EWR 2 (2003), Nr. 5 (September/Oktober 2003)

Walter Herzog
Zeitgemäße Erziehung
Die Konstruktion pädagogischer Wirklichkeit
Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002
(688 Seiten; ISBN 3-934730-55-8; 50,00 EUR)
Zeitgemäße Erziehung Schon durch den Umfang des Werkes von Walter Herzog drängt sich die Frage auf, ob es sich hier um ein Lebenswerk handelt. Allein das Literaturverzeichnis umfasst über 80 Seiten, und es ist imponierend, welche Vielzahl von Autoren, Richtungen und Strömungen in diesem Buch verarbeitet wurden. Dies stellt sich aber auch im Verlaufe des Lesens als zunehmendes Problem heraus. Am Ende steht der Eindruck, dass hier ein jahrelanger Widerstreit zu Papier gebracht wurde, in dem sich geisteswissenschaftlich-hermeneutische Tradition (Hans-Georg Gadamer ist z. B. ein viel zitierter Referenzdenker) und Konstruktivismus (Ernst von Glasersfeld, Francisco Varela vor allem aber Niklas Luhmann) zu vereinen trachteten. Hingegen sucht man Bücher, die sich von der Titelthematik direkt aufgedrängt hätten, wie z. B. Gerhard de Haans "Die Zeit in der Pädagogik" (1996) oder auch Manfred Lüders‘ "Zeit, Subjektivität und Bildung" (1995) im Literaturverzeichnis vergeblich – und vielleicht geht es ja auch um etwas anderes, als die Eingangsfragestellung vermuten lässt? Der Titel des Buches sei, so Walter Herzog (vgl. 9), doppeldeutig zu verstehen. Erstens gehe es um das theoretische Interesse, die nach Ansicht des Autors zu starke Raummetaphorik pädagogischen Denkens durch Zeitmetaphern zu ersetzen. Gleichzeitig solle damit aber auch eine sozio-historisch aktuelle – also in diesem Sinne "zeitgemäße Erziehung" beschrieben werden, die schließlich in Hinweise zur Lehrerbildung einmünden wird.

Kapitel 1 "Raum und Erziehung. Grundzüge einer pädagogischen Metaphorologie" beginnt mit einer Kritik und der Feststellung, dass die Grundbegriffe der Pädagogik nur von vager Referenz seien (vgl. 13). Denn Bildung und Erziehung haben es im Sinne Walter Herzogs mit Subjektwerdung zu tun. Diese aber sei wesentlich durchherrscht von Ereignishaftigkeit und Unbestimmtheit und könne darum nicht exakt begrifflich definiert werden. Die Metapher hingegen sei das adäquate Erkenntnismittel, da sie nicht per logischer Eineindeutigkeit, sondern per Analogie die Übertragung von Bekanntem auf Unbekanntes gestatte. Die Pädagogik bediene sich allerdings einer falschen Metaphorik, da sie die Raummetapher zur Beschreibung von Erziehungsprozessen benutze. Dabei setzt Walter Herzog Raum mit Linie gleich (vgl. z.B. 22). Auf der Linie aber sei lediglich graduell Verschiedenheit gegeben, die die Erziehungstheoretiker vorgeben, von Anfang bis Ende kontrollieren zu können. Zeit hingegen impliziere Andersheit, ermögliche als Vorstellung das Auftauchen anderer Gestalten und verhindere dadurch als Erkenntnismetaphorik den falschen pädagogischen Zugriff, "Erziehung als einen Prozeß (zu) deuten, der geplant, überschaut und beherrscht werden kann" (72). Merkwürdig in der Argumentation ist hier die dualistische Trennung zwischen Raum und Zeit. Stephen Hawking ("Eine kurze Geschichte der Zeit" – 1988) spricht z. B. von einer Raumzeit, als einem vierdimensionalen Raum, dessen Punkte Ereignisse sind, die nicht über ein gewisses Maß an Genauigkeit hinaus vorhergesagt werden können – und um diese Unvorhersagbarkeit geht es Walter Herzog doch wohl?! Mehr als irritierend ist es zudem, wenn in kürzester Abfolge (vgl. 37-39) so unterschiedlichen Denkern wie Ziller, Rousseau, Pestalozzi, Konrad Lorenz, Alice Miller und Ekkehard von Braunmühl die in Raummetaphern verborgene gleiche "Erziehung der Überwachung und Kontrolle" (37) bescheinigt wird. Damit wird die Metapher Raum im Sinne von Richtungssinn = Kontrolle so weit gefasst, dass sie als Analyseinstrument obsolet wird.

