EWR 9 (2010), Nr. 6 (November/Dezember)

Bernd Ahrbeck / Marc Willmann (Hrsg.)
Pädagogik bei Verhaltensstörungen
Ein Handbuch
Stuttgart: Kohlhammer 2009
(358 S.; ISBN 978-3-1702-0424-9; 32,00 EUR)
Pädagogik bei Verhaltensstörungen Die beiden Herausgeber, Bernd Ahrbeck und Marc Willmann, schreiben im ersten Absatz ihrer Einleitung: „Die Vielfalt und mitunter auch Beliebigkeit von Erklärungsansätzen sowie pädagogischen und therapeutischen Interventionen ist ein Ausdruck davon, dass es an einer einigenden Leitidee fehlt, mit der sich die Kernthematik des Faches formulieren lässt“ (9). Das neue Handbuch der Pädagogik bei Verhaltensstörungen kann deshalb als Beitrag verstanden werden, eine Systematik und einen orientierenden Maßstab ins monierte anything goes zu bringen. In diesem Sinn nennen die beiden Herausgeber in ihrer Einleitung zwei „Leitideen“: Zum einen lasse sich Pädagogik bei Verhaltensstörungen nicht durch Therapie ersetzen, weil Therapie als Korrektur von Fehlentwicklungen zeitlich limitiert sei. Zum anderen verweise Pädagogik bei Verhaltensstörungen auf soziologische Reflexion, weil erzieherisches Handeln in gesellschaftlichen Zusammenhängen stattfinde, deren Ordnungen und Dynamiken das Phänomen „Verhaltensstörung“ generiere und strukturiere. Diese soziologische Perspektive soll im Handbuch explizit eine „angemessene Beachtung finden“ (10). Die vorliegende Rezension wird der Frage nachgehen, inwieweit das Handbuch diese beiden Ansprüche einlöst.

Das Handbuch umfasst insgesamt 36 Beiträge, welche in folgende Abschnitte aufgeteilt sind: „Geschichte“, „Handlungsfelder und Institutionen“, „Erklärungsansätze und theoretische Perspektiven“, „Störungen des Erlebens, Verhaltens und der Entwicklung“, „Diagnostik“, „Pädagogische Perspektiven: Verhaltensprobleme als Erziehungs- und Beziehungsproblem“, „Interventionsansätze und Handlungskonzepte“ sowie „Verhaltensstörungen als gesellschaftliches Problem“. Elf Beiträge, d.h. knapp ein Drittel, enthalten im Kern eine pädagogische, sonderpädagogische oder sozialpädagogische Argumentation. Fünf Beiträge folgen primär einem psychologisch-therapeutischen Erkenntnisinteresse und neun Beiträge berücksichtigen explizit eine soziologische Perspektive, wobei in diese letzte Kategorie die archäologische Genealogie (Foucault) und die Ethnologie mit eingeschlossen wurden. Dieses Maßverhältnis bezüglich disziplinärer Ausrichtung der einzelnen Beiträge kann als Hinweis verstanden werden, dass die beiden Ansprüche der Herausgeber zumindest in quantitativer Hinsicht eingelöst sind. Die pädagogische Orientierung ist klar dominant und strukturiert doppelt so viele Beiträge wie die Psychologie bzw. die Psychoanalyse. Soziologische Begründungen finden sich in neun Beiträgen, was für eine sonderpädagogische Publikation in diesem Fachgebiet – häufig geprägt durch „die weitläufige Vermeidung soziologischer Terminologien und Theoreme“ (207) – überdurchschnittlich ist.

