EWR 10 (2011), Nr. 4 (Juli/August)

Manfred Max Bergman / Sandra Hupka-Brunner / Anita Keller / Thomas Meyer / Barbara E. Stalder (Hrsg.)
Transitionen im Jugendalter
Ergebnisse der Schweizer Längsschnittstudie TREE
ZĂĽrich: Seismo Verlag 2011
(300 S.; ISBN 978-3-03777-093-1; 26,00 EUR)
Transitionen im Jugendalter Was machen Jugendliche nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit? Wie gestaltet sich der Übergang von der Schule in die Ausbildung und dann weiter ins Erwerbsleben? Und welchen Einfluss haben das Bildungssystem und dessen Strukturen auf diesen Übergang, seine Gelingensbedingungen sowie die Schwierigkeiten, die sich den Jugendlichen dabei stellen? Es ist ein Verdienst der Längsschnittstudie TREE, das wir in der Schweiz in den letzten Jahren erstmals Antworten auf diese Fragen erhalten haben. TREE, Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben, ist die erste und einzige Längsschnittstudie in der Schweiz, die sich diesen Fragen gewidmet hat – und dies auch weiterhin tut. Das Projekt ist am Institut für Soziologie der Universität Basel angesiedelt und wird grösstenteils vom Schweizerischen Nationalfonds sowie von der Universität Basel getragen. TREE knüpft an PISA an (Programme for International Student Assessment) und befragt die – national und sprachregional repräsentative – PISA-Kohorte seit dem Jahr 2000 regelmässig. Dabei werden Fragen rund um den Übergang von der Schule in die nachobligatorische Ausbildung und ins Erwerbsleben sowie vom Jugendalter ins Erwachsenenleben nicht nur empirisch bearbeitet. Das Projekt TREE versucht auch, theoretische Ansätze rund um diesen Übergang – so etwa die Transitions- oder die Ungleichheitsforschung – kohärent zu erarbeiten.
Der Sammelband nach rund zehn Jahren Forschungstätigkeit trägt nun eine Auswahl einiger in den letzten Jahren verfasster – grösstenteils bereits in anderer Form publizierter – Beiträge zusammen. Insgesamt sechzehn Autorinnen und Autoren – darunter auch externe Datennutzerinnen und -nutzer – haben zu diesem 300-seitigen Band beigetragen, der Fragen zur Transition in Ausbildung und Erwerb aus einem multidisziplinären Blickwinkel anschaut: So finden sich unter der Autorenschaft neben Soziologinnen und Soziologen auch Psychologinnen und Psychologen, Erziehungswissenschaftler sowie Ökonominnen und Ökonomen. Auch in sprachlicher Hinsicht ist diese Publikation vielfältig: Neben fünf deutschen umfasst dieser Band auch fünf englische sowie zwei französische Beiträge.

Die Publikation beginnt mit einem Beitrag von Barbara E. Stalder und Christof Nägele über den systemischen Kontext, in dem sich für Jugendliche in der Schweiz der Übergang von der Schule ins Erwerbsleben vollzieht und in dem auch die nachfolgenden Beiträge zu verorten sind. Hier werden Grundzüge des Schweizer Berufsbildungssystems beschrieben, dessen Organisation und Struktur sowie jüngste Entwicklungen und zukünftige Herausforderungen. Das Kapitel schliesst mit einem – für die Lektüre der folgenden Kapitel sehr hilfreichen – Glossar der wichtigsten Begriffe der Berufsbildung auf Deutsch, Englisch und Französisch.

