EWR 21 (2022), Nr. 4 (Oktober)

Sammelrezension

Emily J. Levine
Allies and Rivals
German-American Exchange and the Rise of the Modern Research University
Chicago/London: The University of Chicago Press 2021
(384 S.; ISBN 978-0-226-34181-1; 34,00 EUR)
William C. Kirby
Empires of Ideas
Creating the Modern University from Germany to America to China
Cambridge, Mass./London: The Belknap Press of Harvard University Press 2022
(504 S.; ISBN 978-0-674-73771-6; 34,00 EUR)
Allies and Rivals Empires of Ideas Die deutsch-amerikanischen Beziehungen im Bildungsbereich sind spĂ€testens ein Thema, seit im frĂŒhen 19. Jahrhundert amerikanische Besucher die deutsche UniversitĂ€t studierten und die von ihnen beobachten und/oder unterstellten VorzĂŒge zu adaptieren suchten. Aber die Beziehungen wurden auch selbst beobachtet, historisch und als Differenz zweier Modelle schon bei Max Weber, konstant von Historikern, auch nicht allein fĂŒr den Hochschulbereich, dem die hier anzuzeigenden Titel entstammen. [1] Emily Levine, in Stanford lehrend, platziert ihre Studie, die das VerhĂ€ltnis schon im Titel – „Allies and Rivals“ – thesenhaft zuspitzt und auf die Geschichte der „Research Universities“ eingrenzt, jenseits alter Narrative: Über die ‚Weltgeltung deutscher Wissenschaft‘ wird hier so wenig geredet wie ĂŒber Prozesse der ‚Übernahme‘ des ‚Humboldt’schen Modells‘ und seiner vermeintlich universal-ĂŒberzeitlichen ÂŽIdeeÂŽ. Das sind Projektionen von gestern. Komparatistisch geschult, sieht die Verfasserin die beiderseitigen Beziehungen als einen im je eigenen Interesse gesteuerten Prozess von ÂŽborrowing and lendingÂŽ. Vor allem aber sieht sie Gestalt und Funktion der UniversitĂ€t nicht von einer einzigen Idee regiert, etwa der der Autonomie, sondern als immer neu auszuhandelnde Konstruktion einer Organisation, die heterogene und spannungsreiche Erwartungen austarieren muss.[2] Konkret zeigt die UniversitĂ€t deshalb (wie auch von Humboldt akzeptiert) immer nur SelbststĂ€ndigkeit in der AbhĂ€ngigkeit, u.a. von gesellschaftlichen Erwartungen, zumal ökonomischen, von politischen Vorgaben sowie, nicht zu vergessen, internen MachtverhĂ€ltnissen.