Interessant ist nun, dass die Beiträge mit explizit pädagogischer Argumentation relativ gleichmäßig über alle Abschnitte hinweg verteilt sind und nicht, wie zu erwarten wäre, konzentriert im entsprechenden Kapitel „Pädagogische Perspektiven: Verhaltensstörungen als Erziehungs- und Beziehungsproblem“. Dies hat wahrscheinlich damit zu tun, dass die „Expertinnen und Experten aus den verschiedenen Bezugsdisziplinen und Handlungsfeldern“, die von den Herausgebern für einen Handbuchbeitrag angefragt wurden, sich in unterschiedlichem Ausmaß (auch) als Pädagogen verstehen. Ausgesprochen der Fall ist dies beispielsweise im informativen Beitrag von Günter (Kap. 2.3), dessen erfahrungsgesättigter Crashkurs in Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters aus pädagogischer Sicht höchst lesenswert ist. Ich wünschte mir, im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich mehr solcher pädagogisch interessierter und aufgeklärter Ärzte anzutreffen. Nicht gelungen ist die Verbindung zwischen fachlicher Expertise und pädagogischer Orientierung im Beitrag von Hüther (Kap. 3.4). Die neurobiologischen Zusammenhänge sind aufgrund einer telquel übernommenen Fachterminologie nur schwer nachvollziehbar, so dass der erziehungsoptimistische Grundton Hüthers letztendlich unbegründet bleibt.

Die Programmatik der Herausgeber, die Pädagogik im Bereich der Verhaltensstörungen zu stärken, kommt in ihren Beiträgen in der Abteilung „Pädagogische Perspektiven“ am deutlichsten zum Ausdruck. Willmann (6.2) kritisiert den Begriff der Verhaltensstörung als „Begriffsimport“ (205, 207) aus der klinischen Psychologie. Daraus ließen sich keine pädagogischen Handlungen ableiten. Zudem psychologisiere der Begriff das Phänomen, d.h. individualisiere und entpolitisiere es (207). Alternativ schlägt Willmann ein interaktionistisches Verständnis des Phänomens als „Erziehungsproblem“ (205) vor. Die „Formulierung einer pädagogischen Position“ (210ff) fällt dann allerdings recht dünn und enttäuschend aus, weil es dem Herausgeber nicht gelingt, Verhaltensstörungen als durch soziale Verhältnisse konstituiertes Phänomen zu begreifen. Ein Bewusstsein für diese theoretische Leerstelle scheint der Herausgeber zu haben: „Man sieht deutlich, dass die Pädagogik angewiesen ist auf philosophisch-ethische Grundlagenreflexion, ohne die die Ziel-, Norm- und Grundwertproblematik nicht geklärt werden kann“ (211). Hier fragt man sich, warum Willmann seiner einleitend geäußerten Absicht, „gesellschaftliche Entwicklungen [zu berücksichtigen], die den allgemeinen Rahmen für die Genese und den Verlauf von Störungen des Erlebens und Verhaltens bilden“ (10) nicht treuer folgt, so wie dies beispielsweise in seinem Beitrag zur „Schulischen Erziehungshilfe“ (Kap. 2.5) realisiert ist. Hier werden institutionelle Entwicklungen (Umbau von Sonderschulen zu sonderpädagogischen Förder- und Beratungszentren) als Individualisierung struktureller Probleme kritisiert und als Ausdruck von Legitimationsproblemen interpretiert.

Wie Willmann vertritt auch Ahrbeck (Kap. 6.3) die Auffassung, dass in der Pädagogik bei Verhaltensstörungen „vor allem psychologische Theorien und aus ihnen hergeleitete Interventionen einen großen Raum (einnehmen)" (215). Ahrbecks Referenz zur Begründung einer soziologischen Alternative sind die beiden von Bernfeld erstmals bezeichneten Grundkonstanten der Pädagogik: Erziehung als „soziale Tatsache“ (217) und die „Entwicklungstatsache" [1]. Beide Grundkonstanten sind wie bei Bernfeld kritisch gewendet: „Erziehung trägt wesentlich zur Genese von Verhaltensstörungen bei, erzeugt sie oder hat zumindest einen regulierenden Einfluss" (219). In modernen Gesellschaften werde aber nicht nur Erziehung problematisch, sondern auch Entwicklung. Das Aufwachsen von Kindern verlaufe nicht linear, sondern krisenhaft. Aus psychoanalytischer Perspektive analysiert Ahrbeck zwei solcher „Bruchstellen der Entwicklung" (219ff): Die Wandlungen des kindlichen Narzissmus und die Sublimierungsnotwendigkeiten (220ff).

