EWR 6 (2007), Nr. 6 (November/Dezember 2007)

Markus Dederich / Heinrich Greving / Christian Mürner / Peter Rödler (Hrsg.)
Inklusion statt Integration?
Heilpädagogik als Kulturtechnik
GieĂźen: edition psychosozial 2006
(194 S.; ISBN 3-89806-507-3; 29,90 EUR)
Inklusion statt Integration? Es hat den Anschein, als gäbe es in der Sonderpädagogik zunehmend Platz für eine gesellschaftstheoretisch informierte Form der Selbstsituierung. Der von Markus Dederich, Heinrich Greving, Christian Mürner und Peter Rödler herausgegebene Band „Inklusion statt Integration? Heilpädagogik als Kulturtechnik“ setzt sich die Aufgabe, einen Blick hinter die Kulissen semantischer Kommunikationsbrüche zu werfen und zu fragen, was über die Inklusionsdebatte allenfalls gewonnen werden könnte und was eher zu verweigern sei. Der Band gliedert die zwölf Beiträge in drei Teile: Im ersten Teil wird nach den Entwicklungslinien der Debatte gefragt, im zweiten Teil geht es um auf die Debatte bezogene Handlungsfelder und im dritten Teil werden mögliche Spielräume ausgelotet, welche in der Diskussion stecken. Der Untertitel des Sammelbandes – Heilpädagogik als Kulturtechnik – bezeichnet die Konvergenz der Beiträge, die in ihrer Ordnung und Dynamik jedoch nicht ausgeführt wird, auf die hin die Diskussion aber ausgerichtet erscheint: „Heil-, Sonder- und Behindertenpädagogik wird so zur Kulturtechnik, zu dem Bereich der Pädagogik, der das Bestimmen, Aufweisen und Ermöglichen menschlicher Verhältnisse in, an und mit den Grenzen und Kontingenzen aller Beteiligten im Kontext der je aktuellen gesellschaftlichen und historischen Bedingungen und Bedingtheiten zum Ziel hat“ (8). Es ist zu vermuten, dass die Ausführung dieses Themas nach „Zeichen und Gesten – Heilpädagogik als Kulturthema“ (ebenfalls im Psychosozial-Verlag, Gießen 2004) einen dritten Band hergeben könnte. Im vorliegenden Band geht es um die kritische Sichtung der Entwicklungsmöglichkeiten, welche die Inklusionsdebatte bietet.

Markus Dederich eröffnet mit seinem Beitrag das Spektrum der Debatte, indem er angeleitet durch systemtheoretische Referenzen den Begriff der Inklusion mit jenem der Exklusion zur Differenz vervollständigt. Er zeichnet nach, wie dieser gegenwärtige Beobachtungsmodus das, was man historisch unter dem Begriff der sozialen Frage thematisierte, in den Blick nimmt. Mit der Differenz von Inklusion und Exklusion können nach Dederich komplexere Beteiligungsstrukturen erfasst werden als dies mit hierarchischen Zugängen möglich ist. Zugleich birgt die Differenz die Gefahr, Zustände vor Prozessen zu beschreiben und damit offen zu lassen, wie sich die Gesellschaft inkludierend/exkludierend herstellt. Daraus ergibt sich ein gespanntes Verhältnis der Inklusions-/Exklusionstheorie zur klassischen Ungleichheitsforschung (18), die stärker an Fragen der Herrschaft interessiert war.

Einen ganz anderen Zugang zum Thema wählt Emil E. Kobi. Er interessiert sich für den Versprechungseffekt der Inklusionssemantik, und er erarbeitet in einer religionsphänomenologischen mythenkritischen Perspektive die Interaktion des Profanen mit dem Heiligen heraus, die er in der Debatte am Werke sieht. Dieser Zugang mündet in eine augenzwinkernd-ernsthafte Thematisierung von Zwangsmechanismen im Feld sonderpädagogischer Intervention, denen demokratische Erfordernisse und Realitäten (40) kritisch gegenübergestellt werden. Judith Hollenweger schlägt in ihrem Beitrag vor, die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) als Instrument für die Inklusionsforschung zu verwenden, namentlich das Itemset zu den so genannten Umweltfaktoren. In der Darstellung der Genese der Klassifikation werden deren Vorteile hervorgestrichen und ein über das Instrumentelle hinausgehender Anspruch auf Klärung konzeptueller Grundlagen vertreten; Probleme und Grenzen der Klassifikation in Bezug auf die Grundfragen (46f.) werden allerdings nicht aufgezeigt.

Swantje Köbsell schließt mit ihrem Aufsatz zur Frage des „Verhältnisses der deutschen Behindertenbewegung zur Integration behinderter Menschen“ den ersten Teil ab. Sie erklärt die Distanz der Behindertenbewegung zur Frage der (schulischen) Integration aus dem Vorrang des Anliegens der Behindertenbewegung, sich gegen Anpassung und Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Der integrierte Platz in der Gesellschaft wäre so, Franz Christoph zitierend, ein Platz „unter den Unterdrückern“ (66). Leider werden an dieser Stelle Distanzen und Nähen dieser Diskursposition zu den Positionen im Kampf für/gegen Integration wenig herausgearbeitet, was im Hinblick auf aktuelle Frage der Inklusionspolicy von zentraler Bedeutung wäre.

