Schulen, so der gesellschaftliche Tenor nach den Home-Schooling-Erfahrungen während der Corona-Pandemie, haben die Digitalisierung verschlafen. [1] Dabei begann die breite Ausstattung bundesdeutscher Schulen bereits in den 1980er Jahren mit einer „Torschlusspanik“ in den Kultusministerien, wie Jürgen Danyel feststellte. [2] Ministerien und Kommunen unternahmen dabei verschiedene Anstrengungen, um Computer möglichst effektiv in Schulen integrieren zu können. So bemühten sie sich nicht nur um die curriculare Einbindung und Nutzung der neuen Technologie, sondern auch um Finanzierungsmöglichkeiten oder stießen gesellschaftliche Diskussionen zu den Folgen des schulischen Computereinsatzes an. Der von Carmen Flury und Michael Geiss veröffentlichte Sammelband blickt auf die dadurch entstandenen Verflechtungen und geht aus einem von Geiss geleiteten Projekt an der PH Zürich hervor. [3]
Mit zwei Hauptteilen wollen Geiss und Flury in dem auch Open Access erschienenen Band nationale und transnationale Perspektiven der Computereinführung in Schulen von 1960 bis 2000 präsentieren. Ausgangsthese der Herausgeber:innen ist dabei, dass die Einführung von Computern in Schulen nicht isoliert betrachtet werden könne, sondern ein Blick notwendig sei, der neben Akteur:innen der europäischen Bildungssysteme auch wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Player und Transformationen betrachten müsse.
Der erste Teil des Bandes stellt sechs Fallbeispiele der schulischen Computereinführung vor. So stellt Cardon-Quint das französische Programm „Informatique pour tous“ von 1985 dar und zeigt Spannungen zwischen politischen Erwartungen und praktischer Umsetzung auf. Im Gegensatz zu vorherigen Initiativen seien Computer schnell in die Schulen gekommen. Vor dem Hintergrund der französischen Wahlen von 1986 wurden mit dem Programm aber auch politische und wirtschaftliche Ziele verfolgt. Während die politischen Ziele mit dem erneuten Wahlsieg der Sozialistischen Partei dem Fazit folgend erreicht wurden, konnte das Programm auf schulpraktischer Ebene keine nachhaltigen Veränderungen bewirken. Durchaus komplizierter war eine einheitliche Verteilung von Computertechnologie in der föderalen Bundesrepublik, wie Flury zeigt. Eine Public-Private Partnership, die finanzielle Belastungen des Staates weitestgehend beschränken sollte, wurde als vermittelnde Instanz eingerichtet und sollte ein bundeseinheitliches Vorgehen sichern. Die Länder fürchteten jedoch eine Einflussnahme auf ihre Bildungshoheit von Seiten des Bundes sowie der mit eigenen Interessen agierenden Wirtschaft und Industrie, sodass die bundespolitisch initiierte Initiative letztlich scheiterte. Auch in dem stark föderalisierten System der Schweiz mit 26 Kantonen rangen sowohl lokale Bildungsbehörden als auch Computerhersteller miteinander um eine Hoheit bei der Einführung von Computern in den Schulen. Anhand der Diskussion um von technologischen Unternehmen geforderten Standardisierungen im Bildungssystem zeigt Geiss auf, wie Bildungsakteur:innen sich bemühten, die Dezentralisierung auch bei technologischen Entwicklungen nicht aufzugeben.
Einen Blick ins östliche Europa lassen die Beiträge zu Ungarn (Somogyvári, Szabó, Képes) und Lettland (Kestere, Purina-Bieza) zu. Für Ungarn zeichnen die Autor:innen einen Weg vom Wissen einiger Interessierter von den 1950er Jahren bis zu staatlicher Kontrolle in den 1970 und -80er Jahren nach. Obwohl die Ausstattung und Nutzung der Computer in Schulen dabei von wachsendem Ost-West-Wissensaustausch und internationalen Kooperationen beeinflusst worden seien, stand in Ungarn noch länger als in westlichen Ländern das Programmieren im Fokus der Lehre. Die Autor:innen führen dies sowohl auf die zur Verfügung stehende Technologie als auch auf politische und wirtschaftliche Ziele zurück, lokale Fachkenntnisse im Bereich der Informatik zu entwickeln. Am Beispiel Lettlands stellen Kestere und Purina-Bieza den Prozess der Einführung von Computertechnologie in der Sowjetunion dar. Sie beschreiben dabei eine Top-Down-Politik mit militärischen und ideologischen Zielen.
