Als sie 1941 nach der Rückkehr aus der ersten Verschickung nach Ostpreußen und Österreich wieder nach Berlin zurückgekehrt war, besuchte Renate Bandur bis Herbst 1943 die Gabriele-von-Bülow-Schule in Tegel. Am 30. September 1943 wurde dort der Unterricht jedoch eingestellt und die Schule geschlossen nach Spindelmühle im Riesengebirge verlegt. Auf Wunsch der Eltern, die vermutlich ihr Kind nicht noch einmal in ein KLV-Lager geben wollten, blieb Renate in Berlin zurück und besuchte so lange eine Schule in Hennigsdorf, bis die Luftangriffe dies nicht mehr zuließen. Am 11. März 1944 reiste sie in Begleitung des Vaters und einer Tante ihrer Schule hinterher, um am 6. April 1945 nach chaotischer Reise wieder nach Tegel zurückzukehren.

Die dazwischenliegende Zeit im Lager wird nun nicht mehr – wie in dem vorausgehenden Band – aus der Sicht eines 11-jährigen Kindes beschrieben, sondern aus der eines 14-jährigen Teenagers. Nicht nur die abgedruckten Bilder, die nun pubertierende junge ‚Damen‘ zeigen, sondern auch vereinzelte Schilderungen, in denen von Kleiderwünschen, Kontakten mit Jungen, Schwärmereien („Hauptmann Ritterkreuzträger Wanka sah übrigens ganz nett aus. Aber er war schon mindestens 45 Jahre alt. Ist ja auch nicht wichtig“; 65) oder dem Besuch nicht altersgemäßer Filme („Romanze in Moll“; 91) die Rede ist, machen deutlich, dass sich der Blick auf die Welt erweitert hatte.

Richtet man die Aufmerksamkeit jedoch auf Aussagen zum politischen und kriegerischen Weltgeschehen, zeigt sich trotz offensichtlich recht guter Informationslage auch weiterhin eine kindliche Naivität. Die Invasion der Alliierten wird als „schwerwiegende Sache“ bezeichnet, die ihren Schrecken vor allem daraus bezieht, dass der heißersehnte Besuch der Eltern eventuell verhindert werden könnte. Ansonsten sei ja alles „fein“, da „die Engländer auch gerade an der Stelle gelandet (sind), wo wir uns am meisten darauf vorbereitet haben“ (64). Ähnlich naive und der gängigen Propaganda gehorchende Aussagen finden sich u.a. auch zum Anschlag auf Hitler („Was sagt Ihr zum Attentat auf den Führer? Es geschehen doch noch Wunder!!“; 75), während eine Aussage vom 23. Januar 1945 die Wirkung der BDM- und Lager-Sozialisation deutlich macht: „Trotzdem wird der Führer wissen, wie er die Russen schlägt. Es wird schon noch alles gut werden. Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Wir müssen siegen!“ (125).

Es sind nicht nur diese vereinzelten Aussagen in Verbindung mit sehr wenigen Schilderungen zum eigentlichen Lagerleben, in dem der Einfluss des BDM nur sehr am Rande vorkommt, die eine Auseinandersetzung mit den Briefen interessant machen. Zweifellos tragen nämlich auch die ausführlichen Beschreibungen alltäglicher Erlebnisse sowie die immer wieder erkennbare Sorge um das Schicksal der Eltern dazu bei, Erkenntnisse über die Gedankenwelt einer Jugendlichen zu gewinnen, die in einem scheinbar sicheren Raum in einer aufs Äußerste gefährdeten Welt lebte. Es zeigt sich, dass die Abschirmung funktionierte. Eine greifbare Gefahr wurde nur für das Leben der Angehörigen in Berlin, jedoch nie für sich selbst gesehen. Lediglich in diffuser Form und zu einem Zeitpunkt, als die Auflösung des Lagers kurz bevorstand, sind Unsicherheiten erkennbar und es wird das Wort „Flucht“ verwendet, wenn auch in Anführungszeichen (148). Offen von „Angst“ wird jedoch nur in Bezug auf die Situation der Eltern in Berlin gesprochen (133), für sie selbst und ihre Mitschülerin gilt dagegen die Maxime: „Na, es wird schon gut werden. Man darf nur nicht den Mut verlieren“ (137).