Der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Bildungschancen ist in der Schweiz – im Vergleich zu anderen OECD-Ländern – sehr stark. Bereits PISA und andere Studien haben uns diese Tatsache für den Bereich der obligatorischen Schulzeit und die Selektion in die Sekundarstufe I vor Augen geführt. In seinem französischen Beitrag zeigt der Bildungssoziologe Thomas Meyer nun, wie sich Bildungsungleichheiten auch nach der obligatorischen Schule, beim Übergang in die Sekundarstufe II bis hin zum Abschluss einer solchen Ausbildung, fortsetzen. So hängt die Wahrscheinlichkeit, mit 22 Jahren einen Berufsabschluss oder den Abschluss einer allgemeinbildenden Ausbildung erreicht zu haben, unter anderem sehr stark von der sozialen Herkunft ab. Diese Ergebnisse sind umso bedeutender, als der Autor mit Verweis auf die Ungleichheiten zu Beginn der Schulzeit aufzeigt, wie solche Effekte sich transformieren und so Bildungschancen bis hin zum Abschluss einer Ausbildung vorbestimmen: Am Ende der Primarschule getroffene Selektionsentscheide sind kaum umkehrbar und wirken bis zum Ende der Sekundarstufe II – und damit weiter auf die Chance auf Erwerb und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Besonders betroffen sind – einmal mehr – Jugendliche mit Migrationshintergrund sowie Mädchen und Frauen.

Nach einem Überblick über das Projekt-, Stichproben- und Erhebungsdesign folgt ein – leider sehr kurzer – Beitrag von Thomas Meyer, Sandra Hupka-Brunner und Anita Keller zu den Ausbildungs- und Erwerbsverläufen bis sieben Jahre nach Schulaustritt. Eine baumförmige Grafik zeigt die vielfältigen Wege, die die Schulabgangskohorte des Jahres 2000 bis ins Jahr 2007 vollzogen hat. Bemerkenswert – wenngleich nicht erstaunlich – ist die Tatsache, dass die Verläufe im Bereich der Berufsbildung um vieles zögerlicher verlaufen als diejenigen in der Allgemeinbildung: Nicht nur Einstiegsverzögerungen, sondern auch Unterbrechungen, Wechsel und Abbrüche während der Ausbildung führen im Bereich der Berufsbildung zu einer beträchtlichen Zahl an diskontinuierlichen Verläufen.

Erstaunlich ist weiter die Tatsache, dass sieben Jahre nach Schulaustritt erst 84% der jungen Erwachsenen einen Abschluss der Sekundarstufe II erworben haben. Auch zuzüglich derjenigen, die zu diesem Zeitpunkt noch eine solche Ausbildung besuchen, erhöht sich die Quote lediglich auf 86%. Alle anderen sind ohne nachobligatorischen Bildungsabschluss erwerbstätig, in einem Brückenangebot (in Deutschland: Übergangssystem) oder „einfach zu Hause“. Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Schweiz noch deutlich vom Ziel entfernt ist, 95% der Jugendlichen zu einem Abschluss der Sekundarstufe II zu führen. Weitere Ausführungen dazu fehlen leider.

Der folgende Beitrag von Thomas Meyer und Kathrin Bertschy widmet sich dem Übergang an der zweiten Schwelle und damit den Themen Ausbildungslosigkeit, Erwerbseintritt, Arbeitslosigkeit und Einkommen. Es wäre nicht notwendig gewesen, die bereits im zuvor erwähnten Beitrag von Thomas Meyer dargelegten Ergebnisse zur Ausbildungslosigkeit bzw. zur Wahrscheinlichkeit eines Abschlusses der Sekundarstufe II sowie zum Tertiäreintritt erneut zu erläutern. Spannend sind hingegen die Ergebnisse zum Erwerbseintritt, die zeigen, dass auch dieser Übergang für viele Jugendliche – besonders jene ohne Berufsabschluss – nicht reibungslos verläuft. Zu denken geben auch die Ergebnisse zum Einkommen: Die Autoren verdeutlichen, dass Frauen bereits in den ersten Erwerbsjahren deutlich weniger verdienen als ihre männlichen Kollegen: Mit einer multivariaten Analyse zeigen die Autoren, dass die „bereinigte“ Lohndifferenz zwischen Frauen und Männern unter Kontrolle von Sprachregion, Beruf und Abschluss der Sekundarstufe II rund 500 Franken beträgt – und damit sogar grösser ist als diejenige zwischen Personen mit und solchen ohne Abschluss der Sekundarstufe II. Sie zeigen damit – und dies dürfte zuvor noch nicht nachgewiesen worden sein –, dass Frauen in der Schweiz bereits beim Eintritt ins Erwerbsleben beträchtliche Lohndiskriminierungen in Kauf nehmen müssen.

