Sarah Conly gehört ohne Frage zu den Philosoph_innen, die auch solche Positionen vertreten, die unpopulär und weitab vom philosophischen Mainstream angesiedelt sind. Nach ihrem provokanten und breit rezipierten „Against Autonomy“ [1], in dem mehr Formen von legalem Paternalismus gerechtfertigt wurden, als den meisten lieb sein dürfte, liefert Conly nun mit ihrem neuen Buch „One Child. Do we have a right to more?“ eine Verteidigung und Rechtfertigung einer weltweiten Ein-Kind-Politik. Conly, so viel steht spätestens mit diesem Buch fest, ist damit auf dem besten Wege, eine Art Enfant terrible der Moral- und Politikphilosophie zu werden. Nichtsdestotrotz lassen sich ihre Arbeiten nicht auf intelligente Provokationen reduzieren, denn sie entwickelt durchaus problembewusste, zuweilen ausgefeilte und zudem bisher häufig unzureichend beachtete Argumente für Positionen, die in unterschiedlichen humanwissenschaftlichen Disziplinen Beachtung finden. Auch wenn man Conlys Ansichten natürlich nicht teilen muss, reicht es für eine angemessene Auseinandersetzung mit ihren Argumenten daher nicht aus, in persuasiv-moralisierender Absicht bloße Reiz- und Schlagworte in Stellung zu bringen, um so schon vor jeder argumentativen Auseinandersetzung Flagge zu zeigen. Dies gilt zumindest dann, wenn man zur Klärung der relevanten normativen und empirischen Fragen überhaupt etwas beitragen möchte.
Die natürlichen Ressourcen des Planeten sind beschränkt und werden in atemberaubender Geschwindigkeit durch eine immer größer werdende Zahl von Menschen mit immer größer werdenden Konsumbedürfnissen verbraucht. Zugleich ist mit Blick auf die globale Entwicklung nicht zu erwarten, dass die Menschen in absehbarer Zeit ihren Konsum freiwillig drosseln oder kurzfristig von sich aus die Zahl ihrer Kinder in hinreichendem Maße reduzieren werden. Ausgangspunkt von Conlys Argumentation ist daher die Annahme, dass der absehbare Zuwachs der Weltbevölkerung in den nächsten Jahrzehnten (nach Schätzungen ca. 9,7 Milliarden bis 2050; 219), dem eine historisch einmalige Bevölkerungsexplosion in den letzten einhundert Jahren vorausgegangen ist, mit großer Wahrscheinlichkeit in ein ökologisches Desaster und eine soziale Katastrophe führen wird (Kriege, Hungersnöte, zunehmendes Verschwinden der Privatsphäre etc.). Die einzige aussichtsreiche Möglichkeit, dieses Szenario zu verhindern, besteht nach Conly in einer temporären Verringerung des Zuwachses der Weltbevölkerung durch eine Reduktion der Kinderzahl auf ein Kind pro Familie:
“I am going to argue here that we don’t have a right to more than one biological child. At this point in time, when the world around us is in so much danger from environmental degradation, doing just as our parents did – having as many children as we happen to want – is no longer viable” (2).
Sie begründet diese Position vor allem mit dem harm principle, d.h. über die angenommene Schädigung Dritter, die mit einer zu großen Kinderzahl einhergeht. Wir haben, so Conly, zwar ein interessebasiertes fundamentales Recht darauf Kinder zu bekommen (d.h. ein Kind), nicht jedoch ein Recht auf beliebig viele Kinder, insbesondere wenn dies zu großen, wenn auch nicht intendierten und eher indirekten, Schädigungen für unsere (zukünftigen) Mitmenschen führt. Dem fundamentalen Interesse und Recht ein Kind zu bekommen, sei dagegen schon dann Genüge getan, wenn wir ein einziges Kind bekommen, da dies – selbst wenn dies der eigenen, evtl. religiös begründeten Konzeption des Guten widerspricht – für ein gutes und erfülltes (Familien-)Leben als ausreichend zu erachten sei. Da Conly ein gesetzlich durchgesetztes Verbot ablehnt und viele der Sanktionen, die z.B. in China vor der Abschaffung der Ein-Kind-Politik (zugunsten einer Zwei-Kind-Politik seit Januar 2016) oder auch in Indien unter Indira Gandhi in den 1980er Jahren genutzt wurden, offensichtlich moralisch nicht zu rechtfertigen sind (z.B. Zwangssterilisierungen), schlägt sie vor, unterschiedliche Maßnahmen zu kombinieren, um die Bevölkerungszahl zu regulieren. Hierzu gehören u.a. Bildung und Bildungskampagnen, positive und negative Anreizstrukturen, die kostenlose Verbreitung und leichte Zugänglichmachung von Verhütungsmitteln, in der Höhe proportional zum Einkommen anzusetzende Geldstrafen und einen u.a. durch die expressive Funktion von (demokratisch legitimierter) Rechtsetzung initiierten Norm- und Wertewandel.
Conly setzt sich detailliert mit vielen der denkbaren Gegenargumente auseinander, die gegen ihre bevölkerungspolitischen und familienethischen Ausführungen ins Feld geführt werden können. Hierzu gehören u.a. Argumente, die sich auf die Einschränkung der Autonomie der Betroffenen, das Recht auf eine Familie, auf den eigenen Körper, sowie Argumente, die sich auf die vielen denkbaren nicht intendierten Nebeneffekte einer Ein-Kind-Politik beziehen: Probleme der Aufrechterhaltung von generationenübergreifenden Solidarsystemen, Probleme auf Grund von mangelndem Wirtschaftswachstum, Diskriminierung durch Geschlechtsselektionen, potentielles Verschwinden von Kulturen, Folgen geschwisterlosen Aufwachsens für die Kinder, etc.