Kapitel 2 "Zeit und Subjektivität. Skizzen zu einer Psychologie des Werdens" setzt den Dualismus von Raum und Zeit fort. Raum sei auf Kausalität bezogen, Zeit aber entstehe als korrelative Beziehung aus der Reflexivität des Subjekts: "Zeit und Subjektivität sind menschliche Errungenschaften, die gleichzeitig elaboriert werden und sich gegenseitig bedingen" (105f.), woraus Walter Herzog methodisch folgert, dass die Anthropologie der rechte Zugang zur Frage nach der Zeit sei. Das Kapitel befasst sich dann auch umfassend mit dem Wandel menschlichen Selbstverständnisses und der damit gegebenen Entwicklung des Zeitbegriffs. Zeit und Mensch in mystischem und christlichem Denken werden behandelt sowie das wissenschaftliche Zeitverständnis, das mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften im 17. Jhd. einen metrischen Zeitbegriff entwickelt habe. Im Kontext der historischen Wissenschaften sei schließlich ein modales Zeitverständnis hervorgetreten. Die modale Zeit ist der Modus, auf den es Walter Herzog (anthropologisch und pädagogisch) ankommt. Modalzeit meint offene Zeit (vgl. 149) – ein Zeitverständnis, das sich von zyklischen und linearen Raumkategorien gelöst habe und in dem sich der Mensch als Handelnder in Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit erfahre. Spannend und bedenkenswert ist hier die Intention Walter Herzogs, nach einer Theorie des Sinns zu suchen, die der Zeitlichkeit menschlicher Existenz entspricht und nicht allein an theologisch-metaphysischen Zeitkategorien des Ewigen orientiert ist (vgl. 167, Anm. 72).

Kapitel 3 und 4 widmen sich der Explikation der laut Walter Herzog pädagogischen Kernbegriffe "Wissen" und "Kommunikation" – vielleicht als pädagogische Kernbegriffe etwas weit gefasst?

Kapitel 3 "Evolution und Geist. Eine konstruktivistische Theorie des Wissens" geht davon aus, daß bei "herkömmlichen Erkenntistheorien" (169) Wissen nicht ausreichend im Horizont der Zeit erscheine und Subjektivität zur Störgröße degradiert würde. Was aber "herkömmliche Erkenntnistheorien" sind, wird von Walter Herzog nicht weiter ausgeführt, obgleich er sonst sehr großzügig mit Zitationsbeispielen und Autorenbenennungen umgeht. Zentral in diesem Kapitel ist die Aussage, dass Leben und Geist in einem sich selbst organisierenden Prozess evolutiv geeint sind. Die Grundoperation des Geistes sei die Unterscheidung (vgl. 206ff.) – wobei hier z. B. in keiner Weise zwischen Geist, Kognition und Verstand unterschieden wird. Die Unterscheidungen dienten dem Menschen aber nur zur Orientierung mit dem Zweck der Lebensbewältigung (Viabilität statt Wahrheit im Sinne von Ernst von Glasersfeld). "Die wahre Wirklichkeit ist >unterscheidungslos und dunkel< (Luhmann)" (209), d. h. unsere Unterscheidungen sind unsere Unterscheidungen und Wissen ist nur da und passend in Bezug auf eine "individuelle Autopoiese" (Herzog im Anschluss an Maturana, 263). Dennoch ist Walter Herzog durchaus bewusst, dass das Ich ein Du braucht, doch verbleibt er in der Unterscheidung von Ich und Du bei der ausschließlichen Hervorhebung des Differentiellen: "Der oder die andere ist immer ein Du und niemals ein zweites Ich" (265) – obgleich also eigentlich im Sinne der Zeitmetaphorik eine Theorie des Werdens gesucht wird, bleibt die Vorstellung des Menschen substantialistisch, sonst wäre zwischen Ich und Du eine relationale Prozessvorstellung möglich. Auch wenn Walter Herzog interaktionistische Theorien heranzieht, bleibt dieser Hiatus zwischen Ich und Du im Gesamtwerk erhalten.

Obgleich so z. B.in Kapitel 4 "Kommunikation und Sprache. Eine Theorie des Verstehens" auf den erzieherischen Gedanken der Vermittlung explizit hingewiesen wird (vgl. 267), bleiben Lehrer und Schüler Gefangene ihrer Kognition: "Als autopoietische Systeme operieren Lehrer und Schüler strukturdeterminiert. Sie sind operational geschlossen und kognitiv voneinander unabhängig." (269) Die Betonung liegt hier darauf, dass der Schüler nicht als Nürnberger Trichter anzusehen ist, sondern seine eigene Weise der Wissensaneignung und Transformation hat – aber würden das "herkömmliche" pädagogische Theorien wirklich bestreiten? Und: Muss darum gleich Kommunikation als Störung betrachtet werden, die zwar für die Bildung autopoietischer Systeme als konstitutiv betrachtet wird – die aber letztendlich auf Verhalten reduziert wird: "Sprechen ist Verhalten und unterliegt denselben Prinzipien wie anderes Verhalten auch. Lediglich der Wirklichkeitsbereich, in dem es sich formt, ist anders: Sprache emergiert aus der sozialen Interaktion von Menschen." (328) Was heißt hier z. B. "lediglich"? Ebenso unklar bleibt, warum Walter Herzog überhaupt noch den Begriff des Verstehens verwendet, da dieses für ihn letztendlich nur ein Wissen darstellt, "wie ein Zeichen zu gebrauchen ist" (349).