Mit Bernfeld verweist Ahrbeck auf die gesellschaftliche Dimension von Erziehung, ohne die im Feld der Pädagogik bei Verhaltensstörungen ein nicht-stigmatisierendes Verständnis der Phänomene nicht möglich ist. Gleichzeitig verfügt Ahrbeck als profunder Kenner der Psychoanalyse und der psychoanalytischen Pädagogik über ein differenziertes Instrumentarium, den Zusammenhang zwischen psychischen Konflikten, verinnerlichten Beziehungserfahrungen und aktuellen pädagogischen Konstellationen theoretisch gehaltvoll zu erhellen. In seinem Beitrag zur „Störung der Person und ihrer Beziehungen“ (Kap. 4.4) argumentiert der Mitherausgeber mit einer unverkürzten Psychoanalyse, welche das Seelenleben als Niederschlag von Beziehungen, Milieu und Gesellschaftsstruktur konzipiert. Ahrbecks Bezugnahme auf Bernfeld ist keineswegs zufällig.

Es gibt noch weitere Beiträge des Handbuchs mit einem psychoanalytischen Referenzschema. Hervorzuheben ist diesbezüglich die sehr gelungene Einführung ins „Szenische Verstehen“ (Kap. 5.3) von Rauh, der auf Seite 177 als erster ein Fallbeispiel bringt. Spezielle Erwähnung verdient auch der instruktive Beitrag von Datler und Wininger (Kap. 6.4), die anhand eines historischen Fallbeispiels von Redl und Wineman ins psychoanalytische Fallverstehen einführen. Vielleicht ist es symptomatisch, dass das Besondere des einzelnen Falles ausschließlich in diesen beiden Beiträgen zum Thema wird. Die Psychoanalyse hat als Theorie psychischer Konflikte empirisch gehaltvolle Hypothesen zur sozialen Genese und Bewältigung dieser inneren Spannungen entwickelt. Mit Hilfe dieser Vorannahmen kann die Latenz pädagogischer Situationen entschlüsselt und verstanden werden.

Der zweite Geltungsanspruch der Herausgeber, die pädagogische Reflexion von Verhaltensstörungen soziologisch zu erweitern, wird vor allem im Beitrag von Graf und Weisser (8.1) sowie im Beitrag von Hoanzl und Weiss (7.2) eingelöst. Der Beitrag von Graf und Weisser ist nicht nur eine theoretische Leistung, sondern auch eine didaktische. Verhaltensstörungen verweisen nach Graf / Weisser auf Exklusionsprozesse und Dominanzverhältnisse im Feld schulischen Lernens (300). Die beiden Autoren führen in ihrem Beitrag gleichsam nebenbei ein soziologisches Instrumentarium ein, um sowohl Exklusionsprozesse als auch Dominanzverhältnisse zu analysieren. Bei Exklusionsprozessen handle es sich nicht um „quasi natürliche Verläufe sondern um eine Auseinandersetzung unterschiedlich dominanter Akteurgruppen in einem gemeinsamen Referenzraum" (295). Wird ein Akteur „als ‚verhaltensgestört’ im Unterschied zu ‚nicht verhaltensgestört’ beschrieben, so artikulieren sich in diesem Vorgang Teilungspraktiken [i.S. von Exklusionsprozessen, D.B.] und Dominanzverhältnisse, die sichtbar werden, wenn danach gefragt wird, wer sie in welchen Kontexten und mit welchen Mitteln vollzieht und wen sie betreffen“ (298). Zur Analyse der Dominanzverhältnisse benötige man eine „Empirie sozialer Ungleichheiten“ (297). Zur Analyse der Exklusionsprozesse brauche es einerseits den erklärenden Zugang einer „empirischen Soziologie sozialer Verhaltensstörungen“, andererseits den verstehenden Zugang einer „Ethnomethodologie Verhaltensstörungen produzierender Gesellschaften“ und Institutionen (ebd.). Im abschließenden Abschnitt „Pädagogik bei Verhaltensstörungen" (300) konkretisieren die beiden Schweizer Autoren ihr Forschungsprogramm in Form eines Vier-Punkte-Vorgehens, das Verhaltensstörungen als Ergebnis relationaler sozialer Verhältnisse rekonstruiert. Man hofft als Leser, dass Graf und Weisser schon bald eine exemplarische Fallstudie publizieren, welche die elaborierte Methodologie an empirischem Material erprobt.

