EWR 18 (2019), Nr. 4 (Juli/August)

Philipp Eigenmann
Migration macht Schule
Bildung und Berufsqualifikation von und für Italienerinnen und Italiener in Zürich, 1960-1980
Historische Bildungsforschung. Band 3
Zürich: Chronos Verlag 2017
(328 S.; ISBN 978-3-0340-1381-9; 48,00 EUR)
Migration macht Schule Wie andere europäische Länder wurde auch die Schweiz durch die Arbeitsmigration der 1960/70er Jahre zu einer multikulturellen Einwanderungsgesellschaft. Die größte Gruppe bildeten von Anfang an die aus Italien Zugewanderten, nachdem bereits 1948 ein erstes, von der Idee der Arbeitskräfterotation ausgehendes Rekrutierungsabkommen zwischen Italien und Schweiz geschlossen worden war. Fragen der Berufsbildung und Beschulung, die im Mittelpunkt des hier zu besprechenden Buches stehen, wurden für das Gros der italienischen community in der Schweiz erst nach 1964 relevant, als Niederlassung und Familiennachzug vertraglich erleichtert wurden und eine Bleibeperspektive ermöglichten. Hier setzt die Studie von Philipp Eigenmann ein, die die zwischen 1960 und 1980 geschaffenen Bildungsangebote für Migrantinnen und Migranten zum einen für das Feld der Berufsbildung und zum anderen für die Schulangebote für die zweite Generation der Zugewanderten untersucht und dabei dem migrantischen Bildungsstreben eine zentrale Rolle einräumt. Damit umfasst sein Untersuchungszeitraum die Jahre der sogenannten Bildungsexpansion, die als diskursiver Rahmen die Legitimierung dieser Bildungsaktivitäten entscheidend prägten. Eigenmann verortet seine Arbeit im Schnittfeld von Migrationsgeschichte und historischer Bildungsforschung. Hat die historische Bildungsforschung der „Gastarbeiter-Ära“ bzw. der Migration und Niederlassung der ersten und zweiten Generation bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt, blieb in historischen Migrationsstudien wiederum die Rolle der Bildung unterbelichtet. Der Autor hebt sich dezidiert ab von der Selbsthistorisierung der aus der Ausländerpädagogik hervorgegangenen Interkulturellen Pädagogik und hinterfragt kritisch deren Migrantenbilder als Opfer bzw. Widerständige in ihrer Zeitgebundenheit.

Da Eigenmann nicht von der Schweizer Mehrheitsgesellschaft ausgehend argumentiert, sondern die immer auch in transnationalen Räumen handelnden und debattierenden Migrantenorganisationen und deren bildungsbezogenen Aktivitäten und Akteure in den Mittelpunkt rückt, bietet seine Studie bildungs- wie sozialgeschichtlich Interessierten eine spannende Perspektive auf die Schweizer Zeitgeschichte und die dort noch kaum bearbeitete Frage nach dem Zusammenhang von Bildung und Migration. Wie die instruktive Einleitung ausführt, möchte die Untersuchung weder vorschnell die Pädagogik als Allheilmittel der Integration betrachten noch die Benachteiligung von Migranten durch Bildungsinstitutionen als Regelfall voraussetzen. Vielmehr geht es Eigenmann um die Subjektivität und Agency der Zugewanderten, indem durch eine konsequent migrantische Perspektive deren bildungsbezogenes Handeln sichtbar gemacht werden soll. Als die hierfür zentralen Akteure nimmt er italienische Emigrantenorganisationen, Weiterbildungs- und Elterninitiativen hauptsächlich für Zürich in den Blick. Diese spielten für die Berufsbildung von Migrantinnen und Migranten und die schulische Integration ihrer Kinder, aber auch für die Aushandlung und Verankerung der Thematik im Bildungsdiskurs der Schweiz eine entscheidende Rolle. Dabei handelte es sich um politisch und konfessionell höchst verschiedenartige Organisationen, die weder einseitig auf Integration noch Remigration ausgerichtet waren. Katholisch geprägte Organisationen wie die „Missioni Cattoliche Italiane“ und die Arbeitervereinigung „Associazioni christiane lavoratori italiani“ (ACLI) bemühten sich zunächst, die Rückkehrorientierung der italienischen Zuwanderer zu stärken und richteten ihre Angebote am italienischen Bildungssystem und Arbeitsmarkt aus. Demgegenüber gingen die linken Parteien nahestehenden „Colonie Libere Italiane in Svizzera“ vermehrt von einem Einwanderungsszenario aus und orientierten sich an den Bildungs- und Arbeitsmarktstrukturen der Schweizer Aufnahmegesellschaft. Wie Eigenmann zeigen kann, bot sich den Zugewanderten ein lediglich beschränktes Qualifikationsangebot, das sich an den „Branchen des Prekariats“ ausrichtete. In den Archiven dieser Organisationen wertet der Autor eine Fülle interessanter Quellen aus, so etwa im ersten Teil zur „Berufsbildung in der Emigration“ Anmeldekarten zu Kursen von „Ente Nazionale ACLI Istruzione Professionale“ (ENAIP) für 1970-1978, die ihm Aussagen über die Zusammensetzung der Kursteilnehmer hinsichtlich Geschlecht, Alter und Branche erlauben. Im zweiten Teil zur schulischen Situation von „Migrantenkindern“ werden neben verbandseigenen Tätigkeitsberichten und Korrespondenzen auch zeitgenössische Diplomarbeiten über die psychologischen Entwicklungsprobleme italienischer Schulkinder herangezogen, deren Ergebnisse den konkurrierenden Verbänden gleichermaßen dazu dienten, die schulische Organisation entweder in separaten italienischen Schulen oder in Schweizerischen Regelklassen zu begründen. Eigenmann gelingt es, über das institutionelle Quellenmaterial konkrete Aushandlungen und Akteure vor Ort zu rekonstruieren und bisweilen mit biografischen Miniaturen zu verbinden, die zeigen, wie stark einzelne Personen das jeweiligen Organisationshandeln bestimmten.

