EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)

Helen Roche
The Third Reich’s Elite Schools
A History of the Napolas
Oxford: Oxford University Press 2021
(524 S.; ISBN 978-0-19-872612-8; 90,00 GBP)
The Third Reich’s Elite Schools Die Einrichtung internatsförmig organisierter Eliteschulen fĂŒr die Ausbildung einer neuen, nationalsozialistischen Vorstellungen entsprechenden FĂŒhrungsschicht zĂ€hlt zu den bemerkenswertesten Maßnahmen des ‚Dritten Reichs‘ auf dem Schulgebiet. In der historischen Forschung hat diese Neuerung allerdings das ihr gebĂŒhrende Interesse nicht gefunden. So ist mittlerweile fast ein halbes Jahrhundert seit dem Erscheinen der ersten und bisher einzigen Gesamtdarstellung vergangen. [1] WĂ€hrend den stĂ€rker auf die Ausbildung des FĂŒhrernachwuchses fĂŒr die Parteiorganisationen zielenden Adolf-Hitler-Schulen seither immerhin noch vereinzelt zusammenfassende Darstellungen gewidmet worden sind [2], hat sich die Forschung im Falle der auf die Elitebildung in einem breiteren Sinne ausgerichteten, nach Existenzdauer und Besucherzahl bedeutenderen Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (abgekĂŒrzt NPEA oder Napola) auf einzelne Einrichtungen oder ausgewĂ€hlte Aspekte beschrĂ€nkt. [3] Umso erfreulicher ist daher nun das Erscheinen einer ganz auf diese Einrichtungen konzentrierten Darstellung, fĂŒr deren Abfassung zudem kaum jemand geeigneter erscheinen könnte als die englische Kulturhistorikerin Helen Roche, die sich schon seit ĂŒber einem Jahrzehnt auf diesem Themenfeld bewegt und dazu auch bereits intensiv publiziert hat. [4]

Als vorlĂ€ufigen Abschluss dieser Arbeit legt Roche nun eine Studie vor, die allein durch ihren Umfang und durch die Breite ihrer Materialbasis beeindruckt. Neben den BestĂ€nden aller einschlĂ€gigen Archive – von den Bundes- und Landesarchiven in Deutschland und Österreich bis zu Schularchiven in Großbritannien, Irland und den USA – hat sie zahlreiche Periodika, darunter die von den Anstalten und nach dem Krieg von Ehemaligenvereinigungen herausgegebenen MitteilungsblĂ€tter, sowie die inzwischen in großer Zahl veröffentlichten Erinnerungsberichte ausgewertet. Außerdem hat Roche GesprĂ€che und Korrespondenzen mit mehr als hundert ehemaligen Napola-SchĂŒler:innen gefĂŒhrt.

Die auf dieser Basis entstandene Darstellung gliedert sich in drei große Abschnitte. Im ersten wird zunĂ€chst die Entstehung und Entwicklung der NPEA auf politischer Ebene verfolgt, ehe dann in den beiden umfangreichsten Kapiteln der Studie das Innenleben der Anstalten vorgestellt wird. Vom mehrstufigen Auswahlprozess ĂŒber den ideologisch durchformten und zugleich methodisch bei der ReformpĂ€dagogik sich bedienenden Unterricht und das von strenger Zeitplanung und militĂ€rischen Strukturen geprĂ€gte Alltagsleben bis zum reichhaltigen Angebot an sportlichen, aber auch kĂŒnstlerischen BetĂ€tigungen, den mehrwöchigen EinsĂ€tzen in Landwirtschaft, Industrie und Bergbau sowie dem SchĂŒler:innen- und Lehrer:innenaustausch mit englischen und amerikanischen Schulen werden alle wichtigen Aspekte des Anstaltslebens auf ebenso informative wie anschauliche Weise behandelt. Anzumerken ist allerdings, dass Roche in ihrer Darstellung auf Zahlenangaben weitgehend verzichtet. So erfĂ€hrt man nichts ĂŒber die Zahl der SchĂŒler:innen und der Erzieher:innen in den diversen Anstalten und deren Entwicklung ĂŒber die Zeit, ĂŒber die Zahl der Absolvent:innen und AbgĂ€nger:innen, der Veranstaltungen und Angebote etc. Man muss kein eingefleischter Sozialhistoriker sein, um dies als Manko zu empfinden.