Die beiden folgenden Beiträge von Stefan Sacchi, Sandra Hupka-Brunner, Barbara E. Stalder und Markus Gangl bzw. Sandra Hupka-Brunner, Stefan Sacchi und Barbara E. Stalder beschäftigen sich mit dem Übertritt in die Sekundarstufe II. Mit Bezugnahme auf Bourdieu und dessen Kapitaltheorie gehen sie der Frage nach, welche Bedeutung soziale Herkunftsmerkmale für den Eintritt in eine nachobligatorische Ausbildung allgemein sowie spezifisch für den Eintritt in dual-betriebliche versus vollzeitschulische Ausbildungen haben. Nach gründlicher statistischer Prüfung zeigen die Autorinnen und Autoren, dass die Übertrittschancen – auch nach umfassender Kontrolle von schulischen Merkmalen – sehr stark vom kulturellen sowie ökonomischen Kapital, also etwa vom Bildungshintergrund der Eltern sowie der Ausstattung der Familie an Büchern sowie finanziellen Ressourcen, abhängen. Dies betrifft insbesondere den Zugang zu betrieblichen Ausbildungen: Schulischen Angeboten gelingt es besser als betrieblichen, Frauen sowie Jugendliche mit Migrationshintergrund zu integrieren. Der Zugang zu diesen Ausbildungszweigen folgt somit unterschiedlichen Kriterien, was auf die Bedeutung hinweist, die Lehrbetriebe bei der Definition ihrer eigenen Selektionskriterien haben. Wie stark dies vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund – unter ihnen vor allem die Frauen – betrifft, beschreiben auch Sandra Hupka und Barbara E. Stalder im folgenden Beitrag. Diese Ergebnisse sind umso bedenklicher, als Barbara E. Stalder, Thomas Meyer und Sandra Hupka-Brunner in einem weiteren Beitrag zeigen, wie wichtig der Übergang an der ersten Schwelle für den weiteren beruflichen Werdegang ist: Das Risiko, sechs Jahre nach Schulaustritt noch ohne Ausbildungsabschluss zu sein, ist für Jugendliche, die im ersten Jahr ein Brückenangebot besucht haben, rund dreimal höher als für Jugendliche, die dann bereits eine zertifizierende Ausbildung besucht haben. Für Jugendliche, die im ersten Jahr nach Schulabschluss ausbildungslos gewesen sind, also auch kein Brückenangebot besucht haben, ist das Risiko sogar neunmal höher. Junge Erwachsene, die bereits beim Eintritt in eine schulische oder berufliche Ausbildung Schwierigkeiten hatten, sind somit stark gefährdet, längerfristig ohne Ausbildung zu bleiben. Ein gutes Zeugnis stellen die Forscherinnen und Forscher dem Schweizer Bildungssystem hingegen insofern aus, als sie zeigen können, dass es diesem besser als erwartet gelingt, auch schulisch schwächere Jugendliche zu integrieren und zu einem Berufsabschluss zu führen. Dies führen sie auf die strukturellen Gegebenheiten des Arbeits- und Ausbildungsmarkts, den Konjunkturverlauf, die Kosten-Nutzen-Relationen der Lehrlingsausbildung und die Reformbestrebungen in der Berufsbildung zurück. Ausführlichere Erklärungen hierzu fehlen allerdings.

Wie stark die beiden Übergänge an der ersten bzw. an der zweiten Schwelle mit einander verbunden sind, zeigen auch die Bildungsökonomen Kathrin Bertschy, M. Alejandra Cattaneo und Stefan C. Wolter in ihrem Beitrag zum Übergang von der beruflichen Grundbildung in den Arbeitsmarkt. Unter Berücksichtigung aller beobachtbaren Fakten haben das intellektuelle Anforderungsniveau der absolvierten beruflichen Grundbildung sowie die Note bei der Lehrabschlussprüfung den grössten Einfluss auf eine erfolgreiche Arbeitsmarkttransition. Auf indirektem Weg wirken damit auch die Leistungen während der obligatorischen Schulzeit – gemessen mit der PISA-Lesekompetenz: Die PISA-Kompetenzen haben einen entscheidenden Einfluss darauf, ob eine Schülerin oder ein Schüler eine Ausbildung mit hohen oder mit tiefen Anforderungen beginnt. Diese Ergebnisse verdeutlichen einmal mehr, dass gewisse berufliche Entscheidungen früh fallen – oder früh determiniert werden.