Levine konstruiert ihre Geschichte deshalb auch als einen Prozess, in dem das Paradox der UniversitĂ€t bearbeitet wird, dass sie ihre IdentitĂ€t nur in einem je neu auszuhandelnden „academic social contract“ (10) gewinnen kann, wie Levine die notwendige Kompromissstruktur zwischen Autonomie und Verantwortung fĂŒr die Gesellschaft, zwischen „broader social needs and political stakeholders“ (11) bezeichnet. Zur Praxis der Entparadoxierung gehört aber auch, dass UniversitĂ€ten klug den Ertrag nutzen, der sich aus der distanzierten Beobachtung, souverĂ€nen Rezeption und Adaptation sowie der selbstgesteuerten Integration anderer Modelle in einer „competitive emulation“ (4 u.ö.) fĂŒr die eigene UniversitĂ€t ergibt. Diese Praxis wird am deutsch-amerikanischen Fall zwischen den systematisierenden Einleitungs- und Schlussbemerkungen in zehn materialreichen Kapiteln entfaltet. Sie setzten mit Humboldt ein und enden 1933 – das ÂŽlange 19. JahrhundertÂŽ wird als Folie bemĂŒht (218) –, immer im komparativen Blick. „The Humboldtian contract“ (1.) wird daher einerseits zur KapitelĂŒberschrift fĂŒr die Form, mit der schon Humboldt konfligierende Erwartungen integriert hat, andererseits zum Anlass, amerikanische Versuche der Reform von UniversitĂ€ten in der ersten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts darzustellen. Am Beispiel von Göttingen und Baltimore bzw. der Johns-Hopkins-GrĂŒndung fĂŒr das weitere 19. Jahrhundert (2.) zeigt sie, wie der wechselseitige Lernprozess sich frĂŒh auch auf einzelne, zukunfts- und anwendungsfĂ€hige Disziplinen und die neuen, technischen, Hochschulen erweitert. Die Weltausstellung in St. Louis 1904 (3.) wird schon zum signifikanten Exempel fĂŒr die Ambivalenzen der „knowledge economy“; und, wie man ergĂ€nzen könnte, fĂŒr die klug organisierte, im je eigenen nationalen, universitĂ€ren oder individuellen Interesse – Hugo MĂŒnsterberg ist das deutliche Exempel – strategisch praktizierte „Wissenschaftsdiplomatie“ [3]. National wird zugleich der höchstmögliche gesellschaftliche Nutzen aus autonomer Forschung zu ziehen gesucht, wie sie fĂŒr Preußen/Deutschland natĂŒrlich v.a. an dem um 1900 höchst wirksamen preußischen Hochschulpolitiker Friedrich Althoff belegt. Kapitel 4 und 5 zeigen im konstanten Ausschluss von Frauen und Schwarzen die Folgeprobleme in der demokratischen und als egalitĂ€r propagierten US-Gesellschaft. Dies wird etwa daran deutlich, dass die FunktionsprĂ€missen von ForschungsuniversitĂ€ten in ein hierarchisch strukturiertes „system of higher education“ implementiert werden, das zugleich – schon weil das egalisierende Abitur fehlt – der zentrale Agent bei der Regulierung des Zugangs in die UniversitĂ€ten und in die klassischen Professionen von Medizin bis Recht wird, und alle Formen scharfer Selektion als legitimen Wettbewerb legitimiert, in dem die KlĂŒgsten ĂŒberleben. Die Spezifik nationaler Wissenschaftspolitik wird (6.) an der engen, auch personalen, Vernetzung von „Carnegie, Capital and the Kaiser“ und an den konfligierenden PrĂ€missen von Staat und Stiftungen, Politik und Kapital diskutiert, wobei jetzt, u.a. in der GrĂŒndung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die UniversitĂ€ten der USA als Vorbild fungieren. Mit dem Ersten Weltkrieg (7.) werden einerseits Prinzipienfrage wieder sichtbar, u.a. das Autonomieproblem gegenĂŒber der Politik, aber, hier wie dort, auch die BĂŒndnisse von UniversitĂ€t und Staat und die Konflikte innerhalb der Professorenschaft, denn wer nicht zustimmte, musste gehen. Nach 1918 (8.) ist der Austausch strukturell belastet, aber es gibt auf beiden Seiten Innovationen: in New York mit der GrĂŒndung der New School fĂŒr Social Research (1918, nicht erst 1933), in Frankfurt (aber bitte am Main, nicht als „experiments on the Rhine“, wie auf S. 182 steht) mit der StiftungsuniversitĂ€t, dem Institut fĂŒr Sozialforschung und dem jĂŒdischen Lehrhaus, die alle ohne Stifter nicht möglich gewesen wĂ€ren. 1933 erweist sich zweifach als ZĂ€sur: als „annus horribilis“ (9.) in der MachtĂŒbernahme der Nazis und der Unterwerfung der UniversitĂ€t und der Wissenschaften, als „annus mirabilis“ (10.) in den Reformimpulsen, die von den in die Emigration gezwungenen deutschen Gelehrten v.a. in den USA ausgehen.

Beispiele dafĂŒr sind die New School, das Center for Advanced Studies oder das Black Mountain College, das, von Bauhaus-Lehrern inspiriert, erst die Kunst des 20. Jahrhunderts förderte und sich seit 1944/45 auch Schwarzen Amerikanern öffnete. Humboldts Ideen, so könnte man sagen, haben dann in den USA ein Residuum gefunden.

Zugleich wird das Hochschulsystem der USA weltweit fĂŒhrend, nicht zuletzt wegen seiner finanziellen Ressourcen fĂŒr die Großforschung, mit all den Implikationen, die sich, bis hin zur Exzellenzinitiative und ihren Folgen, von Ranking bis Finanzierung und Hierarchisierung, aus dem USA-Modell ergeben und kopiert werden.

So ĂŒberzeugend und materialreich, unterhaltsam und inspirierend, wenn auch in manchen Details, etwa beim Professionalismus, fĂŒr die jeweiligen Spezialisten in etwas knapper Form, diese Geschichte geschrieben ist, liest man das zweite zu rezensierende Buch von Kirby parallel, dann wird deutlich, dass die „Research University“ nur einen Teil des „Systems of Higher Education“ erfasst. Levine verweist selbst im Ausblick auf die Idee der „Multiversity“ des PrĂ€sidenten (1958-1967) der University of California, Clark Kerr, man könnte retrospektiv an die Ausweitung des deutschen Wissenschaftssystems um außeruniversitĂ€re Forschung einerseits, die GrĂŒndung neuer FakultĂ€ten andererseits erinnern, so dass schon 1933 beklagt wurde, dass die UniversitĂ€ten in der „Verhandelshochschulung“ (Eduard Spranger) ihre Spezifik verloren hĂ€tten. Vor allem die Expansion der außeruniversitĂ€ren Forschung belegt aber, dass „die (Forschungs-)UniversitĂ€t“ allenfalls noch ein Segment im System der höheren Bildung darstellt, und nicht einmal fĂŒr die Forschung noch das Weltmodell.

