EWR 8 (2009), Nr. 6 (November/Dezember)

Michael Winkler
Kritik der Pädagogik
Der Sinn der Erziehung
Stuttgart: Kohlhammer 2006
(306 S.; ISBN 978-3-17-017891-5; 27,00 EUR)
Kritik der Pädagogik So sonderbar es klingen mag: Es gibt gegenwärtig nicht viele erziehungswissenschaftliche Studien, die sich mit „Erziehung“ beschäftigen. Die Disziplin scheint eher eine Art von vornehmer Zurückhaltung zu pflegen, wenn es um den sie begründenden Begriff und dessen Wirklichkeit in spätmodernen Gesellschaften geht. Eine Folge davon ist, dass das öffentliche Reden und Nachdenken über Fragen und Probleme der Erziehung vielfach – und mehr oder weniger spektakulär – von anderen bestimmt wird. Die überaus lesenswerte Studie von Michael Winkler zeigt nun, was sich gewinnen lässt, wenn das Fach sich auf sein kollektives Reflexionsgedächtnis besinnt, empirische Befunde und theoretische Einsichten anderer Disziplinen nach Maßgabe „einheimischer Begriffe“ aufnimmt und sich des eigenen systematischen Potentials bedient.

Dass man bei dieser Lektüre mit einem höheren Komplexitätsgrad rechnen muss als in populären Darstellungen, liegt auf der Hand (wozu sonst Wissenschaft) und wird in der Vorbemerkung enttäuschungsprophylaktisch verdeutlicht. Denn das Vorhaben ist äußerst ambitioniert, weil nach Ansicht des Autors vier Dimensionen in ihrer wechselseitigen Verschränkung zu beachten sind, also einerseits analytisch differenziert und andererseits konstruktiv immer wieder aufs Neue miteinander verbunden werden müssen: Erstens – und das ist theoriestrategisch Ausgangs- und Fluchtpunkt aller Überlegungen – muss Erziehung sozusagen als „Erfindung“ der Evolution verstanden werden, in deren Mittelpunkt es um die Vermittlung von „Natur“ und „Bewußtsein“ (Winkler bevorzugt zumeist den klassischen Ausdruck „Geist“) geht. Diese „Erfindung“ braucht zweitens gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen, die ihr gleichsam als Medien dienen, durch die sie in je besonderer Weise zum Vorschein kommt, eingebettet ist, geformt, aber auch herausgefordert wird. Drittens ist „Erziehung“ ungeachtet dessen ein Phänomen sui generis, das als solches einer eigenen sachlichen Logik folgt – aber man kann es nicht „sehen“, denn es zeigt sich nie direkt, sondern immer nur in der Art und Weise, wie darüber gesprochen und reflektiert wird. Hauptmerkmal der Erziehung ist nach Winkler viertens „Normativität“ – ihr entkommt man nicht, denn Erziehung muss „gewollt“ sein (vgl. 7). Evolutions-, Kultur- und Gesellschaftstheorie müssen also beweglich mitgeführt werden, wenn mit Blick auf aktuelle Gegebenheiten phänomenologisch vernünftig über Erziehung gesprochen werden soll. So ist auch der bewusst doppeldeutige Titel zu verstehen: Der Sinn der Erziehung ist evolutionär bestimmt, und die „Kritik der Pädagogik“ fragt nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit unter jeweils gegebenen kulturellen und sozialen Voraussetzungen, also mit Blick auf die Verhältnisse in spätmodernen Gesellschaften.

Das Buch ist, abgesehen von einer kurzen Vorbemerkung, der Einleitung und dem Literaturverzeichnis, in vier Kapitel gegliedert, wobei sich durch ein kleines „Zwischenspiel“ in der Mitte eine Zweiteilung ergibt. Es fällt auf, dass die einzelnen Kapitel im Fortgang der Studie immer länger werden (33, 46, 61, 110 Seiten), was auf eine Eigentümlichkeit der Darstellung hinweist, die eine Intention des Autors widerspiegelt und für die er ein gewisses „Schutzrecht“ (8) reklamiert. Denn wiewohl das Buch „einer streng systematischen Grundidee“ folgt, soll es „nicht abgeschlossen“ sein, sondern einen „Entwurf des Denkens“ darstellen (ebd.).