Im folgenden Beitrag beschäftigen sich auch Barbara Müller und Jürg Schweri mit dem Übergang an der zweiten Schwelle. Sie haben untersucht, warum Jugendliche beim Übergang von der beruflichen Grundbildung in den Arbeitsmarkt den Beruf wechseln. Auch hier scheint das Anforderungsniveau der beruflichen Grundbildung wichtig zu sein: Je höher dieses ist, desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Jugendlichen nach Lehrabschluss in einem erheblich anderen Beruf arbeiten als dem erlernten – und damit einen Lohnverlust von durchschnittlich 5 Prozent in Kauf nehmen. Wichtig ist aber auch die Arbeitslosigkeit im erlernten Beruf – je höher diese ist, desto geringer die Wahrscheinlichkeit eines Berufswechsels – sowie die Ausbildungszufriedenheit während der Lehre.

Im letzten Beitrag dieses Sammelbandes widmen sich Jeannette Brodbeck, Monika Matter sowie Franz Moggi der Frage nach dem Zusammenhang von Cannabis-Konsum und körperlichen Beschwerden sowie psychosozialen Belastungen. So zeigen sie beispielsweise, dass Frauen ab einem monatlichen Cannabiskonsum eine negativere Lebenseinstellung, und ab wöchentlichem Konsum sogar eine erhöhte Depressivität aufweisen. Der Beitrag zeigt, welche vielfältige Forschungszugänge der TREE-Datensatz erlaubt – verdeutlicht allerdings auch, dass Analysen im psychologischen Bereich bislang leider eine deutlich schwächere Berücksichtigung fanden.

Die zwölf Beiträge belegen eindrücklich, wie stark in der Schweiz Ausbildungswege miteinander verbunden sind und wie stark Bildungsverläufe durch frühere Entscheidungen geprägt und determiniert werden, unabhängig davon, an welchen Kriterien sie sich orientiert haben. Genau solche Analysen sind nur möglich mit repräsentativen Längsschnittuntersuchungen – genau solche Analysen wurden in der Schweiz lange vermisst, nicht zu letzt auch von der OECD.

Kritisch anzumerken ist, dass der Fokus in diesem Sammelband sehr stark auf der bildungssoziologischen Perspektive, besonders auf der Ungleichheitsforschung liegt. Damit wird das Potential, das die Daten der Längsschnittstudie TREE bieten, nicht ausgeschöpft. Besonders vermisst wird – wie bereits erwähnt – der psychologische Blick. Gerade auch die Verbindung etwa soziologischer und psychologischer Perspektiven wäre interessant und auch wichtig, misst sich doch Bildungserfolg nicht nur an soziologischen und ökonomischen Kriterien. So bleibt nach der Lektüre der vielen, zum Teil sehr bedenklichen Erkenntnisse etwa die Frage, welche Konsequenzen verschiedene Bildungsverläufe, Erfolge, aber auch Misserfolge beim Übergang von der Schule ins Erwerbsleben auf das Wohlbefinden und die Gesundheit der jungen Erwachsenen haben.

Der Sammelband ist mit „Volume 1“ versehen. Es bleibt zu wünschen, dass dem noch weitere folgen werden.
Evi Schmid (ZĂĽrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Evi Schmid: Rezension von: Bergman, Manfred Max / Hupka-Brunner, Sandra / Keller, Anita / Meyer, Thomas / Stalder, Barbara E. (Hg.): Transitionen im Jugendalter, Ergebnisse der Schweizer Längsschnittstudie TREE. ZĂĽrich: Seismo Verlag 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2011), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978303777093.html