Eigentlich müsste eine Fülle von Veröffentlichungen zum Themenkomplex Kinderarmut und Gerechtigkeit vorliegen. Schließlich gehören in Deutschland zum einen beide Themen für sich seit Jahrzehnten zum festen Bestandteil öffentlicher Diskurse und zum anderen erlebt ihr Zusammenspiel ein aktuelles Bedeutungshoch. So wird das seit der Millenniumswende aufgekommene Leitbild eines bildungsinvestiven und arbeitsmarktaktivierenden Wohlfahrtsstaates auch mit einem veränderten Gerechtigkeitsbezug legitimiert. Handlungsleitend soll weniger als bisher eine materielle Umverteilungslogik sein, die nachträglich die Probleme der kapitalistischen Wirtschaftsordnung korrigiert, sondern vielmehr das Prinzip möglichst fairer Bildungschancen. Diese gelten als zentrales Mittel, um gesellschaftliche Prosperität und Kohäsion sowie individuelle Wohlfahrt zu garantieren. Kinderarmut erlangte in diesem Zusammenhang vor allem als Bedrohung der Bildungschancen und damit als Gefahr für die Humankapitalbildung eine – u.a. aus der Perspektive der Kinderrechte – zweifelhafte Aufmerksamkeit. Obwohl die Wissenschaft diese veränderte gesellschaftliche Lage sowohl wohlfahrtsstaats- als auch armuts-, kindheits- und explizit kinderarmutsbezogen analysiert, liegen bisher verhältnismäßig wenige Arbeiten vor, die Kinderarmut grundlegend und losgelöst vom aktuellen Zeitgeist des Wohlfahrtsstaatsumbaus einem systematisch gerechtigkeitsgeleiteten Blick unterwerfen. Genau hier setzt die Monographie der beiden österreichischen Philosophen vom Zentrum für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg – Gottfried Schweiger und Gunter Graf – an.
Die beiden Autoren fokussieren ihre Analyse primär auf ökonomisch reiche Wohlfahrtsstaaten und setzen als Problemzugang auf das Zusammenspiel zweier Konzepte: den Verwirklichungschancenansatz und den Ansatz der Wohlfahrt von Kindern – untergliedert in gegenwartsbezogenes „well-being“ sowie zukunftsorientiertes „well-becoming“. Dieser Zugang wird im ersten Kapitel (Social Justice for Children – A Capability Approach) entfaltet. Dabei greifen Schweiger und Graf die Trennung des Verwirklichungschancenansatzes in “capabilities“ und „functionings“ auf: also in den Möglichkeitsraum, ein bestimmtes Leben führen zu können und die tatsächlich realisierte Lebensweise. Sie plädieren dafür, bei Kindern zuvörderst auf die „functionings“ zu fokussieren (16), da ihrem Verständnis nach die für Erwachsene gängige Adressierung der „capabilities“ erst bei älteren Kindern sinnvoll ist. Diese Verkehrung erscheint ihnen angemessen, da zum einen Kinder nicht von Anfang an „autonomous beings“ (26) sind, die eigenständige Entscheidungen fällen können; was sie – aus einem Schutzgedanken heraus – in bestimmten Teilen auch nicht sollen (30, 36). Zum anderen erachten Schweiger und Graf die Entwicklung von Kindern als vulnerabel und das von Kindern gelebte Leben als auschlaggebend für den späteren Erwachsenen mitsamt seinen Möglichkeiten, ein „gutes Leben“ führen zu können. Um die für Kinder gerechtigkeitsrelevanten „functionings“ (bzw. „capabilities“ für ältere Kinder) zu identifizieren, werden sechs Kriterien vorgeschlagen: Relevanz, Datenverfügbarkeit, Umverteilungsmöglichkeit, objektive Bestimmbarkeit, Kindessicht und Nutzen-Schaden-Potential einer „functioning“ (42-47). Ungerechtigkeit liegt dann vor, wenn Kinder in ihnen zustehenden „functionings“ / „capabilities“ Einschränkungen hinnehmen müssen, obwohl die sie umgebende Gesellschaft zu besseren Leistungen fähig ist (65-66).
Das zweite Kapitel (The Injustice of Child Poverty) enthält eine Darlegung der Auswirkungen von Kinderarmut. In der Trennung von „ill-being“ und „ill-becoming“ – gegenwärtigen Einschränkungen für Kinder und zukünftigen Benachteiligungen der späteren Erwachsenen – tragen Schweiger und Graf empirische Befunde zu den Auswirkungen eines Aufwachsen in monetärer Armut in den Bereichen „physical and mental health, social inclusion and education“ (67) zusammen. Zudem verweisen sie darauf, dass Kinderarmut auf der subjektiven Ebene mit Demütigungen verbunden ist.