William Kirbys Studie geht ebenfalls von der Beobachtung aus, dass das amerikanische das deutsche Modell abgelöst hat, ergĂ€nzt das aber um die Frage, ob nicht lĂ€ngst der neue akademische Goldstandard in China zu suchen ist. Auch fĂŒr diese Argumentationsfigur gibt es schon zahlreiche Stimmen; Kirby selbst, Professor zugleich fĂŒr Business Administration und China Studies in Harvard, hat das Thema schon frĂŒher expliziert. [4] Jetzt diskutiert er die Frage einerseits im Blick auf die jeweiligen Gesamtsysteme, vor allem aber in der Detailanalyse einzelner UniversitĂ€ten. FĂŒr Deutschland sind das die Berliner UniversitĂ€ten: Humboldts GrĂŒndung einerseits als „the modern original“ (er nutzt die Selbstbeschreibung der HU), die Freie UniversitĂ€t andererseits als Produkt des Kalten Krieges, beide mit der Ambition, dem Forschungsimperativ und der Bildungsidee (der liberal education der anglo-amerikanischen Tradition) zugleich zu genĂŒgen. FĂŒr die USA stehen Harvard und die Stiftungs-Tradition, die University of California als öffentliche Einrichtung und Duke als private UniversitĂ€t mit großen internationalen Ambitionen - alles elitĂ€re Einrichtungen, aber mit je unterschiedlichen Selbstkonzepten. China ist exemplarisch mit Tsinghua vertreten, als „Chinas MIT“ etikettiert und international prĂ€sent; sodann mit Nanking, einst als Nationale UniversitĂ€t konzipiert, jetzt mit allen Folgeprobleme solcher Zuschreibungen belastet; schließlich mit Hongkong, dessen UniversitĂ€t als Modell fĂŒr Asien gedacht war, mit der Eingliederung in China aber mit einer neuen Welt und neuen Konflikten konfrontiert wurde. Auch hier handelt es sich gemĂ€ĂŸ Rankings allesamt um forschungsstarke UniversitĂ€ten.

FĂŒr die vergleichend ansetzende Analyse nutzt Kirby neben der Rechtfertigung des Erkenntniswerts von Fallstudien ein Set von Faktoren, die eine vergleichende Beschreibungen des Einzelfalls eröffnen: v.a. „leadership“ und „governance“, „quality of faculty and students“, „financial resources“. Er fragt weiter nach dem Wissenschaftskonzept der jeweiligen UniversitĂ€t und erwartet „research at the highest level“. Außer nach „Wissenschaft“ (dort deutsch) fragt er nach „Bildung“ (dto.), oder „liberal education“, als „the education of the whole people“, und nach der Form von Autonomie, und schließlich berĂŒcksichtigt er die internationalen Rankings, deren Aussagewert er ausfĂŒhrlich und distanziert diskutiert. Aber die Rankings nötigen ihn auch zu ErlĂ€uterungen, warum neben den ganz alten UniversitĂ€ten, etwa Bologna, auch z.B. Oxford und Cambridge nicht vorkommen. Kirby fĂŒhrt dazu an, die letzteren hĂ€tten sich erst im Blick auf das deutsche Modell im 19. Jahrhundert erneuert, ohne dabei selber modellbildend geworden zu sein. Eine Rolle spielte bei der Fallauswahl wohl auch sein persönlicher Erfahrungshintergrund (Studien an den besten UniversitĂ€ten in den USA, England und China, breite Lehr- und ForschungstĂ€tigkeit, internationale AktivitĂ€ten, auch in Deutschland), den er transparent darstellt.