In der Einleitung plädiert der Autor zunächst für eine „eigene Logik von Erziehung“ und liefert (u.a. im Rückgriff auf Schleiermacher) acht Gründe dafür, dass Erziehung ein Sachverhalt eigener Art ist, der deutlich von anderen unterschieden werden muss, weil sich die pädagogische Reflexion sonst in Kategorienfehler verstrickt. Erziehung ist also etwas anderes als Bildung, ist nicht Sozialisation und löst sich in Politik nicht auf. Vielmehr ist es der „Zusammenhang von Natur, Gesellschaft und Kultur, (der) der Erziehung die eigene Objektivität“ (19) verleiht. Eben dieser „Zusammenhang“ ist es, der den Fortgang der Analyse bestimmt, weil er die Formulierung der zentralen Fragestellung ermöglicht: Kann es sein, dass gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen die „strukturellen Grundbedingungen von Erziehung so weit verändern, dass diese neu und anders gedacht werden müssen“(12)? Anders gesagt: Lässt sich durch den Blick auf Gegenwartsphänomene der Erziehung die Hypothese erhärten, dass dieser „Zusammenhang“ sich auflöst, verliert also die Erziehung den für sie (wie Winkler meint) strukturell notwendigen Rückhalt in Kultur und Gesellschaft?

Das erste Kapitel („Nachdenken über Erziehung: Die Form der Pädagogik“) dient dem Zweck, zunächst einmal auch noch die letzte Gewissheit darüber, was Erziehung ist und wie über sie gesprochen und nachgedacht werden kann, gründlich zu erschüttern. Der Autor geht hierbei mit unverhohlen entlarvungsdiagnostischer Lust zu Werke und seziert mit pointierten Formulierungen das öffentliche Reden über Erziehung, wie es sich in zahlreichen Texten, Traktaten, Erziehungsratgebern und Fernsehsendungen manifestiert. Allerdings: Auch der Blick auf die Diskussionslage der eigenen Disziplin – der Erziehungswissenschaft – bietet nach Ansicht Winklers in Bezug auf pädagogische Tatbestandsgesinnung wenig Erfreuliches. Er sieht das Fach in einer Art begrifflicher „Selbstzerstörung“ verstrickt (vgl. 35), weil nicht nur ein „hinreichendes Gegenstandsverständnis weitgehend fehlt, [sondern] möglicherweise sogar die Einsicht noch gar nicht vorhanden ist, dass ein solches [...] auch eine [...] unverzichtbare Aufgabe einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit pädagogischer Theorie ist“ (36f.). Dabei könnte gerade in Zukunft die Existenz der Disziplin (wie auch die Stabilität pädagogischer Professionen) davon abhängen, dass sie sich auf das Thema Erziehung einlässt und nicht nur einem Bildungsdiskurs verfällt, der zynisch bleibt, weil er die Voraussetzungen des gemeinten Geschehens ignoriert (vgl. 38).

Warum aber erweist sich das Phänomen der Erziehung als dermaßen sperrig und scheint dem sprachlichen Zugriff immer wieder zu entgleiten? Winkler versucht, diese Frage mit der genüsslichen Schilderung des „Tur-Tur-Phänomens“ zu beantworten. Auch Erziehung scheint, wie Herr Tur-Tur, ein „Scheinriese“ zu sein: einerseits und aus der Ferne ganz groß und übermächtig, andererseits, nähert man sich ihm, ziemlich klein. Anders gesagt: das Reden über Erziehung oszilliert zwischen großen Ambitionen und Vollkommenheitsvorstellungen auf der einen und banalen Alltäglichkeiten auf der anderen Seite, eine Art zweiseitiger Mythos sozusagen. Genau das macht jede begriffliche Annäherung so schwierig.

