EWR 6 (2007), Nr. 5 (September/Oktober 2007)

J. Wesley Null
Peerless Educator
The Life and Work of Isaac Leon Kandel
(Reihe: History of Education Schooling, Bd. 47)
New York u.a.: Lang 2007
(334 S.; ISBN 978-0-8204-7458-8; 27,20 EUR)
Peerless Educator Der von J. Wesley Null vorgelegte Band bereichert sowohl die Geschichte der International Vergleichenden Erziehungswissenschaft im Allgemeinen als auch die der ‚progressive education’ oder Reformpädagogik im Besonderen. Bis dato lag noch keine vollständige Biografie Kandels vor, und das Buch liefert nicht nur eine gute intellektuelle Biografie eines ‚Giganten der Vergleichenden Erziehungswissenschaft’, wie Isaac L. Kandel genannt wurde, sondern bietet darüber hinaus einen interessanten historischen Beitrag zu den Debatten um die Progressivisten der 1930er und 1940er Jahre. Kandel war zu seiner Zeit einer der bedeutendsten Erziehungswissenschaftler mit großem Interesse an der Philosophie der Pädagogik, dazu ein Pionier der Vergleichenden Erziehungswissenschaft in den Vereinigten Staaten von Amerika. Kandel wird von Null als demokratischer Traditionalist (3) beschrieben; sein Buch ‚The Cult of Uncertainty’ (1943) kritisierte die zu seiner Zeit dominierende Schulreformbewegung – die progressive education – wegen ihres Kulturrelativismus und ihrer individualistischen Orientierung. Wie John Dewey glaubte Kandel an die Notwendigkeit gemeinsamer Inhalte und Werte für die Erhaltung der Demokratie und sah Dewey von den Progressivisten als falsch interpretiert.

Nulls Buch beginnt mit einem Vorwort von Diane Ravitch – selbst eine renommierte Bildungshistorikerin der USA; vierzehn weitere Kapitel werden in den fünf Teilen des Buches als Stationen seiner Biografie organisiert: Diese werden von einer Einführung – neben Kapitel neun und zehn die tragende Säule des Bandes – und einem Epilog gerahmt.

Nulls Arbeit über Isaac L. Kandel fokussiert die Fragen ‚Warum Kandel vergessen wurde’ und ‚weshalb es wichtig ist, die Tradition, die er verkörpert, wieder in den Blick zu nehmen’. In der Einführung präsentiert Null zwei Gründe, warum Kandel heute noch bedeutsam ist und drei weitere, weshalb er ‚vergessen’ wurde. Isaac L. Kandel, obwohl hoch anerkannt und eines der produktivsten Mitglieder der Zunft – er war lange Jahre am Teachers College der Columbia University in New York tätig – ist heute außerhalb der Vergleichenden und Historischen Erziehungswissenschaft kaum bekannt (1). Kandel, so Null, ist weiterhin bedeutsam, weil er eine Alternative zum lange Zeit dominanten ‚progressive mindset’ sowie auch zur behavioristischen Psychologie (7) darstellt. Die progressive Fixierung auf individuelle Bedürfnisse und dessen Ausrichtung auf Kosten eines traditionellen und übergreifenden Curriculums wurden von Kandel kritisiert, weil er die pädagogische Praxis stets als eine moralische Handlung betrachtet hat (8). Aus einer humanistisch-philosophischen Perspektive heraus kritisierte Kandel die dominierende behavioralistische Psychologie für das Ausklammern von moralischen Fragen. Zudem beschäftigte sich Kandel mit der eigentümlichen Frage nach einem universalistischen kulturellen Erbe, welches er als Grundlage einer jeden demokratischen Gesellschaft ansah. Diese ist heute mindestens genauso dringend wie zu Kandels Lebzeiten. Er war der Meinung, dass die heranwachsenden Amerikaner gemeinsame Ideale lernen sollten, die sie als Bürger zusammen binden, sie zum Mitglied einer Gemeinschaft machen. Dies wurde bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts heftig kritisiert. Kandel trennt jedoch Pädagogik nicht von Politik – die gemeinsamen Werte bilden die Brücke zwischen beiden. Bildung/Erziehung sei schon immer eine soziale, moralische und politische Unternehmung (10). Die Arbeiten Kandels bieten zum Beispiel eine gute Basis für die heutige Diskussion um Multikulturalismus.