Im zweiten Abschnitt der Studie entwirft Roche dann eine Art Typologie der NPEA, die sich an den Differenzen bezĂŒglich weltanschaulicher Tradition, regionaler Zugehörigkeit und Geschlecht orientiert. Ersterer kam dabei nach den Befunden der Verfasserin die geringste Bedeutung zu, gelang es doch recht umstandslos, in weltanschaulich ganz andersartigen Traditionen wurzelnde Anstalten wie etwa Schulpforta ideologisch gleichzuschalten. Eher fĂŒr Varianz sorgten dagegen – neben dem Geschlecht – zum einen der ĂŒberkommene LĂ€nderpartikularismus, zum anderen standortbedingte Sonderaufgaben wie der Kampf gegen den Katholizismus in der ‚Ostmark‘ oder die ‚Germanisierung‘ in den besetzten Gebieten im Westen und Osten. Roche gelingt es in diesem Abschnitt, Detailkenntnis und StrukturierungsfĂ€higkeit in glĂŒcklicher Weise verbindend, einen Überblick ĂŒber die Gesamtheit der Anstalten zu bieten, der dem in der Überschrift formulierten Anspruch, „Variety within Unity“ (195) zu zeigen, vollauf gerecht wird.

Der dritte, vom Umfang her kĂŒrzeste Abschnitt der Studie ist dann der letzten Phase in der Geschichte der NPEA gewidmet: ihrer Entwicklung in der Zeit des totalen Krieges, ihrer Auflösung in den letzten Kriegswochen und dem Schicksal der ehemaligen SchĂŒler:innen in der Nachkriegszeit. In diesem Zusammenhang geht Roche auch auf die im Zuge der Entnazifizierung entwickelten Entlastungsnarrative einer weitgehend unpolitischen, dafĂŒr dem Überleben in schwierigen Zeiten dienlichen Erziehung in den NPEA und deren Pflege in den Ehemaligenvereinigungen ein. Ein knapp gehaltenes Fazit schließt die Darstellung ab, deren Nutzung durch Glossar und umfangreiches Register erleichtert wird.

Einleitend bezeichnet es die Verfasserin als ihr zentrales Anliegen, Bildungsgeschichte als Zeitgeschichte und als Alltagsgeschichte zu schreiben. Beides erscheint gelungen. WĂ€hrend der alltagsgeschichtliche Ansatz vor allem in den Kapiteln zum Anstaltsleben und zur Auflösung der NPEA erkennbar wird, prĂ€gt das BemĂŒhen um Anschluss an die Zeitgeschichte die gesamte Darstellung. So sucht Roche mit von Kapitel zu Kapitel wechselndem Fokus nachzuweisen, dass die allgemeinen Tendenzen und Probleme nationalsozialistischer Herrschaft sich in der Geschichte der NPEA widerspiegeln und umgekehrt deren Studium neue Facetten jener Herrschaft sichtbar werden lĂ€sst. Neben der Bezugnahme auf Themen, die in der NS-Forschung schon lĂ€nger diskutiert werden – wie etwa der polykratische Charakter des Herrschaftssystems oder die (ambivalente) Haltung zur ‚Frauenfrage‘ –, sucht die Verfasserin vor allem Anschluss an das Konzept der ‚Volksgemeinschaft‘, das in den jĂŒngeren Debatten einen prominenten Platz einnimmt. [5] Sie stellt sich dabei auf die Seite jener, die dafĂŒr plĂ€dieren, die Formel von der Volksgemeinschaft nicht nur als eine ‚wirkungsmĂ€chtige soziale Verheißung‘, sondern auch in ihrem RealitĂ€tsgehalt ernst zu nehmen. Zentrale Bestandteile der Volksgemeinschaftsidee, nĂ€mlich die GewĂ€hrung von sozialen Aufstiegs- und Selbstverwirklichungschancen, seien, so meint die Autorin, in den NPEA sogar stĂ€rker als in jeder anderen nationalsozialistischen Einrichtung realisiert worden, weshalb man ihre Zöglinge durchaus als „‚avant-garde of the ‚Volksgemeinschaft‘“ (424) bezeichnen könne. Diese Behauptung erscheint allerdings angesichts der Tatsache höchst fragwĂŒrdig, dass die Autorin auf der gleichen Seite eingesteht, Mittelschichtkinder hĂ€tten unter den Zöglingen der NPEA dominiert, und dass in ihrer Darstellung der elitĂ€re Charakter der Einrichtungen deutlich herausgearbeitet wird, der bei der Begegnung mit dem realen ‚Volk‘ auch verschiedentlich zu Spannungen fĂŒhrte.