Es gibt Erziehung, aber sie ist unsichtbar. Aus diesem Grund ist ein „erstens entscheidendes und empirisches Merkmal der Sache selbst in der Kommunikation über Erziehung“ (50) zu finden. Dass über Erziehung gesprochen wird, zeigt, dass es sie gibt; die Realität der Erziehung kommt, anders gesagt, in pädagogischen Diskursen zum Vorschein. Wenn dem so ist, dann müssen die Diskurse in den Mittelpunkt der Analyse gerückt werden. Sie stellen allerdings kein systematisch geordnetes Wissen dar, sondern verweisen – hier kommt erwartungsgemäß Foucault ins Spiel – auf Dispositive, die die Wirklichkeit der Erziehung bestimmen, weil und indem sie Legitimitäten verteilen (vgl. 51). Aus einer solchen Perspektive stellen sich dann neue Fragen: “Warum und wie entsteht eine diskursiv gebundene Realität der Erziehung? Was ist das Problem, das so bearbeitet wird? Was ist das Problem, das die Erfindung der Erziehung löst“ (58)?

Das zweite Kapitel („Voraussetzungen und Bedingungen: Das Problem der Erziehung“) zeigt dann, wie der Verfasser das zuvor kunstvoll dekonstruierte Problem der Erziehung neu aufzubauen versucht. Der im pädagogischen Denken traditionsgefestigte Rückgriff auf anthropologische Schematisierungen eignet sich nach Ansicht Winklers allerdings nicht als Ausgangspunkt, weil er eine Differenz einebnet, die überhaupt erst entfaltet werden muss. Daher wählt er einen evolutionstheoretischen Zugang, denn „das Problem der Erziehung zeichnet aus, das in ihm und durch es eine triadische Struktur und eine Differenzmöglichkeit entsteht. Sie wird durch Natur auf der einen Seite, Gesellschaft, Kultur, Geist auf der anderen Seite bestimmt und bringt aus sich heraus ein Drittes (hervor), nämlich eine Entwicklung zu einem Eigenem, das sich selbst bestimmt“ (65). Nur so öffnet sich der Blick auf die doppelte Funktion der Erziehung: “Sie erhält Natur, indem sie Gesellschaft und Kultur erhält sowie deren Entwicklung und Veränderung ermöglicht“ (68). Bewahrung und Erhaltung sind durch die und in der Erziehung mit Entwicklung und Veränderung verbunden. Erziehung ist also, anders gesagt, eine Art flexible response der Evolution. Nur so vermag sie einerseits das „Geburtsproblem“ zu lösen, und andererseits löst sie auf eben diese Weise auch das „Todesproblem“, indem sie für das geschichtlich-gesellschaftliche Erbe, wie es im „kulturellen Gedächtnis“ kodiert ist, Sorge trägt (vgl. 76f.).

Durch den aufwendigen Aufweis, dass es sich so verhält, ist aber noch nicht die Frage beantwortet, wie das geschieht. Winkler antwortet hierauf mit der Kombination von zwei Begriffen: Vermittlung und Aneignung. „Vermittlung“ ist dabei nicht alltagssprachlich gemeint, sondern bezieht sich – man kann durchaus an Dilthey denken – auf das Verhältnis von Natur und Geist, in dem „Vermittlung“ selbst durch Entwicklung und Lernen evolutionär schon angelegt ist. „Aneignung“ hingegen bezieht sich gleichsam auf die selbstreferentielle Seite dieses Vorgangs; insofern sind „Vermittlung“ und „Aneignung“ wechselseitig durchdrungen und verschaltet (vgl. 81). Vielleicht kann man es so sagen: Vermittlung geschieht, Aneignung muss aktiv betrieben werden. Eben daraus ergibt sich der Bezug zum Bildungsbegriff, den der Autor hier herstellt (vgl. 86f.).

Wie aber kommt man aus den Tiefen der Evolution wieder an die Oberfläche der Erziehung, also zu den Formen, in denen über sie gesprochen wird? Die Antwort kann nicht überraschen und lautet: Nur über „Dispositive“ (definiert als „Verteilungsregeln, die Bedeutungen in einer sozialen Wirklichkeit ordnen“), „welche in den Diskursen dann gefasst werden. Sie schaffen Sichtbarkeit und Zonen der diskursiven Konflikte, in welchen sich das pädagogische Denken dann jeweils manifestiert“ (93). So endet dieses Kapitel mit dem (vielfach historisch kontextualisiertem) Aufweis von dreizehn „Dispositiven“, wobei am Ende allerdings, so Winkler, noch ein vierzehntes Dispositiv „zu befürchten“ ist (106): das Subjekt, das als Selbst seine Authentizität in alledem zu bewahren versucht.