Die drei Kapitel in Teil 1 behandeln die Zeit zwischen 1870 und 1899. Zu dieser Zeit sind Kandels Eltern aus ihrer Heimat in Rumänien nach Manchester, England, ausgewandert. Kapitel eins zeichnet das Leben der jüdischen Familie im christlich-orthodoxen Rumänien sowie ihren Umzug nach Manchester nach. Kapitel zwei beschreibt die gesellschaftlichen Bedingungen für das Aufwachsen Kandels. Das Leben zwischen unterschiedlichen Anforderungen, nicht nur die der britischen Autochthonen sondern auch die der dort alteingesessenen Juden sowie seine Grundschuljahre werden hier behandelt. Kapitel drei berichtet von den Bildungsaspirationen der Jahre 1892-1899 in der Manchester Grammar School, für die Kandel ein Stipendium erhalten hat.

Teil zwei des Bandes deckt die Zeit zwischen 1899 und 1908 ab, in der Kandel ein Universitätsstudium an der Manchester Universität absolviert hat. Mangels finanzieller Mittel war ihm ein Studium in Cambridge oder Oxford versagt. In diesem Zeitraum macht Kandel Bekanntschaft mit J. J. Findlay (Wilhelm Reins Schüler in Leipzig) und kommt mit dem Lehrberuf sowie (vermittelt durch Michael Sadler) mit der vergleichenden Erziehungswissenschaft in Berührung. Auf seine ersten Berufserfahrungen und andere einflussreiche Erlebnisse wird ebenfalls eingegangen. Die Auswanderung nach Amerika und der dortige akademische Neustart werden in dritten Teil des Buches (bis 1929) diskutiert. Kapitel 6 erzählt von Kandels Zeit als graduate student am Teachers College und von den damaligen professionellen und inhaltlichen Diskussionen sowie von Kandels Dissertation über die deutsche Lehrerbildung (1910). Nach 1910 (Kapitel 7) arbeitete Kandel an der Cyclopedia of Education mit Paul Monroe mit und forschte über die Hochschule für die Carnegie Foundation. Darüber hinaus begann er zu veröffentlichen. Wichtige Stationen sind die Hochzeit mit Jessie Davis, die er bereits aus seiner Zeit in Manchester kannte, das erste Kind und die Arbeit mit Paul Monroe während des Ersten Weltkrieges. Der Start seiner Karriere als Professor am neu gegründeten International Institute im Teachers College wird im Kapitel 8 beschrieben. Weiterhin kommt der philosophische Kontext der 1920er Jahre, die progressive education, in den Blick ebenso wie Kandels wichtigsten Veröffentlichungen dieser Jahre.