Für die Frage, wie Bildung zur vorrangigen Maßnahme der gesellschaftlichen Integration der italienischen Zugewanderten werden konnte, ist der hier gewählte Fokus auf die migrantischen Organisationen zweifellos naheliegend. Ob diese Organisationen jedoch direkte Rückschlüsse auf die Migrierten als Subjekte, mithin auf deren Haltungen und Praktiken, zulassen, ist zumindest fraglich. Eigenmann betont selbst die große Heterogenität der italienischen Zuwanderung und verweist darauf, dass in den Emigrantenorganisationen die bereits früher immigrierten Italiener in Kaderpositionen eine Art Elite darstellten. Tatsächlich dürfte deren Agenda vermutlich nicht immer den Interessen und Erfahrungen des/der durchschnittlichen Arbeitsmigranten/in entsprochen haben. Die Tatsache, dass Organisationen die Reichweite und Wirksamkeit ihres Handelns in der Regel bedeutsamer einschätzen, hätte an der ein oder anderen Stelle durch eine die Selbstwahrnehmung der Organisation korrigierende Gegenquelle thematisiert werden können. Schließlich: Die Rezensentin hat sich über den geschlechtssensiblen Untersuchungsansatz gefreut, der an vielen Stellen versucht, den weiblichen Part gleichermaßen einzubeziehen, so etwa wenn es um das an Frauen adressierte geschlechtsspezifische Weiterbildungsangebot für Textilindustrie und Büro geht. Gleichzeitig ist bei dem durchgängig verwendeten Terminus „Migrantinnen und Migranten“ zu bedenken, dass dieser zumindest punktuell mehr verdecken als erhellen kann, etwa wenn es um die Arenen politischer Aushandlung geht, die bei Migrantenorganisationen wie bei Schweizer oder Italienischen Gewerkschaften auch in den 1970er Jahren von einem offenkundigen Machtungleichgewicht von Frauen und Männern geprägt gewesen sein dürften.

Ungeachtet dieser kleinen, den Ertrag der Studie kaum schmälernden Einwände, ist es Philipp Eigenmann gelungen, eine theoretisch und methodisch reflektierte, nachvollziehbar gegliederte und gut lesbare Untersuchung vorzulegen. Damit leistet er sowohl für die Bildungsgeschichte wie für die Migrationsgeschichte der Schweiz einen wichtigen und anregenden Beitrag, der für zukünftige Arbeiten viele Anknüpfungspunkte bietet. So wäre an weiteren Untersuchungen etwa ein Vergleich mit anderen europäischen Bildungssystemen bzw. Migrationsregimen wünschenswert, um dadurch genauer zu klären, inwieweit es sich bei dem hier analysierten Beispiel um einen Schweizerischen Sonderweg handelte und ob in Ländern mit einer jeweils anderen Migrationsgeschichte (wie z.B. Frankreich oder die Bundesrepublik) transnationalen Migrantenorganisationen in den 1960/70er Jahren eine ähnliche Rolle zukam, Einwanderungsprozesse pädagogisch zu bearbeiten.
Monika Mattes (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Monika Mattes: Rezension von: Eigenmann, Philipp: Migration macht Schule, Bildung und Berufsqualifikation von und für Italienerinnen und Italiener in Zürich, 1960-1980 Historische Bildungsforschung. Band 3. Zürich: Chronos Verlag 2017. In: EWR 18 (2019), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2019), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978303401381.html