Im dritten Kapitel (Responsibilities for Children in Poverty) loten Schweiger und Graf aus, welche Beziehung unterschiedliche Akteure zu Kindern in Armut haben und weisen diesen spezifische Verantwortungsgrade zu (121). Zur Sortierung der Verantwortlichkeiten setzen sie auf die folgenden fünf Variablen: Verursachung, Macht, enge Beziehung zum Kind, Gewinnschöpfung aus der Ungerechtigkeit und Interesse an der Überwindung der Ungerechtigkeit. Ihnen zufolge erwächst aus der erstgenannten Variable die höchste Verantwortung und aus der letztgenannten die geringste (136-137). Anhand dieser Variablen sortieren Schweiger und Graf die Akteure, die etwas mit der Wohlfahrt von Kindern in Armut bzw. der monetären Armutslage der Familie zu tun haben und grenzen drei Gruppen voneinander ab: Akteure mit einer hohen Verantwortung (Staat und Familie), Akteure mit einer mittleren Verantwortung (bspw. Freunde, die Wirtschaft sowie internationale / globale politische Institutionen) und Akteure mit einer geringen Verantwortung (das Kind selbst und die „global human community“ (147)). Mit Blick auf die beiden am stärksten verantwortungsbeladenen Akteure argumentieren die Autoren, dass Eltern zwar durchaus Mitschuld an der familiären Armutslage und der Vernachlässigung ihrer Kinder tragen können, aufgrund der „structural nature of poverty“ (151) sollten sie aber nie vollends individuell dafür verantwortlich gemacht werden. Die Aufgabe des Wohlfahrtsstaates sehen Schweiger und Graf in der Unterstützung der Eltern, ihrer Verantwortung gerecht zu werden und sprechen sich explizit gegen wohlfahrtsstaatliche Logiken aus, die darauf zielen, es armen Bevölkerungsteilen unattraktiv zu machen, Kinder zu bekommen (155).
Im abschließenden Kapitel vier (Advancing Our Approach to Global Justice for Children) skizzieren die beiden Autoren eine Adaption ihres Konzepts auf ökonomisch ärmere Entwicklungsländer. Sie argumentieren, dass ihre für moderne Wohlfahrtsstaaten entwickelten Kriterien zur Bestimmung kindergerechtigkeitsrelevanter „functionings“ auch für andere Teile der Welt gelten können und treten für eine global gleich definierte Schwelle ein, die das Erreichen einer „functioning“ festlegt. Diese Schwelle sollte folgendes Niveau haben: „a level as high as it is already for the majority of children in welfare states“ (169) – schlicht und ergreifend, da dies ein Zustand ist, der besser ausfällt als der reguläre Status quo in den Entwicklungsländern und der augenscheinlich institutionell erreichbar ist. Im Gegensatz zu modernen Wohlfahrtsstaaten gewichten Schweiger und Graf allerdings hier die Verantwortung der internationalen politischen Organisationen und Institutionen stärker und die des nationalen Staates geringer, da dieser weniger Macht und Handlungsmöglichkeiten als bspw. ein EU-Staat besitzt (171 ff).
Der Gewinn der rezensierten Veröffentlichung liegt vor allem in der glasklar strukturierten, präzise argumentierten und im Forschungsstand reichhaltig verankerten Ausleuchtung des Phänomens Kinderarmut aus der Perspektive des Verwirklichungschancenansatzes. Die Klarheit erwächst nicht zuletzt aus dem Vorgehen der Autoren, konsequent die von ihnen aufgegriffenen Konzepte im Kern vorzustellen, die Notwendigkeit und Art der Adaption darzulegen und letzte Unklarheiten mit passenden Beispielen auszuräumen.
Kritisch anzumerken ist, dass außerhalb der von den Autoren implizit abgedeckten Bedarfs- und Chancengerechtigkeitslogik situierte Gerechtigkeitsaspekte unbeachtet bleiben: so beispielsweise der Aspekt der Generationengerechtigkeit. Mittels dieser Perspektive wäre es möglich gewesen, Kinder nicht einfach als im Vergleich zu Erwachsenen weniger handlungsfähige Wesen zu setzen, sondern zu fragen, wo in einer durch Erwachsene geprägten Gesellschaft (un-)gerechtfertigte institutionelle Begrenzungen ihrer „capabilities“ und überzogene Paternalisierungen ihrer „functionings“ vorliegen und somit Macht unter dem Schleier des Schutzes der Machtlosen legitimiert wird. Zudem wäre es möglich geworden, das als harmonisch gesetzte Zusammenspiel von „well-being“ und „well-becoming“ spannungsgeladen aufzuarbeiten. Die empirische Relevanz dafür ergibt sich aus dem Umstand, dass auch heute noch teils gravierende Beeinträchtigungen des gegenwärtigen Kindeswohls zu gern mit potentiellen Gewinnen für den späteren Erwachsenen legitimiert werden – bekanntestes Beispiel: Erziehung à la „Tigermutter“.
Trotz der Kritik gilt: In einem Diskurs, in dem auch der wissenschaftliche Bereich in nicht unerheblichen Teilen davon geprägt ist, sich mit der Entwicklung kluger Bekämpfungsstrategien zu beschäftigen, ist die auf „Verstehen“ gerichtete Analyse von Schweiger und Graf von höchster Relevanz, da sie maßgeblich dazu beiträgt, differenzierter zu diskutieren, was das Problem von Kinderarmut ist und wer dafür warum gerade stehen sollte.
auch als Open Access:
https://secure.palgraveconnect.com/pc/doifinder/view/10.1057/9781137426024.0001
EWR 15 (2016), Nr. 4 (Juli/August)
A Philosophical Examination of Social Justice and Child Poverty
New York: Palgrave Macmillan 2015
(193 S.; ISBN 978-1-137-55946-3; 21,39 EUR)
Maksim Huebenthal (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Maksim Huebenthal: Rezension von: Schweiger, Gottfried / Graf, Gunter: A Philosophical Examination of Social Justice and Child Poverty. New York: Palgrave Macmillan 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978113755946.html
Maksim Huebenthal: Rezension von: Schweiger, Gottfried / Graf, Gunter: A Philosophical Examination of Social Justice and Child Poverty. New York: Palgrave Macmillan 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978113755946.html