EWR 4 (2005), Nr. 6 (November/Dezember 2005)

Joachim KĂĽchenhoff
Die Achtung vor dem Anderen
Psychoanalyse und Kulturwissenschaften im Dialog
Weilerswist: VelbrĂĽck Wissenschaft 2005
(418 S.; ISBN 3-934730-86-6; 29,80 EUR)
Die Achtung vor dem Anderen Die Psychoanalyse ist zweifelsohne nicht nur die älteste sondern wohl auch bekannteste Form der Psychotherapie. Gleichwohl – und so beschreibt es der Autor selbst – hat sie, nicht zuletzt in Konkurrenz zu anderen Therapieformen stehend, rasant an Bedeutung verloren. Dabei geht es in Zeiten von Ökonomie und zunehmender Macht des naturwissenschaftlichem Paradigmas nicht nur um den empirischen Beleg der Erfolge, sondern auch um die Frage ihrer wissenschaftlichen Relevanz. „Lohnt es sich, die Psychoanalyse überhaupt und immer noch ernst zu nehmen als wissenschaftlichen Gesprächspartner, als Nachbardisziplin?“(9). Die eindeutige Bejahung dieser Frage markiert für den Autor Ausgangspunkt und Anliegen des Buches. Denn das veraltete Gewand, in dem die Psychoanalyse in den Augen ihrer Kritiker daherkommt, ist seiner Überzeugung nach eher ein Symptom als denn Makel für den Widerspruch zum Zeitgeist einer Gesellschaft, die in einer rückhaltlos globalisierte Welt – jenseits von einzigartiger Individualität – den flexiblen und disponiblen Menschen braucht. So wird „die Ablehnung, die die Psychoanalyse trifft, (...) zu einem Spiegel, in dem sich gesellschaftliche Entwicklungen wie in einem Punkt zentriert zeigen“ (9). Und schafft nicht vielmehr die Unangepasstheit psychoanalytischen Denkens, das Festhalten an eigensinnigen, unveräußerbaren Erfahrungen gerade den Kontrapunkt, „an dem sich gesellschaftliche Prozesse reiben und somit sichtbar werden können?“ (13). Dazu brauchen Psychoanalytiker aber, um der eigenen Wirksamkeit willen, den interdisziplinären Bezug zu den Kulturwissenschaften. Gilt das auch umgekehrt? Hier setzt das vorliegende Buch an, indem ausgehend von dem Selbstverständnis der Psychoanalyse als „Vernetzungswissenschaft par exellence“ Netzwerke zur Philosophie sowie den Gesellschafts- und Kulturwissenschaften geknüpft werden. So entwickelt der Autor in den fünf Teilen des Buches vielgestaltige Möglichkeiten des gegenseitigen Erkenntnisgewinns, die – als das Buch leitende Aufforderung - den interdisziplinären Dialog zwischen den einzelnen Wissenschaften herausfordern.

Der erste Teil des Buches ( Der Mensch und seine Mitwelt – Grenzgänge zwischen Psychoanalyse und Philosophie) behandelt übergreifend die Frage nach dem gegenseitigen Gewinn im Dialog zwischen Psychoanalyse und Philosophie. Beide Disziplinen einigt ihre gemeinsame Beschäftigung mit Gegenwart und Vergangenheit. So konzentriert sich beispielsweise ein wesentliches Problem der Geschichtsphilosophie auf die Reproduktion historischer Vergangenheit in der Gegenwart. „Ist sie als kulturelle Erinnerung präsent, oder ist sie nur an ihren Wirkungen sichtbar, wie sie sich in ihren gesellschaftlichen Wertvorstellungen, in Institutionen etc. niedergeschlagen hat?“ (10). Für den Psychoanalytiker sind es vom Gegenstand her die gleichen Fragen, in dem er sich mit der biografischen Vergangenheit und der gelebten Gegenwart seiner Klienten auseinandersetzen muss. Die Besonderheit des in der Psychoanalyse angestoßenen biografischen Erinnerungsprozesses liegt indes nun darin, dass die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart erst durch die Analyse der Übertragungsbearbeitung erzeugt wird: Vergangenheit und Gegenwart sind so miteinander verschränkt, dass erst durch die Deutung Vergangenheit und Gegenwart rückwirkend getrennt werden können. Dadurch „können alte Gewohnheiten und Perspektiven (...) sich (S.K.) auflösen, alte Erzählungen können relativiert und neue Erzählungen möglich werden. Die Befreiung der Gegenwart von der Vergangenheit, die in der Analyse geleistet wird, schafft die Möglichkeit neue Geschichten über die Vergangenheit zu erzählen“ (63). Ein Zusammenhang, der, wie der Autor unterstreicht, für die Geschichtsphilosophie und die Aufarbeitung historischer Traumen in gesellschaftlichen Kontexten bedeutsam ist.