Das 5. Kapitel "Reziprozität und Anerkennung. Eine Theorie der pädagogischen Situation" stellt dann auch weniger eine pädagogische Theorie der Vermittlung dar, als dass es versucht, die konstruktivistische Sicht der Wirklichkeit als Hilfestellung anzubieten, die Widersprüche und Ungewissheiten schulischen Lebens zu bewältigen. Solche Widersprüche werden z. B. zwischen pädagogischen Bildungsvorstellungen und gesellschaftlicher Selektion (vgl. 423) aufgezeigt. Ungewissheiten bestünden schließlich in dem grundlegend sozialen Charakter der Lehrtätigkeit (vgl. 433), die mit dem konstruktivistischen Konzept dadurch zu bewältigen seien, dass einem bewusst ist, "daß es zum Zweck des Überlebens nicht erforderlich ist, die Wirklichkeit an sich zu erkennen. Es genügt so viel über die Wirklichkeit zu wissen, daß in ihr gehandelt werden kann" (439) – meint, Wissen nicht aufzubauen, sondern für mögliche Auseinandersetzungen zu irritieren (vgl. ebenda). Wozu aber müssen sich autopoietische Systeme überhaupt noch in Auseinandersetzungen abmühen ? Das steigert doch eigentlich nur die Komplexität der Wirklichkeit, die doch gerade zur Lebensbewältigung reduziert werden soll?

Die pädagogische Wirklichkeit möchte Walter Herzog in diesem Kapitel auf mehreren Ebenen erschließen – was die Linearität der Raummetaphorik ausschließe, jedoch die Zeitmetaphorik ermögliche: "Hauptgegenstand dieses Kapitels ist das Verhältnis von Handlungs- und Systemebene des Unterrichts." (391) Bei diesen Ausführungen kommt er zu einer Kritik am Handlungsbegriff Niklas Luhmanns, der zu sehr am Absichtsbegriff hinge (vgl. 413f.) und dessen Trennung von Handlung und Kommunikation für Walter Herzog nicht plausibel ist (vgl. 417). Sehr bedenkenswert ist dann sein Ansatz, "die Situation als Ausgangspunkt pädagogischer Theorie" (457ff.) zu entfalten. Dabei betont er, dass der Erzieher eben nicht die Situation überblicken und durchstrukturieren könne, sondern dass er selbst Teil jener kommunikativen Sozialdynamik sei. Anstatt einer falschen Autorität und Machtmissbrauch sollen Reziprozität und eine "Moral der Anerkennung" (487ff.) herrschen. Reziprozität wird als eine Art Formalkategorie eingeführt, die Anerkennung, Liebe, Freundschaft und Vertrauen einschließe (vgl. 474ff.). Näher betrachtet geht es aber eigentlich nicht um zwischenmenschliche Kommunikation, sondern um Absicherung gegen Ungewissheiten – und eben um Reduktion (sozialer) Komplexität: "Vertrauen ist nun offensichtlich ein Mechanismus, der solch unberechenbare Ungewißheit ertragen hilft" (472). Gleichzeitig wird Reziprozität konkretisiert am Spiel und am Gespräch – hier in Bezug auf Hans-Georg Gadamer, dem es gerade nicht um eine Reduktion von Komplexität ging, sondern um ein Ereignen von Sinn. Solche Widersprüche durchziehen nicht nur das fünfte Kapitel, sondern das ganze Buch. Sollte hier vielleicht eine Pädagogik des situativen Ereignisses geschrieben werden, die sich durch konstruktivistisches Vokabular frei von "ontotheologischen Wurzeln" (513) machen wollte? Oder liegt hier wirklich eine radikal konstruktivistische Methodik vor, die allein dem eigenen Kriterium der Viabilität im Umgang mit erziehungswissenschaftlicher Literatur entsprechen will?
Petra Reinhartz (München/Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Petra Reinhartz: Rezension von: Herzog, Walter: Zeitgemäße Erziehung, Die Konstruktion pädagogischer Wirklichkeit, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002. In: EWR 2 (2003), Nr. 5 (Veröffentlicht am 01.10.2003), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/93473055.html