Mit einem kurzen Zwischenspiel („Arbeit am Mythos in illustrierender Absicht“) schlägt der Autor die Brücke zur Praxis der Erziehung. Denn Dispositive und Diskurse handeln ja nicht; dazu braucht es, buchstäblich und mit einem Begriff aus Foucaults „Hermeneutik des Subjekts“ gesprochen, „Agenten“. Und deren Berufsgeschichte reicht weit zurück. Im antiken Bild des paidagogos, des Knabenführers, liegt, so Winkler, der Ursprungsmythos der Pädagogik begründet, an dem dann in der historischen Abfolge sich die verschiedenen „Erzählungen“ anheften.

Das dritte Kapitel („Erziehung als Praxis: Strukturierung und Handeln“) stellt nun den (manchen wohl riskant erscheinenden) Versuch dar, ein Wissen über Erziehung als Praxis zu formulieren, ohne sich dabei in den semantischen Tentakeln der Dispositive und Diskurse zu verfangen (vgl. 124). Daher scheidet der Subjektbegriff als Ausgangspunkt aus (vgl. 119). Winkler identifiziert vielmehr drei „fundamentale Theorieprobleme“, die das Nachdenken über Erziehung zu beachten hat: Struktur und Prozess; Kontinuität und Differenz sowie Praxis und Beziehung. Der hierbei leitende Gedanke ist, dass sich die „Struktur der Erziehung“, die Verschränkung von „Vermittlung“ und „Aneignung“ also, nur in besonderen Beziehungsformen zur Geltung bringt, mithin in spezifischen Interaktionsmustern, die nur im Modus der Kooperation ihre transformatorische Wirkung zu entfalten vermögen.

Die Struktur pädagogischer Situationen folgt dabei der evolutionären Folie und bringt sie zum Vorschein, da beide „triadisch“ strukturiert sind (Evolution: Natur-Geist-Gesellschaft/Kultur; Erziehung: Erzieher-Zögling-Gesellschaft/Kultur). In der Theoriearchitektonik Winklers werden also zwei Dreiecke gleichsam ineinander geschoben und füreinander produktiv gemacht. Erst die Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung erzwingt die Thematisierung der Erziehung und begründet typische Formen der Reaktion: methodische Entschleunigung oder sogar partieller Stillstand, es bilden sich eigene „Enklaven“ der Erziehung und sie wird „exklusiv“ organisiert. Dadurch wird auch die Position des Erziehers „exzentrisch“, denn er ist zwar einerseits Teil des Dreiecks, steht aber als derjenige, der es zur Geltung bringt, auch gleichsam außerhalb.

Als „Beziehung“ ist „Erziehung“ aber immer auch eine besondere Form der Begegnung zweier Menschen, die vielfach spontan, ungeplant und vor jeder Reflexion – wie Lachen eben (vgl. 144ff.) – sich ereignet. Insofern hat der Prozess von „Vermittlung“ und „Aneignung“ eine eigene „Tiefenstruktur“, auf dessen verschiedenen Schichten er aufruht. Winkler nennt drei, nämlich „Vertrauen und Bindung“, „persönliche Netzwerke“ und ein „ökologisches Mezo-System“ (vgl. 147f.). Von ebenso grundlegender wie weitreichender Bedeutung ist ein weiterer Umstand: Erziehung muss an etwas anschließen können, das schon da ist. Traditionell wurde dies „Bildsamkeit“ genannt. Ein rein anthropologisches Verständnis hiervon greift allerdings zu kurz, denn „Bildsamkeit“ ist selbst schon ein sozial vermitteltes Moment, das die Disposition zur Erziehung erst erzeugt und in Erziehung eingeht und durch diese bestätigt wird (vgl. 151). Es gibt also eine Art „Protopädagogik“, eine „Vorstruktur“ oder „Vor-ordnung“, die als „protopädagogische Erziehung zur Voraussetzung pädagogisch organisierter Erziehung (wird)“(152). In dieser „Vorstruktur“ bringt sich der dritte Faktor gewissermaßen implizit zur Geltung, denn er ist mit gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen gleichsam verklebt, wird im Kontakt mit Institutionen spürbar, verbirgt sich in normativen Mustern, die in Mentalitäten zum Tragen kommen und kulturelle Selbstverständlichkeiten regeln (vgl. 153).