Insgesamt wird in den Kapiteln dieses Teils deutlich, wie die Psychoanalyse von der Philosophie für ihre eigene Deutungsarbeit lernen kann – ja, sie sogar zu ihrer Korrektur braucht – und wo umgekehrt die Psychoanalyse, sowohl von ihrer Erkenntnis zu Lebensgeschichten als auch ihrer Methode, Denkanstöße vermitteln kann.

Der zweite Teil des Buches (Der Mensch und sein Leib – Grenzgänge zwischen Psychoanalyse, Medizin und Gesellschaftswissenschaften) widmet sich – einem besonderen Interessensschwerpunkt des Autors folgend – der Frage der Bedeutung des Körpers für die Psychoanalyse. Damit wird ein Themenfeld aufgespannt, dass sowohl medizinische, psychologische als auch insbesondere gesellschaftswissenschaftliche Relevanz beinhaltet. Es ist – so die Vorstellung des Autors – die gesellschaftlich narzistisch anmutende Inszenierung des Körpers, die der Psychoanalyse – ähnlich wie der Kunst – die kritische Aufgabe zuweist, im Interesse des Subjekts jene „Instrumentalisierungen am Körper aufzudecken und Körpererfahrungen, die in der normativen Körperkultur nicht aufgehen, zu finden und an ihnen festzuhalten“ (182). „So können Kunstwerke ebenso wie die Psychoanalyse den gesellschaftlich verleugneten körperlichen Erfahrungshorizont wieder erweitern, die Reduktion von Körpererfahrung auf die Anpassung an öffentlich angebotenen Identitätsvorgaben widerlegen und wieder Spielräume öffnen, die auszufüllen nicht mehr Aufgabe der Kunst oder der Psychoanalyse, sondern nur noch des Individuums sein kann“ (183).

Gegenstand des dritten Teils (Der Mensch und die Gesellschaft – Grenzgänge zwischen Psychoanalyse und Gesellschaftswissenschaften) ist der Versuch, den möglichen Beitrag der Psychoanalyse für die Soziologie auszuloten. Ausgangspunkt ist die These Küchenhoffs, dass die seitens der Soziologie markant herausgearbeiteten Entwicklungslinien in der Veränderung der Gesellschaft eher zur Ideologie neigen als denn reale Lebensverhältnisse unverzerrt zu beschreiben. So empfiehlt er „Distanz zu eigenen irrationalen Vorannahmen und wissenschaftliche empirische Nüchternheit“ (187f.). Die Psychoanalyse kann hier im Detail empirisch exakter sein, auch wenn die Gefahr besteht, dass sie sich im Detail verliert. Aber sie blickt auf gesellschaftliche Verhältnisse „immer vermittelt über das Feld der eigenen und spezifischen Empirie, des Erlebens des Einzelnen in der Begegnung mit dem Anderen. Sie kann den Einzelnen freilich nicht als Monade oder als nach außen abgekapselten Kampfplatz innerer Konflikte ansehen. Vielmehr muss sie berücksichtigen, wie die sozialen Einflüsse in die seelischen Verhältnisse des Einzelnen eingreifen“ (18). Vor diesem Hintergrund reflektiert der Autor in diesem Buchteil Fragen von Familie, Umwelt und Gewalt. Auch wenn nicht alles umfassend erklärt werden kann, so wird doch das komplizierte Wechselspiel zwischen Innen und Außen sehr deutlich.

Der 4. Teil des Buches (Mensch und die Kultur – Grenzgänge zwischen Psychoanalyse und Interpretationswissenschaften) unternimmt den Versuch, den Dialog zwischen der Psychoanalyse und den Interpretationswissenschaften – gemeint sind die Wissenschaften, die mit Interpretationsverfahren als die ihnen angemessene Methode arbeiten – aufzuzeigen.