Heinrich Greving fragt im ersten Beitrag des zweiten Teils, ob man Inklusion lernen könne. Er unterscheidet vier Schritte, die dazu notwendig sind (79ff.). Erstens gehe es darum, historische und aktuelle Dimensionen systemtheoretischen Denkens aufzuarbeiten. Zweitens setze Inklusionslernen Kenntnis und Umgang mit politischen Orientierungen, einschließlich sozialstatistischer Kennzahlen und ihrer Interpretation voraus. Drittens sei ein Schwerpunkt auf Projektarbeit zu legen, in der deutlich wird, wie man arbeiten kann, wenn Routine nicht der Normalfall ist und viertens sei das Lernen in und mit Organisationen zu vollziehen. Die vier Schritte sind so zu verstehen, dass durch sie Kompetenzen erworben werden, um in den Feldern konkret tätig zu werden, in denen Inklusions-/Exklusionsphänomene zu beobachten sind.

Anne-Dore Stein und Willehad Lanwer schließen mit ihrem Beitrag zum Studium in „Inclusive Education“ am Beispiel des gleichnamigen internationalen Studiengangs an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt direkt an die Thematik an. Sie machen deutlich, dass Theorie und Praxis von Integration und Inklusion eingebunden sind „in das Spannungsverhältnis der politischen Kräftekonstellation einerseits und den damit einhergehenden hegemonialen Auseinandersetzungen andererseits“ (89). Für Stein und Lanwer ist folglich zentral, dass im Begriff der Inklusion/Integration gesellschaftliche Widersprüche ebenso denkbar bleiben wie die historische Genese der in ihm enthaltenen Forderung. Inclusive Education heißt dann in der Ausbildung kritisches Lernen und Auffinden von Widersprüchen ebenso wie Auseinandersetzung mit der Moral der Kritik.

Monika Seifert berichtet in ihrem Aufsatz von konkreten Umsetzungsprojekten im Bereich integrativer Wohngemeinschaften. Sie gibt Einblicke in die Mikrophysik der Macht wenn es darum geht, wie Menschen zusammen wohnen können. Dabei definiert sie Inklusion als das Verhindern von Ausschluss (100), was handlungsperspektivisch je nach Kontext zu befriedigen mag; analytisch dürfte dieses Festschreiben auf Intentionalität zu kurz greifen.

Barbara Vieweg thematisiert schließlich den Zusammenhang von Inklusion und Arbeit. Sie fragt u.a. nach dem empirischen Gehalt der Semantik – was genau wird von wem als Integration oder Inklusion angesehen? Sie gibt zu bedenken: „(S)echs Stunden Beschäftigung in einer Sondereinrichtung integriert den Menschen mit Behinderung nicht automatisch in die Gesellschaft“ (124). Damit gibt sie Anstoß darüber nachzudenken, womit Menschen zufrieden sein können oder müssen und wer darüber befindet.

Der letzte Teil des Bandes wird von Hans-Uwe Rösner mit einem Beitrag zur Theorie der Anerkennung eröffnet. Mit diesem Beitrag will er die Inklusionsdebatte um qualitative Aspekte anreichern, welche Zugang zu jenen Dimensionen eröffnen sollen, welche durch die formale Logik des systemtheoretischen Zugriffs eher verdeckt bleiben (128). Einer ähnlichen Spur folgt Sigrid Graumann mit ihrem Beitrag zu Biomedizin und Ausgrenzung. Sie will Exklusion nicht nur juristisch verstanden wissen als Vorenthaltung von Rechten (143), sondern sie interessiert sich für psychologische und kulturelle Effekte der Verfügbarkeit biomedizinischer Technologien, denen sie unter Verwendung von Axel Honneths Begriff der Anerkennung nachgeht. Sie thematisiert die Folgen der Idee der Vermeidbarkeit von Behinderung und der impliziten Reduktion von Behinderung auf einen Funktionsdefekt.

Ursula Stinkes kritisiert die „Ausblendungsakrobatik“ (157) der Pädagogik gegenüber ihren Kontexten, und sie analysiert als einen dieser Kontexte den Übergang „vom fürsorgenden zum aktivierenden Wohlfahrtsstaat“ (158). Sie zeigt auf, dass dieser Übergang entgegen seiner semantischen Prägung nicht die Emanzipation aus prekären Verhältnissen meint, sondern die Formierung einer Kundenrolle, durch die soziale Probleme privatisiert werden. Aus dieser Perspektive greift sie in die Inklusionsdebatte ein und plädiert dafür, diese an strukturelle Problemlagen anzubinden, damit sich Inklusion als pädagogische Leitsemantik nicht selbst entwertet und schon gar nicht auf Kosten der Integrationsdebatte entwickelt wird.

Im letzten Beitrag greift Christian Mürner historische und gegenwärtige Sprichworte und Schlagzeilen im Zusammenhang mit Behinderung auf und zeigt, wie „Behinderung“ sprachlich und kulturell repräsentiert wird. Theoretisch knüpft er an die Theorie des Sprachspiels an (188): Es geht dann um die Frage, wer mit einem Sprichwort was genau tut, wenn er oder sie es verwendet. So ist es dasselbe und nicht dasselbe, je nachdem, wer in welchen Kontexten meint: „Alle sind behindert!“

Der Sammelband dokumentiert die Anstrengung der Autorinnen und Autoren, durch die Inklusionsdebatte in der Sonderpädagogik für die Sonderpädagogik einen Begriff zur Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse zu gewinnen und diesen in die Behandlung ihrer Themen mit Folgen für die Thematisierung einzubauen. Er ist ein Beitrag zur sozial- und kulturwissenschaftlichen Bildung im Fach selbst, dem Fortsetzungen in Breite und Tiefe zu wünschen sind.
Jan Weisser (ZĂĽrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jan Weisser: Rezension von: Dederich, Markus / Greving, Heinrich / MĂĽrner, Christian / Rödler, Peter (Hg.): Inklusion statt Integration?, Heilpädagogik als Kulturtechnik. GieĂźen: edition psychosozial 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 6 (Veröffentlicht am 05.12.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/89806507.html