Dadurch entstehen zwar einerseits neue Freiheiten, aber das Abschmelzen der vorpädagogischen Elemente der Erziehung erschwert den Pädagogen die Arbeit, weil dadurch die notwendigen Anschlüsse unterlaufen werden. So gibt es gegenwärtig zwar eine Vielfalt pädagogisch organisierter Praxis, aber zugleich wird das „vorpädagogische Moment“ ständig „gestört oder gar geschädigt“ (vgl. 158). Grundlegende Bedingungen der Erziehung lösen sich auf, und es gibt zwar viel „Erziehung“, der jedoch die protopädagogischen Grundlagen in einem radikalen Vorgang des „Dis-embedding“ zunehmend verloren gehen, weil nach Winkler drei Umstände sich wechselseitig verstärken: dynamische gesellschaftliche Entwicklungen, kulturelle Modernisierung und die Zerstörung des Sozialstaats (vgl. 158ff.).

Das abschließende vierte Kapitel („Theorie des dritten Faktors“) ist vielleicht deswegen vergleichsweise lang geraten, weil der Autor hier keinen neuen, für seine Systematik notwendigen Gedanken entwickelt, sondern weil das bereits eingeführte Argument – unter postmodernen Sozialverhältnissen würden die „protopädagogischen Voraussetzungen“ der Erziehung folgenreich erodieren – nun in mehrfachen Durchführungen illustriert, ausführlicher dargestellt und mit vielfach emphatisch zugespitzten Formulierungen variantenreich erläutert wird. Dieser Teil erscheint gewissermaßen wie ein Buch im Buch und ließe sich als ebenso kenntnisreiche wie engagierte pädagogische Kritik spätmoderner Gesellschaften mit Genuss wie mit Gewinn durchaus gesondert lesen, denn es gibt nicht viele erziehungswissenschaftliche Studien, die sich überhaupt auf diese Weise auf die Beschreibung und Analyse gegenwärtiger sozialer Verhältnisse einlassen.

In erziehungstheoretischer Hinsicht erscheint vor allem der Schluss dieses Kapitels von besonderer Bedeutung, da er auch als Konsequenz gelesen werden kann, die aus der Studie insgesamt zu ziehen ist. Der entscheidende Punkt für Winkler dabei ist: Kultur und Gesellschaft stehen den Zuerziehenden nicht mehr so gegenüber, dass Individualität in Auseinandersetzung mit ihnen errungen, um nicht zu sagen: erkämpft werden kann, sondern gesellschaftliche und kulturelle Erwartungen haben sich von Beginn an in Form von sozial präfigurierten Subjektivitätsfolien in den Entwicklungsprozess als internalisierte Repräsentanzen gleichsam eingenistet. Anders gesagt: Sozialisation ist immer schon individualisiert und zerstört als „individualisierende Vergesellschaftung“ (204, 221) Erziehung. Das Verhältnis zum „dritten Faktor“ löst sich auf, weil die triadische Struktur gleichsam zusammenklappt, wenn der „dritte Faktor“ (Kultur/Gesellschaft) schon im zweiten (individuelles Bewusstsein) enthalten ist: Selbsterziehung ohne Erziehung sozusagen (vgl. 247). Diese Entwicklungen sorgen für mannigfache Spannungen im Erziehungssystem (vgl. 234ff.) und machen am Ende die Pädagogik selbst zu einer Mischung aus Religionsersatz und einem vielfältigen, kundenfreundlich präsentiertem Warenangebot.