Insofern bietet das Buch reichlich Material für die Beschäftigung mit der Wirkung des KLV-Lagerlebens auf Heranwachsende. Die dazu notwendigen Hintergrundinformationen muss man sich – das gilt für den privaten Nutzer genauso wie beim Einsatz des Materials in Schule oder Seminar – freilich anderweitig besorgen.

Wer in dem Buch von Hans-Jürgen Feuerhake eine dem Titel entsprechende Darstellung der Erweiterten Kinderlandverschickung Hannovers erwartet, wird bei der Lektüre schon bald enttäuscht. Zwar möchte der 1933 geborene Autor, der als Schüler der Hannoveraner Bismarckschule ein Jahr nach Clausthal-Zellerfeld verschickt worden war, zum einen „das damalige Geschehen, soweit es uns Kinder betraf, vor der Vergessenheit bewahren“ (9) und zum anderen eine Untersuchung der diesbezüglichen Vorgänge in Hannover vornehmen; er tut dies jedoch auf sehr eigentümliche Weise. So verzichtet er weitgehend auf eine eigenständige Darstellung und versammelt stattdessen in einem ersten Teil Abschriften von Dokumenten, die er im Stadtarchiv Hannover und im Bundesarchiv in Berlin eingesehen hat. Diese beziehen sich einerseits auf allgemeine Vorgänge bezüglich der KLV in Hannover und andererseits speziell und mehr oder weniger ausführlich auf einzelne Schulen der Stadt.

Beim Lesen dieser Texte erfährt man einiges über die Pläne zur Verschickung der Schuljugend und die anschließend bei der praktischen Umsetzung auftretenden Probleme. Dabei sind die offiziellen Verlautbarungen weniger interessant als die internen Berichte, die aus der Sicht städtischer Behörden, der Schulen und auch des Sicherheitsdienstes der SS zum Teil ungeschönte Auskünfte über die zum Teil chaotischen Zustände in den Lagern, den Widerwillen der Eltern, ihre Kinder zu verschicken und deren Erfindungsreichtum, einen Ersatzunterricht zu organisieren, geben. Gleichzeitig wird deutlich, wie sehr sich die amtlichen Stellen darum bemühten, die Missstände zu verbergen oder schön zu reden, wobei sich die Vereinnahmung der Lokalpresse immer wieder andeutet.

Leider stehen diese Quellen recht unsystematisch und ungeordnet nebeneinander, so dass die sinnvolle Arbeit mit diesen eine gewisse Sachkenntnis erfordert. Ebenso verzichtet der Autor auf Hinweise, ob er bei seinen Abschriften eine Auswahl getroffen hat und welche Motive ihn gegebenenfalls bei dieser Auswahl leiteten. Man steht also in einem Steinbruch und muss sich auf die Suche machen, wobei man durchaus wertvolle Findlinge auflesen kann, wie zum Beispiel den Revisionsbericht eines Schulrats, der im Februar 1943 von Lager zu Lager zog und die zum Teil erheblichen Schwierigkeiten bei der Durchführung des Unterrichts benennt (50-52) oder das Protokoll einer Schulleiterbesprechung, in dem der Widerwillen der Eltern und der Lehrer gegen die Verschickungsmaßnahmen deutlich wird (52-54).