Im Vordergrund steht zunächst das Herausarbeiten eines psychoanalytischen Interpretationsbegriffs. Konstitutiv für psychoanalytisches Interpretieren ist die Intersubjektivität, gerade durch sie unterscheidet sich psychoanalytisches Interpretieren von anderen Interpretationsverfahren. So erfolgt die Interpretation nicht nur im Dialog mit dem Analysanden, sondern wird vom Gegenstand zuallererst in der interpersonalen Beziehung zwischen Analytiker und Klient erzeugt. Mit anderen Worten: Gegenstand der Interpretation sind nicht der Analysand oder die von ihm produzierten Texte, sondern der geteilte Raum der analytischen Beziehung „und die Beziehung wird interpretiert, um die Selbstinterpretation des Analysanden zu verändern, bzw. die Möglichkeiten seiner Selbstinterpretation anzureichern“ (249). Dabei dekonstruiert die psychoanalytische Interpretation nicht nur die Selbstinterpretation des Analysanden, sondern gleichsam auch die Interpretationsleistung des Analytikers. „Es gibt keinen externen Standpunkt, von dem aus die psychoanalytische Deutung ausgesprochen werden könnte“ (258). Ein solches psychoanalytisches Interpretationsverfahren – so die Überzeugung des Autors – muss sich auch im Hinblick auf die Interpretation kultureller Erzeugnisse bewähren. Thema ist dabei nicht die psychoanalytische Deutung der Kulturschaffenden selbst, wie es eben so wenig darum gehen kann, die Figuren von Filmen oder Romanen wie Analysanden zu deuten. Vielmehr möchte die Psychoanalyse eine methodische Hilfe anbieten. So kann gerade das Rätselhafte eines Eindrucks, den beispielsweise ein Kunstwerk hinterlässt, ernst genommen und zum Ausgangspunkt weiterer Interpretationen gemacht werden. Ebenso können psychoanalytische Identitätskonzepte als Interpretationsfolie für die Romanform genutzt werden.

Mit dem fünften Teil des Buches (Der Mensch und die Krankheit – Interdisziplinäre Erweiterungen der Psychoanalyse) wird an alle vorherigen Abschnitte angeknüpft. Allerdings hat sich die Zielsetzung verändert. So geht es nicht mehr um den Beitrag der Psychoanalyse für den interdisziplinären Dialog, sondern jetzt um die Rückwirkung auf die psychoanalytische und klinische Theoriebildung. Hierfür stehen Themen wie die Kontroverse von Trauma und Konflikt, Suizid, Sucht, Hysterie, Narzissmus und das Festhalten am Leiden. Fallbeispiele aus der klinischen Praxis runden das Kapitel ab. Es ist die Theorie der zusammengehörenden Fähigkeiten von Repräsentation (Erfahrungsbildung) und Intersubjektivität, sowie der jeder Behandlung zu Grunde liegende Maxime der Anerkennung des Anderen als Anderen, die der Psychoanalyse dazu verhilft, an der Übersetzung des ganz spezifischen Leidens zu arbeiten. Und sie kann hierzu – wie der Autor deutlich macht – Rückgriff auf die in der Literaturgeschichte eingeflossene psychoanalytische Theoriebildung nehmen, die dort nicht nur aufgegriffen sondern fortgeschrieben wird. Ein Beweis dafür, dass das Terrain der Psychoanalyse nicht mehr primär ein allein klinisches ist, und Grund für Küchenhoff`s Hoffnung, dass die Psychoanalyse bei allem Bedeutungsverlust in der Psychiatrie ja nunmehr zu den Geisteswissenschaften wandern könnte.

Das vorliegende Buch stellt zweifelsohne eine Bereicherung und einen wichtigen Denkanstoß für die wechselseitigen Erträge von Psychoanalyse sowie den Geistes- und Kulturwissenschaften dar. So gelingt es dem Autor mit einer ausgesprochen differenzierten und gründlichen Argumentation sowie einer klaren und zusammenfassenden Struktur der Artikel, psychoanalytische Denk- und Handlungsweisen in ein interdisziplinäre Blickfeld zu rücken. 22 Kapitel, die jeweils auch für sich als abgeschlossene Einheiten gelesen werden können, vermitteln hierzu vielseitige und hintergründige Aspekte. Aber auch für Menschen, die sich grundlegend für die Psychoanalyse interessieren, schafft dieses Buch einen vertieften Einblick in die Nützlichkeit und den Wirkungszusammenhang einer psychoanalytischen Therapie. Im Ergebnis erschließt sich dem Leser jene seitens der Psychoanalyse postulierte Achtung vor dem Anderen gleichermaßen auch als Achtung vor der Psychoanalyse. Besteht darin, nicht zuletzt eingedenk des erkannten Bedeutungsverlustes der Psychoanalyse, ein „heimliches“ Anliegen dieses Buches?
Steffen Kirchhof (Flensburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Steffen Kirchhof: Rezension von: KĂĽchenhoff, Joachim: Die Achtung vor dem Anderen, Psychoanalyse und Kulturwissenschaften im Dialog. Weilerswist: VelbrĂĽck Wissenschaft 2005. In: EWR 4 (2005), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2005), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/93473086.html