Wie kann man aber noch Erziehung denken, wenn eine durch und durch pädagogisierte Gesellschaft scheinbar nicht mehr erziehen kann, und die professionellen Erzieher ohne die schützende Unterstützung der in den „protopädagogischen Voraussetzungen“ ehedem implizit gegebenen, wenn auch nur geliehenen Autorität auskommen müssen (vgl. 256)? Für Winkler ergibt sich aus seiner Analyse „kein Ende der Erziehung“ (261), sondern vielmehr die Aufforderung, sich auf sich selbst zu besinnen, Kritik an Vergesellschaftungsprozessen zu leisten und die Struktur der Erziehung durch die Eröffnung von „Gegenwelten“ (vgl. 260ff.) zu sichern. Darin sieht er die „neue Dialektik der Pädagogik“: Pädagogische „Gegenwelten“ stellen sich dem „Verlust an Sittlichkeit“, der den Gegenwartsgesellschaften attestiert wird, entgegen (vgl. 291f.), erscheint doch Erziehung zumindest als eine mögliche Form, „Gesellschaften und Kulturen vor ihrer möglichen Barbarei zu bewahren“ (292). Schließlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch die Erziehung selbst „immer wieder zivilisiert, kultiviert und moralisiert“ (ebd.) werden muss. So führt dieser Gedankengang letztlich zu einer Art normativer Implosion. Damit endet das Buch.

Es ist hier nicht der Ort, um im Einzelnen auf den Entwurf Winklers zu antworten. Die genaue Rekonstruktion wird allerdings die eingangs geäußerte Bemerkung als begründet erscheinen lassen, dass es sich um eine überaus lesenswerte Studie handelt, die durch ihren Materialreichtum, die Fülle an genauen Beobachtungen und immer wieder treffend formulierten Beschreibungen wie auch durch ihre systematischen Einsichten jedes Nach-Denken zu einem fraglos gewinnbringenden Unternehmen machen wird. Natürlich fallen einem aufmerksamen Leser einige technische Ungereimtheiten und feine Risse in der Darstellung ins Auge wie auch manche Generalisierungen empirisch durchaus fragwürdig erscheinen; aber all das (gelegentliche dialektale Durchbrüche – das gern verwendete „bisserl“ zum Beispiel – eingeschlossen) sind Kleinigkeiten, die vermutlich primär der Entstehung des Buches geschuldet sind und die Leistung des Autors in keiner Weise schmälern. Denn das Buch eröffnet verschiedene mögliche Lesarten: es lässt sich ebenso als eine scharfsinnige und prognostisch valide „Kritik des Kapitalismus“ lesen wie als eine theoretische Studie zur „Soziologie der Erziehung“; aber auch als „Pädagogische Kulturkritik der Postmoderne“ und last but not least: als „Allgemeine Pädagogik“. Der Rezensent hat das Buch so gelesen, als „Allgemeine Pädagogik“, und zumindest zu einem Punkt soll abschließend Stellung genommen werden, und zwar in zwei aufeinander aufbauenden Schritten.

Zunächst zur äußeren Gestalt: Fast allen Kapiteln (nur dem 12. und 13. nicht) stellt der Autor jeweils ein Motto voran, wobei sich ein überaus bunter Reigen von Autoren ergibt, der von Georges Simenon und Georg Simmel, der unbekannten Stimme einer österreichischen Volksweisheit, über Niklas Luhmann und Otto Waalkes bis zu Walter Benjamin und Nina Hagen reicht. Offensichtlich wird hierdurch nicht nur profundes Bildungswissen signalisiert, sondern auch eine intime Vertrautheit mit dem Zeitgeist und seinen vielfach schillernden Moden. Auch die Darstellung in den einzelnen Kapiteln hält immer wieder Überraschungen dieser Art bereit: auf einem antiken Marktplatz sieht man sich plötzlich einem Kaugummiautomaten gegenüber (115) oder man wird aus den Tiefen sozialphilosophischer Studien unversehens in die Sprache der Werbung versetzt, nicht ohne zuvor einen Besuch bei Harry Potter absolviert zu haben, von dem aus man direkt zu den Helden der Tour de France gerät (vgl. 218f.). Der Autor stellt also nicht nur die Kenntnis einschlägiger Fachliteratur, sondern auch das zumeist medial aggregierte Alltagswissen des Lesers fortwährend auf eine harte Probe (der sich natürlich freut, wenn er weiß, was Udo Bölts zu Jan Ullrich wirklich gesagt hat). Mit anderen Worten: Der Text spielt durchgängig mit Anspielungen und ruft ständig Assoziationen hervor, die die systematische Darstellung auf eine Weise durchziehen, die dem „Zappen“ eines spätmodernen Fernsehkonsumenten nahe kommt. Das mag beabsichtigt sein und wird hier keinesfalls als stilistische Kritik hervorgehoben. Der Umstand aber, dass die Form der Darstellung Eigentümlichkeiten aufweist, die offenkundig postmodernen Rezeptionsmustern entsprechen, bereitet das entscheidende Argument vor: Der Gesellschaft, so wie sie ist, entkommt man nicht.