Die stĂ€ndige VerknĂŒpfung der Geschichte der NPEA mit der allgemeinen Geschichte des Nationalsozialismus zĂ€hlt zweifellos zu den großen StĂ€rken der Studie. Gerade in den zuletzt referierten Aussagen offenbaren sich aber auch gewisse SchwĂ€chen. So kann die Verfasserin nicht immer – und am wenigsten in Einleitung und Fazit – der Versuchung widerstehen, die Bedeutung ihres Forschungsgegenstands mit großem Nachdruck hervorzuheben und dabei mit starken Behauptungen zu operieren, die durch die Darstellung nicht durchweg gedeckt erscheinen. Dazu gehört auch die – aus bildungshistorischer und erziehungswissenschaftlicher Sicht natĂŒrlich besonders interessierende – Behauptung, dass die Erziehungsarbeit der NPEA „was arguably effective to a substantial degree, when considered on its own terms“ (10). Zweifellos erscheint es gerade bei einem Erziehungsprogramm wie dem nationalsozialistischen nicht nur legitim, sondern sogar dringend geboten, der Frage nach der EffektivitĂ€t von Erziehungseinrichtungen und -maßnahmen nachzugehen und moralische Bedenken dabei hintan zu stellen. Allerdings wĂ€re dann auch zu sagen, wie diese Frage beantwortet, wie also ĂŒber Gelingen oder Misslingen befunden werden soll. Dass dies im vorliegenden Fall nicht geschieht, dass systematische Überlegungen dazu fehlen, ist ein Manko, das Folgen hat. Denn die ansonsten – etwa wenn es um die Herausarbeitung des durch und durch politischen Charakters der Erziehung in den NPEA geht – konzise und ĂŒberzeugende Argumentation bleibt hier vage, die BeweisfĂŒhrung oszilliert zwischen mehr oder weniger plausiblen Annahmen, Extrapolationen aus (gĂŒnstigen) strukturellen Voraussetzungen und der Vorlage von in ihrer Aussagekraft fragwĂŒrdigen Belegen wie Berichten in den SchulblĂ€ttern oder Korrespondenzen der Jungmannen mit den Kameraden im Feld. Ob und wie weit man ĂŒber dieses Niveau hinausgelangen kann, wĂ€re zu erproben – durch Auswertung von Quellen, die ĂŒber den Entwicklungsstand der Zöglinge in den relevanten Persönlichkeitsdimensionen Auskunft geben können, Inspektionsberichte und SchĂŒlerarbeiten etwa, soweit vorhanden, oder ĂŒber eine methodisch elaborierte Analyse der Erinnerungsberichte, wie sie Gabriele Rosenthal verschiedentlich vorgenommen hat. [6] Die Frage nach der EffektivitĂ€t der Erziehung in den NPEA ist mit der vorliegenden Studie jedenfalls nur erst einmal gestellt, aber noch keinesfalls beantwortet.

Helen Roche hat mit der vorliegenden Studie, so lĂ€sst sich als ResĂŒmee festhalten, das Thema der nationalsozialistischen Eliteschulen auf eindrucksvolle Weise wieder in den Fokus bildungs- wie zeitgeschichtlicher Forschung gerĂŒckt. Sie bietet im Rahmen der von ihr gewĂ€hlten Schwerpunkte eine detailreiche und gut strukturierte Darstellung, die den Boden fĂŒr weitere Detail- und Fallstudien bereitet. Sie stellt auf ĂŒberzeugende Weise Verbindungen zur zeitgeschichtlichen Forschung ĂŒber den Nationalsozialismus her und eröffnet schließlich gerade dort, wo sie Fragen unzulĂ€nglich beantwortet, Anschlussmöglichkeiten fĂŒr eine stĂ€rker bildungsgeschichtlich orientierte Forschung.

[1] Scholtz, H. (1973). Nationalsozialistische Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des FĂŒhrerstaates. Vandenhoeck & Ruprecht.
[2] Vgl. etwa Feller, B. & Feller, W. (2001). Die Adolf-Hitler-Schulen. PĂ€dagogische Provinz versus ideologische Zuchtanstalt. Juventa-Verl.
[3] Vgl. z.B. Schneider, C., Stillke, C., & Leineweber, B. (1996). Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Hamburger Ed.
[4] Vgl. schon ihre Dissertation: Roche, H. (2013): Sparta’s German Children. The Ideal of Ancient Sparta in the Royal Prussian Cadet Corps, 1818-1920, and in National Socialist Elite Schools (the Napolas), 1933-1945. Classical Press of Wales.
[5] Vgl. etwa Schmiechen-Ackermann, D. (2012). “Volksgemeinschaft”: Mythos, wirkungsmĂ€chtige soziale Verheißung oder soziale RealitĂ€t im ‚Dritten Reich‘? Zwischenbilanz einer kontroversen Debatte. Schöningh.
[6] Vgl. z.B. Rosenthal, G. (Hrsg.) (1999). „Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun“. Zur GegenwĂ€rtigkeit des „Dritten Reiches“ in Biographien. Leske + Budrich.
Gerhard Kluchert (Berlin/Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gerhard Kluchert: Rezension von: Roche, Helen: The Third Reich’s Elite Schools. A History of the Napolas. Oxford: Oxford University Press 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978019872612.html