Interessant sind hier auch die dargestellten Auswirkungen für Akteur:innen auf der praktischen Ebene. So konnten Schulen mit besonderen Kontakten schneller an Computer gelangen und ihren Schüler:innen somit eine auf den Computer bezogene bessere Ausbildung ermöglichen. Diese privaten Kontakte der Beschaffung spiegelten sich auch in der Einrichtung und Wartung der Computer wider, da die interessierten Lehrer:innen für die beschafften Geräte selbst verantwortlich waren. Die praktische Handlungsebene fokussiert auch der Beitrag zu Schweden (Guerrero Cantarell). Hier werden besonders die innovativen Praktiken der Lehrer:innen dargestellt, die auf die technische Ausstattung kreativ reagierten und eigene pädagogische Lösungen entwickelten. Der herausgearbeitete Kontrast zwischen tatsächlichen Praktiken und staatlichen Vorgaben der Computernutzung verleiht dem Band zusätzliche Tiefe und zeigt, dass Lehrer:innen keine homogene Gruppe, sondern eigenständig handelnde Praktiker:innen von Computertechnologie waren. Folgerichtig widmet sich der Beitrag auch der Nicht-Nutzung durch Lehrer:innen und führt hier neben der Skepsis einzelner Lehrer:innen auch kritische Einstellungen ganzer Lehrerverbände als Gründe an.
Der zweite Teil des Bandes nimmt mit der UNESCO (Priem), der EG (Flury, Geiss, Guerrero) und der OECD (Hof) drei internationale Organisationen in den Blick. Dabei wird deutlich, dass die Einführung von Computern als unabdingbar für die Anpassung von Bildung an die modernen Anforderungen der Gesellschaft gesehen wurde, seien dies lebenslanges Lernen oder das Überwinden von Bildungsunterschieden. Alle drei Beiträge unterstreichen zudem die Verbindung von Bildungsreformen und wirtschaftlichen sowie politischen Interessen, denen es darum ging, die nationale aber auch europäische Wettbewerbsfähigkeit auf dem globalen Arbeitsmarkt, beispielsweise durch Mobilitätsprogramme für Fachkräfte in Zeiten neuer Informationstechnologien zu sichern. Auch die sozialen und kulturellen Auswirkungen werden hier in den Blick genommen. So waren mit der Einführung von Computern im Bereich der Bildung stets auch die Hoffnungen verbunden, soziale Ungleichheiten zu überwinden.
Insgesamt bestätigen Geiss und Flury ihre Ausgangsthese, da die verschiedenen Beiträge eine enge Verzahnung von staatlichen und wirtschaftlichen Initiativen aufzeigen. Eine stärkere Betrachtung der gesellschaftlichen Perspektive wäre allerdings an einigen Stellen von Interesse gewesen. Durch die Berücksichtigung stets wiederkehrender Aspekte wie etwa von Machtkämpfen zwischen Akteursgruppen, politischen und wirtschaftlichen Dynamiken und Interessen sowie der schwierigen Finanzierung ist es gelungen, gemeinsame Charakteristika und Strukturen herauszuarbeiten. Ebenso werden aber auch Besonderheiten der einzelnen Fallbeispiele ergründet, wie etwa unterschiedliche politische Interessen der schulischen Computernutzung in Ost und West. Dies und die zwei Hauptteile verleihen dem Sammelband trotz der für sich stehenden Untersuchungen eine überzeugende Struktur. Unterschiedliche Fokussierungen der Beiträge von staatlichen Programmen über didaktische Fragen und solchen der Nutzungsabsichten bis hin zu Praktiken der Nutzer:innen machen den Band interessant. Die Quellenauswahl ist umfangreich und der erste Teil wird durch Poster und Fotografien anschaulich illustriert. Zu bemängeln ist lediglich der insgesamt doch deutlich westeuropäische Fokus. Besonders den zweiten Teil hätte die zuvor aufgerissene osteuropäische Perspektive noch erweitern können.
Davon abgesehen bietet der Band einen wertvollen Einblick mit neuen Erkenntnissen in die Geschichte der Einführung von Computertechnologie in europäische Schulen. Das Sammelwerk richtet sich nicht nur an die historische Bildungsforschung, sondern ist durch soziale, wirtschaftliche, kulturelle sowie technologische Verflechtungen breit anschlussfähig und erinnert daran, dass das gesellschaftliche System Schule, wie häufig der Fall, nicht gesondert betrachtet werden kann.
[1] Bspw. Becker, L. (2021). Noch lange keine digitale Revolution. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.03.2021, online unter: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/warum-keine-digitalisierung-der-schulen-in-sicht-ist-17269581.html.
[2] Danyel, J. (2012). Zeitgeschichte der Informationsgesellschaft. Zeithistorische Forschungen 9 (2), 186–—211, hier S. 198.
[3] Das Projekt „Education and the European Digital Agenda“ lief von 2019 bis 2023.
EWR 23 (2024), Nr. 4 (Oktober)
How Computers Entered the Classroom, 1960–2000
Berlin/Boston: De Gruyter 2023
(246 S.; ISBN 978-3-11-077959-2; 94,95 EUR)
Sven Schibgilla (Darmstadt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sven Schibgilla: Rezension von: Flury, Carmen / Geiss, Michael (Hg.): How Computers Entered the Classroom, 1960–2000. Berlin/Boston: De Gruyter 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978311077959.html
Sven Schibgilla: Rezension von: Flury, Carmen / Geiss, Michael (Hg.): How Computers Entered the Classroom, 1960–2000. Berlin/Boston: De Gruyter 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978311077959.html