Und das gilt auch für die pädagogische Reflexion. Wie sich durchgängig und zum Schluss in aller Deutlichkeit zeigt, bleibt die Studie Winklers einem Denkmuster verhaftet, das die Erziehung am Ende ebenso zwangsläufig wie künstlich der Gesellschaft gegenüberstellt. Damit einher gehen eine Überschätzung und Überforderung von Erziehung und Pädagogik und eine Unterschätzung von Macht und Wirksamkeit anderer gesellschaftlicher Einflussgrößen. Hieran kommt ein grundlegendes Problem reformpädagogischen Denkens zum Vorschein, dem eine folgenreiche Verwechslung zugrunde liegt: Wenn nämlich die „exzentrische“ Position der Erzieher, die in der Praxis der Erziehung notwendig ist, um der triadischen Struktur situativ Geltung zu verschaffen, zum Ausgangspunkt pädagogischer Systematik wird, gerät damit zwangsläufig auch die pädagogische Theoriebildung in eine „exzentrische“ Position, stellt sich also der Gesellschaft fiktiv und mit der Folge gegenüber, Erziehung nur mehr in „Gegenwelten“ denken zu können, die dann allerdings emphatisch aufgeladener moralisch-appellativer Absicherung bedürfen. Dann erscheint Erziehung wie eine soziale Enklave inmitten einer vermeintlich asozial deformierten Gesellschaft – und Erziehungstheorie löst sich, ob man will oder nicht, letztlich in Gesellschaftskritik auf. Nebenbei bemerkt: zeigt sich daran nicht auch das „Dispositiv“, das Erziehung an einen Heilsentwurf knüpft?

Nach Ansicht des Rezensenten bieten sich der pädagogischen Reflexion durchaus andere Optionen. Gerade die These vom Abschmelzen der protopädagogischen Voraussetzungen in spätmodernen Gesellschaften fordert die Erziehungstheorie keineswegs moralisch, sondern vielmehr operativ heraus. Denn die Pädagogik wird nun durch die Umstände zu zeigen gezwungen, was sie zu leisten vermag. Damit wird nicht die Wirksamkeit pädagogischer Mechanismen begrenzt, sondern nur die theoretischen Vorstellungen darüber. Wer operativ denkt, bewegt sich weder in einem normativen Vakuum noch wird er zum kritiklosen Apologeten bestehender Verhältnisse. Denn in den pädagogischen Operationen sind auch normative Orientierungen genuin enthalten, die über sie hinausreichen. Damit kommt den „pädagogischen Operateuren“ auch das Recht zu, deutlich zu artikulieren, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit ihre Arbeit Aussicht auf Erfolg hat. Vielleicht hilft ein Blick in die Medizin: Wohl kaum einer wird von ihr prospektiv Volksgesundheit erwarten, wohl aber sachgerechte Hilfe in den Fällen, für die sie zuständig ist; und ohne Mitwirkung des Patienten bleiben selbst kunstvolle Operationen am Ende wirkungslos.

Es sieht so aus, als ob ein produktiver Umgang mit dem „Zeitsprung“, der in postmodernen Verhältnissen die Praxen der Erziehung und das pädagogische Denken herausfordert, gegenwärtig vielleicht eher jenseits gewohnter Bahnen zu beobachten ist. Wer sieht und daran denkt, wie Scharen von Kindern und Jugendlichen durch die „Berliner Philharmoniker“ und ein begeisterndes Tanzlehrerteam sich buchstäblich (und meist von den sorgenvollen Mienen der professionellen Pädagogen begleitet) in Bewegung bringen lassen, so dass daraus selbst wiederum eine Bewegung entstanden ist, dem kann die Zukunft der Erziehung so düster nicht erscheinen.
Volker Kraft (Kiel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Volker Kraft: Rezension von: Winkler, Michael: Kritik der Pädagogik, Der Sinn der Erziehung. Stuttgart: Kohlhammer 2006. In: EWR 8 (2009), Nr. 6 (Veröffentlicht am 01.12.2009), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978317017891.html