Insbesondere Conlys teilweise ermüdenden und mäandernden Analysen und Entkräftungsversuche von Gegenargumenten, in denen immer wieder mehr oder weniger einleuchtende, häufig auch eher weit hergeholte Beispiele und Analogien angeführt werden, verlangen dem Leser einiges an Geduld ab. Ein generelles Problem ihrer Argumentation, das ein Stück weit auch in der Natur der verhandelten Thematik angelegt ist, besteht zudem in dem grundsätzlich „hypothetischen“ (89) Charakter ihrer Ausführungen, die in weiten Teilen auf empirisch ungesicherten Annahmen und Schätzungen basieren. So ist es eine Kombination unterschiedlicher hochkomplexer interdependenter Faktoren, die, wenn alle zugleich auftreten, dem skizzierten Katastrophenszenario Plausibilität verleihen sollen. Auch wenn sich die heutige Datenlage als weit besser erweist als dies noch für vergangene alarmistische Prophetien in Sachen Bevölkerungsentwicklung gelten konnte (die sich seit Malthus immer wieder als falsch erwiesen haben) (149), bleibt dennoch fraglich, ob die vorgeschlagene Ein-Kind-Politik tatsächlich den wichtigsten Lösungsvorschlag liefert (228), um die aktuellen und zu erwartenden komplexen Problemlagen zu bewältigen. Da Probleme der demokratischen Legitimation und Durchsetzung einer weltweiten Ein-Kind-Politik im Rahmen von Conlys hypothetischen Überlegungen kaum thematisiert werden (z.B. Fehlen handlungsfähiger supranationaler Akteure oder eines Weltstaats, die eine Ein-Kind-Politik auch gegenüber Einzelstaaten durchsetzen könnten; Konflikte und Konkurrenz zwischen Nationalstaaten), bleibt auch eher unklar, wie die global-weltgesellschaftliche orientierte Diagnose und Programmatik im Rahmen partikularer kulturell-gesellschaftlicher Kontexte mit unterschiedlichen Bevölkerungsdynamiken umgesetzt werden könnten. Damit steht und fällt schließlich die Antwort auf die Frage, ob der Vorschlag am Ende überhaupt eine reale Möglichkeit oder nur ein interessantes Gedankenexperiment darstellt.
Erstaunlich wenig geht Conly auf die sozialen, psychologischen und finanziellen Kosten für diejenigen ein, die sich mehr als ein Kind wünschen und dies als konstitutiven Teil ihrer Identität und Lebensplanung betrachten. Entsprechende Bedenken lassen sich schließlich nicht ohne weiteres durch das immer wieder angeführte Argument ad acta legen, dass Menschen vermeintlich kein Recht auf mehr als ein Kind hätten, was auch immer sie selbst davon halten mögen. Conly diskutiert zwar einige der Abwägungsprobleme zwischen den Interessen und Rechten jetziger und zukünftiger Generationen und insbesondere auch darüber, welche Verantwortung und Pflichten jetzigen Generationen gegenüber späteren Generationen zugeschrieben werden können. Sie geht jedoch kaum auf die Folgen einer weltweiten Ein-Kind-Politik für die konkrete Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen den Generationen und für die Legitimation generationaler Ordnungen ein, Themen, zu denen aus erziehungs- und bildungstheoretischer [2], aus gerechtigkeitstheoretischer [3] und auch aus familienethischer [4] Sicht sicherlich weit mehr zu sagen wäre.
Kurzum: Ein Teil von Conlys Argumentation wird beim Leser, so die Einschätzung und Prognose des Rezensenten, eher Befremden und Skepsis auslösen. Gerade auf Grund des großen Irritationspotentials eignet sich das Buch, eine akademische und öffentliche Debatte in Gang zu bringen, deren empirische Grundlage und praktisch-politische Relevanz zum jetzigen Zeitpunkt gleichwohl unklar bleiben. Als gesicherte Prognose kann in jedem Fall gelten, dass uns das alte Problem, dass die Neuankömmlinge vor der Welt, aber auch die Welt vor den Neuankömmlingen zu schützen ist [5], unter sich stetig wandelnden Bedingungen auch in Zukunft erhalten bleiben wird.
[1] Conly, S.: Against Autonomy. Justifying coercive paternalism. Cambridge: Cambridge University Press 2013.
[2] Ecarius, J.: Generation, Erziehung und Bildung. Eine Einführung. Stuttgart: Kohlhammer 2008.
[3] Brumlik, M.: Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Berlin: Berlin Verlag 1995.
[4] Betzler, M. / Bleisch, B. (Hrsg.): Familiäre Pflichten. Berlin: Suhrkamp 2015.
[5] Arendt, H.: Die Krise in der Erziehung. Bremen: Angelsachsen 1958.
EWR 15 (2016), Nr. 2 (März/April)
One Child
Do we have a right to more?
New York: Oxford University Press 2016
(264 S.; ISBN 978-0-19-020343-6; 27,30 EUR)
Johannes Drerup (Koblenz-Landau / Münster)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johannes Drerup: Rezension von: Conly, Sarah: One Child, Do we have a right to more?. New York: Oxford University Press 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 2 (Veröffentlicht am 24.03.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978019020343.html
Johannes Drerup: Rezension von: Conly, Sarah: One Child, Do we have a right to more?. New York: Oxford University Press 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 2 (Veröffentlicht am 24.03.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978019020343.html