Die Analysen erheben keinen genuin historiographischen Anspruch, sondern bieten eher knappe PortrĂ€ts der jeweiligen UniversitĂ€ten, und dies bis 2022. Kirby stĂŒtzt sich außer auf seine persönlichen Kenntnisse, die verfĂŒgbaren Daten, Rankings und die Literatur auch auf intensive GesprĂ€che mit PrĂ€sidenten und Kanzlern (und das große Lob fĂŒr den „iron chancellor“ der FU, Peter Lange, 2001-2015, kann ich nur unterstreichen). Die Zeitzeugeninterviews geben den Analysen die persönliche Note, zeigen aber auch die Risiken solcher Quellen. FĂŒr Berlin, da kann der Rezensent sie am ehesten kontrollieren, sind die Interviews zwar eindeutig, aber die Perspektiven der FU- oder der HU-Akteure werden auch nicht kritisch hinterfragt (und fĂŒr die HU sind die Aussagen der befragten PrĂ€sidenten eher fĂŒr die individuelle Perspektive der Befragten als fĂŒr die tatsĂ€chliche Situation der UniversitĂ€t aussagekrĂ€ftig). Gleichwie, die Skizzen bieten fĂŒr den, der z.B. mit chinesischen VerhĂ€ltnissen wenig vertraut ist, instruktive Einblicke und vor allem fundieren sie die Bilanz, die Kirby in seinen „Lessons“ (385ff.) am Ende, orientiert an den Faktoren, die seine Analyse geleitet haben, vortrĂ€gt.

Manche Befunde ĂŒberraschen dann nicht wirklich, etwa die je große Bedeutung von Wissenschaft und Forschung, die sich in allen Staaten national erhalten hat. Den weiteren Befund, „governance matters“, begleitet von „leadership matters“ wird man auch sofort akzeptieren, denkt man nur an die diversen Harvard PrĂ€sidenten oder an Kerr in Kalifornien, an die PrĂ€sidenten deutscher UniversitĂ€ten oder an die GremienuniversitĂ€t. Letztere sieht er als förderlich am Beispiel der FU, apostrophiert sie aber im Fall der HU mit „from Authoritarianism to Anacharchism“ (49f.), womit er nur mĂ€ĂŸig ĂŒbertreibt. Ein Professor der Harvard Business School vergisst natĂŒrlich nicht, dass „money matters (a lot)“, und da werden selbst die deutschen ExzellenzuniversitĂ€ten den Standard der Ivy-League nie erreichen. Die abschließende Frage, ob China mit seiner Mischung aus Staatskontrolle, extensivem Import von Wissenschaft und immenser Forschungsförderung das neue Weltmodell werden kann, zeigt vor allem die Bedeutung des politisch-gesellschaftlich-kulturellen Kontextes fĂŒr die autonomen, wissenschaftsgeleiteten Handlungsmöglichkeiten der UniversitĂ€ten. Dann bleibt mit Blick auf die Gegenwart eher große Skepsis, ob China das neue Weltmodell fĂŒr ForschungsuniversitĂ€ten sein kann. Die Spannungen zwischen Staat, UniversitĂ€t und politischer Ideologie, der Eigenlogik des Forschungsimperativs und der Bildungsidee sind doch zu groß – alte Erwartungen an Chinas Rolle, bei Kirby selbst und anderen westlichen Beobachtern frĂŒher prĂ€sent, werden aktuell dementiert. Wahrscheinlich gibt es ĂŒberhaupt kein Weltmodell, sondern nur Wettbewerb im Weltmaßstab.

[1] Zwei Titel zeigen die Spannweite der behandelten Themen und beteiligten Akteure fĂŒr die letzten Jahrzehnte an: Geitz, H., Heideking, J., & Herbst, J. (Hrsg.) (1995). German influences on education in the United States to 1917. Deutsches Historisches Institut, Washington D.C. and Cambridge University Press.; sowie J. Overhoff & Overbeck, A. (Eds.) (2017): New Perspectives on German-American Educational History. Topics, Trends, Fields of Research. Klinkhardt – mit BeitrĂ€gen, die schon mit den Philanthropen und Benjamin Franklin im 18. Jahrhundert einsetzen.
[2] DafĂŒr theoretisch sehr ambitioniert und lehrreich: Meyer, H.-D. (2017). The Design of the University. German, American, and „World Class“. New York/London : Routledge/Taylor & Francis; sowie meine Rezension in der Sozialwissenschaftlichen Literatur Rundschau (SLR) 40 (2017).
[3] Insofern ist als Parallelanalyse sehr zu empfehlen: Lerg, C. A. (2019). UniversitÀtsdiplomatie: Wissenschaft und Prestige in den transatlantischen Beziehungen 1890-1920. Vandenhoeck & Ruprecht.
[4] Kirby, R. (2014). The Chinese Century? The Challenges of Higher Education. In Daedalus 143, 2, Spring, 145-156.
Heinz-Elmar Tenorth (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Heinz-Elmar Tenorth: Rezension von: Levine, Emily J.: Allies and Rivals, German-American Exchange and the Rise of the Modern Research University. Chicago/London: The University of Chicago Press 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 4 (Veröffentlicht am 11.11.2022), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978022634181.html