Unkommentiert stehen auch die wiedergegebenen Quellen zur KLV der einzelnen Hannoveraner Schulen da, so dass man Mühe hat, die recht sperrigen Texte zu lesen und sich ein Gesamtbild zu verschaffen. Dies wäre die Aufgabe des Autors gewesen, doch verlässt er sich – wie auch im zweiten Teil des Buches – auf den Sachverstand der Leserschaft. Diese sieht sich dort (185-294) mit den Erinnerungen von Zeitzeugen konfrontiert, die vor allem dann interessant werden, wenn sie in Form von zeitgenössischen Aufzeichnungen wie Briefen oder Tagebüchern daher kommen. Während die rückblickenden Erinnerungen auffällig viel von Kriegserlebnissen und wenig vom KLV-Alltag berichten, finden sich in den zeitgenössischen Texten aufschlussreiche Details. Interessanterweise zeigen sich durchaus Parallelen zu den Briefen von Renate Bandur, denn auch die Jungen berichten gerne über Alltägliches wie die Beschaffenheit der Mahlzeiten oder Freizeiterlebnisse. Offensichtlich waren sie jedoch – aufgrund der Lage der KLV-Lager – den Gefahren wesentlich stärker ausgesetzt, denn Bombenangriffe werden häufig thematisiert. Zudem zeigt sich bei den Jungen die Zwiespältigkeit der Adoleszenz: Die Tatsache, dass man mit „langem Anzug, Mantel, weißem Schal und Hut [...] wie 18“ aussieht, hatte die Schattenseite, dass eine Einberufung und somit der Ernstfall nicht unwahrscheinlich war: „Dann am 20. Februar 1945 mussten wir, der Jahrgang 29, nach Goslar zum Bann-Ausbildungslager. Wir wurden mit Karabiner, Panzerfaust, Handgranate und Maschinenpistole ausgebildet. [...] Wir waren froh, wir 24 Mann, als wir glücklich wieder draußen waren“ (218).

Die propagandistische Verwendung der verschickten Schüler in den besetzten Gebieten traf beide Geschlechter und wird im Tagebuch eines Schülers thematisiert, der seine KLV-Zeit in der Nähe von Prag verbrachte. Mehrfach zeigte man Präsenz, indem man in HJ-Uniform durch Prag marschierte: „Als wir und das Lager Miröschan durch die Straßen marschierten, machten die Prager große Augen“ (253).

Insgesamt gesehen hinterlässt das Buch von Feuerhake einen zwiespältigen Eindruck. In jedem Fall handelt es sich um eine immense Fleißarbeit, von der jedoch in erster Linie nur der sachkundige Leser profitieren kann. Immerhin bemüht sich der Autor um eine wissenschaftliche Vorgehensweise, indem er die Fundorte mit den entsprechenden Archivnummern nachweist, so dass eine weiterführende Forschung durchaus möglich ist. Gleiches gilt auch für andere Quellen, die – wenn auch in zum Teil eigenwilliger Form – nachgewiesen werden.

Für beide Bände gilt, dass man über die eigentliche Einrichtung der KLV nicht viel Neues erfährt. Dennoch stellen sie durch die Vermittlung eines relativ authentischen Einblicks in die Gefühlswelt der Heranwachsenden – Bandur mehr, Feuerhake weniger – durchaus eine Bereicherung der Mentalitätsforschung dar. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe boten trotz der den Schülern bekannten Möglichkeit einer Zensur durch das Lehrpersonal in den Lagern eine der wenigen Chancen, wenigstens ansatzweise sehr private Gefühle zu äußern. Es ist davon auszugehen, dass recht viele Heranwachsende diese wahrnahmen, besonders in der ohnehin problembelasteten Zeit der Pubertät, deren Komplikationen durch den Verlust des vertrauten Elternhauses zusätzlich verstärkt wurden. Es wäre sicher eine lohnenswerte Aufgabe, intensiver nach solchen Aufzeichnungen zu suchen. Vielleicht ergäben sich dadurch erstaunliche Differenzen zu den mit zeitlichem Abstand verfassten Erinnerungen, die bereits häufiger publiziert wurden. Renate Bandur fasst ihre diesbezügliche Erkenntnis im Vorwort treffend zusammen: „Dabei [beim Lesen der Briefe; R.L.] wurde zu unserer Verwunderung erkennbar, wie unterschiedlich wir die Erlebnisse dieser Zeit in unserem Gedächtnis gespeichert hatten. Aber Briefe beschreiben Erlebnisse genauer als Erinnerungen, die sich im Laufe von Jahren verändern können“ (9).

[1] URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89733119.html
Rüdiger Loeffelmeier (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Rüdiger Loeffelmeier: Rezension von: Bandur, Renate: Von Berlin in das Sudetenland, Meine KLV-Lagerzeit von 1944-1945 (Dokumente und Berichte zur Erweriterten Kinderlandverschickung 1940-1945; Bd. 6). Bochum u.a.: Projekt-Verlag 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89733131.html