EWR 1 (2002), Nr. 4 (September 2002)

Wolfgang Hinte / Maria Lüttringhaus / Dieter Oelschlägel
Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit
Reader
MĂĽnster: Votum Verlag 2001
(272 Seiten; ISBN 3-933158-72-9; 22,00 EUR)
Der Reader "Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit" versammelt schon anderswo erschienene Aufsätze und Vorträge der beiden mit bekanntesten Protagonisten der Gemeinwesenarbeit in Deutschland: Wolfgang Hinte und Dieter Oelschlägel. Hintergrund der Veröffentlichung ist einerseits die derzeitige "konzeptionelle () Hochkonjunktur sozialraumorientierter Arbeit" (S. 7). Zum anderen ist es die angebliche Nichtexistenz einer "systematisch aufbereitete(n), zitierfähige(n) Monographie zu Grundlagen und aktuellen Entwicklungen der Gemeinwesenarbeit" (ebd.). Die diesbezüglich äußerst interessanten, von der AG SPAK herausgegebenen Jahrbücher der Gemeinwesenarbeit werden dabei anscheinend schlicht übersehen.

Vor diesem Hintergrund hat Maria Lüttringhaus die in der Tat "versprengt erschienen ... und nur schwer bzw. gar nicht mehr zugänglichen Texte" (ebd.) von Hinte und Oelschlagel zu vier Kapiteln zusammengestellt. Diese beleuchten nicht nur die "Grundlagen der GWA" und die "konzeptionelle Diskussion in der 80er- und 90er-Jahren". Sie widmen sich auch den "Kompetenzen in Institution und Lebenswelt" sowie der "Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip sozialer Kommunalpolitik". Eingeleitet werden die einzelnen Beiträge jeweils von Maria Lüttringhaus, welche die Kernaussagen der Texte als "Leitstandards" (S. 9) der GWA zuzuspitzen sucht. Eingerahmt wird dies durch ein einleitendes Kapitel zu den Personen der beiden GWA-"Veteranen" und eine bisher nicht publizierte gemeinsame Diskussion aller drei sowie einem zusammenfassenden Überblick besagter "Leitstandards" von Maria Lüttringhaus am Schluss und nicht zu vergessen einem knapp kommentierten Literaturüberblick.

So begrüßenswert es ist, Leitstandards der Gemeinwesenarbeit zu formulieren, so problematisch erscheint es jedoch, wenn dabei unterschiedliche theoretische und politische Kontexte geradezu gleichmacherisch zusammengefasst werden. Sicher polemisiert Wolfgang Hinte nicht zu unrecht gegenüber so manchen sog. Theoriediskussionen innerhalb der Gemeinwesenarbeit der 70er- und 80er-Jahre, welche den Eindruck erweckten, "GWA könne man mit politischem Engagement (das Herz auf dem linken Fleck) und solider Kenntnis über Theorieansätze betreiben" (S. 121). Auch ist das gerade in der gemeinsamen Diskussion deutlich werdende Aufeinander-Zugehen von Hinte und Oelschlägel im Bestreben, alte "Zitierkatelle" und Schulenbildungen zu überwinden, sicher begrüßenswert. Und ohne Zweifel sind "Standards ... als fachliche Leitlinien für die Profession ... generell auf einem mittleren Abstraktionsniveau zu formulieren" (S. 9).

Ein Sammelband, der mit einem Lehrbuch-Anspruch (vgl. S. 7) antritt, sollte jedoch dennoch auf die Unterschiede hinweisen zwischen einem gesellschaftlich historisch begründeten Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit, wie es Oeschlägel zu entfalten versucht (z. B. S. 38 ff. & S. 54 ff.), und den Postulaten einer "non-direktiven Pädagogik", auf die Wolfgang Hinte (z. B. S. 45 ff.) seinen Ansatz einer "Stadtteilbezogenen Sozialen Arbeit" gründet. Erst recht aber sind sowohl die gesellschaftlich-historischen Entstehungskontexte als auch die politisch-praktischen Implikationen dieser beiden Ansätze so verschieden im Vergleich zu "Konzepten des bürgerschaftlichen Engagements, des Empowerment, der Einmischungsstrategie, der integrierten Planung, des kommunikativen Stadtmarketings oder der lokalen Agenda 21", dass alle zusammen wohl kaum als bloß "andere () Bezeichnungen" der gleichen "Grundaussagen" abgehandelt werden können, wie nicht nur im Vorwort (S. 7) und im Klappentext geschehen, sondern auch in der gemeinsamen Diskussion sowie vereinzelten Beiträgen.

Hinzu kommt, dass in den Einleitungen von Maria Lüttringhaus nicht einmal darauf hingewiesen wird, wenn anscheinend gleiche Begriffe unterschiedlich durch beide Autoren gebraucht werden. Dies wird besonders deutlich, wenn Oelschlägel in einem seiner Konzeptbeiträge (S. 54 ff.) im Anschluss an Michael Winkler für eine "Pädagogisierung" der GWA plädiert und Hinte gleich im Anschluss (S. 74 ff.) gegen eine von ihm allerdings ganz anders verstandene "Pädagogisierung" polemisiert. So bedeutet "Pädagogisierung" für Oeschlägel (vgl. S. 63) nichts anderes als "die Herstellung von Infrastrukturen", innerhalb derer die Betroffenen nicht nur "informelle alltägliche Sozialbezüge ausbilden", sondern "ihre Bedürfnisse auch gegen das Gesellschaftssystem produzieren können", so dass eine "handelnde Aneignung gesellschaftlich vorhandener Möglichkeiten" eröffnet und angestoßen wird. Dies ist nichts anderes als der Versuch einer gesellschaftlichen Fassung der sokratischen Mäeutik, auf die sich auch Hinte (vgl. S. 45 f.) – freilich eher individualistisch – bezieht.

So liegt es also an den LeserInnen selbst bzw. an den Lehrenden, die mit diesem Reader in ihren Seminaren arbeiten, solche Unterschiede in den theoretischen Bezügen, wie auch in den politisch-praktischen Implikationen der entsprechende Ansätze herauszuarbeiten. Material dazu jedenfalls liefert der Band genug.
Michael May (Wiesbaden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael May: Rezension von: Hinte, Wolfgang / LĂĽttringhaus, Maria / Oelschlägel, Dieter: Grundlagen und Standards der Gemeinwesenarbeit, Reader, MĂĽnster: Votum Verlag 2001. In: EWR 1 (2002), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2002), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/93315872.html