Teil vier deckt die Zeit zwischen den Jahren 1929 und 1948 ab, in der Kandels akademisches Schaffen zunahm und seine Arbeiten auch international Beachtung fanden. In dieser Zeit sind wichtige Werke Kandels entstanden – u.a. Comparative Education (1933) und seine öffentliche Präsenz als Kritiker der progressive education befestigte sich zunehmend(167). Im Kapitel 9 werden die internen Auseinandersetzungen Kandels mit seinen Kollegen am Teachers College, sein besonderes Interesse für Deutschland und seine (internationale) akademische Arbeit zur Zeit seiner Bestform behandelt. Im zehnten Kapitel wird die Gegenbewegung zur progressive education, seinerzeit als essentialism bekannt, präsentiert und die Rolle Kandels darin dargelegt. Kandels verstand unter essentialism die Notwendigkeit, sowohl moralische als auch intellektuelle Standards für den öffentlichen Lehrplan zu setzen und die Qualität der Lehrerbildung zu sichern. Die Professionalisierung des Lehrpersonals war eine der wichtigsten Fragen für Kandel (189ff.). Darüber hinaus werden im zehnten Kapitel zwei der bedeutsamsten Werke Kandels in den Debatten dieser Zeit kontextualisiert. Im folgenden Kapitel elf erzählt Null von der Arbeit Kandels nach seiner Emeritierung in der Nachkriegszeit. Kandel war als Berater der Supreme Commander for the Allied Powers in Japan im Jahre 1946 tätig (205). Er arbeitete außerdem in der Preparatory Commission, die als Grundlage für die Gründung der UNESCO dienen sollte mit (214f.).

Die Jahre zwischen 1948 und Kandels Todesjahr 1965 werden im letzten Teil des Bandes präsentiert. Nach seiner Emeritierung ging Kandel nach Manchester zurück, um im Jahr 1947/48 das erste Simon Research Fellowship zu erhalten. Er blieb dann dort bis 1950 als Professor am neu entstandenen American Studies Department. In der Zwischenzeit war seine Ehefrau Jessie verstorben. Kandel kehrte nach New York zurück, wo er mit der Familie seiner Tochter lebte. Er beendete seine Arbeit als Professor und widmete sich dem Schreiben zu Themen der Vergleichenden Erziehungswissenschaft. Das dreizehnte Kapitel diskutiert die Themen der Vergleichenden Erziehungswissenschaft und des Progressivismus während der Jahre 1950-1961. Beide Bereiche erfuhren wichtige Veränderungen während dieser Zeit. Kapitel 14 beschreibt unterschiedliche Facetten der letzten Jahre von Isaac Kandel: Seine Freundschaft mit George Bereday und sein Tod in der Schweiz, wo er mit der Familie seiner Tochter ein Jahr verbringen wollte. Das Kapitel präsentiert ebenfalls die veröffentlichten Nachrufe seiner Freunde und Kollegen.

Der Epilog – Isaac Kandel and the future of American education – schließt das Buch ab. Entlang dreier für Kandels Werk wichtiger Themen beabsichtigt Null zu zeigen, dass bildungshistorische Arbeit immer im Dienste der Verbesserung von Bildung und Erziehung zu stehen hätten (273), so dass ‚liberal education’, Lehrerbildung und Vergleichende Erziehungswissenschaft einen konstitutiven Sinnzusammenhang bilden. Diese Themen sind für die heutigen Diskussionen der amerikanischen Bildung/Erziehung zentral. Sie werden derzeit im Kontext der Probleme hinsichtlich einer Hochspezialisierung in einzelnen Disziplinen (das Gegenteil von ‚liberal education’), hinsichtlich technologischer Vorstellungen in der Lehrerbildung (im Gegensatz zu einer wirklich akademischen Ausbildung) aber auch im Kontext einer neuen verantwortungsvollen Rolle der Vergleichenden Erziehungswissenschaft diskutiert.

Das gut lesbare Buch eignet sich sowohl für StudienanfängerInnen als auch für fortgeschrittene LeserInnen. Es ist gut organisiert, sehr informativ und bietet neben der Biografie Kandels einen Einblick in die Debatten um die progressive education in den USA. Mit diesem Band ist dem Geschichtsmosaik der International Vergleichenden Erziehungswissenschaft ein weiterer Stein eingesetzt worden.
Marcelo Parreira do Amaral (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marcelo Parreira do Amaral: Rezension von: Null, J. Wesley: Peerless Educator, The Life and Work of Isaac Leon Kandel (Reihe: History of Education Schooling, Bd. 47). New York u.a.: Lang 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2007), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978082047458.html