Im Denkstil verwandt sind Hoanzl und Weiss, die ähnlich wie Graf und Weisser „Verhaltensprobleme und -störungen als Verhältnisprobleme und -störungen, und zwar in Relation zu den Menschen seines Umfeldes, in Bezug zu den Dingen und nicht zuletzt in der Beziehung zu sich selbst" (251) verstehen. Die gestiegene Zahl von Kindern mit Verhaltens- und Entwicklungsproblemen wird ausschließlich soziologisch erklärt: Hierfür verantwortlich seien hauptsächlich anomische Zustände im Anschluss an Modernisierungsprozesse (249) und soziale Ungleichheit in Bezug auf die Bedingungen des Aufwachsens (250). Zum Schluss geben die beiden Autoren eine gute Übersicht zu den Möglichkeiten und Problemen von Frühförderung, deren Gelingen u.a. auch vom sozialen Ort des bürgerlichen Heilpädagogen abhänge, für den „eine doppelte reflexive Distanz gegenüber den eigenen mittelschichtspezifischen Werten und Normen und gegenüber jenen der belasteten Familien“ (254) gefordert wird.

Zu den soziologisch gehaltvollen Beiträgen muss auch jener von Winkler gezählt werden. Winkler lokalisiert die „soziale Genese von Verhaltensstörungen" (313) im gesellschaftlichen Wandel, zu dessen Beschreibung er verschiedene soziologische Theorien (Marx, Beck, Bauman, Giddens, Sennett) verwendet. „Die Logik des Aufwachsens und die Logik der Erziehung lassen sich in eine solche Dynamik nicht einbinden" (315), so die Hauptthese von Winkler. Der Kern dieser Dynamik ist ein anomischer Zustand – „soziale und kulturelle Bedingungen des Aufwachsens stehen in Spannungen und Widersprüchen zueinander" (312) - der von Kindern und Jugendlichen individuell bewältigt werden muss, was die Wahrscheinlichkeit abweichenden Verhaltens an gewissen Positionen der Sozialstruktur erhöht. Weil diese Orte im Aufsatz von Winkler soziologisch nicht bezeichnet sind, sinkt die Wahrscheinlichkeit konformen Verhaltens für alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen, was empirisch nicht stimmt und deshalb etwas kulturpessimistisch klingt.

Die oben erwähnten Orte mit erhöhter Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Verhaltensstörungen thematisiert Herz als „hochriskante Lebenslagen, die oft kompensiert werden durch aggressives und / oder autoaggressives Verhalten“ (338) in Form von Gewalt, Rechtsextremismus und Drogenkonsum. Verantwortlich hierfür sei – analog zu Winkler – der soziale Wandel, konkret der „neoliberale Umbau des ehemaligen deutschen Sozialstaats“ (334ff). Der Zusammenhang zwischen sozialer Benachteiligung, pädagogischer Deprivation und schulischer Exklusion wird im Aufsatz von Herz anhand von zahlreichen empirischen Studien belegt.

Soziologisch enttäuschend ist der Beitrag von von Kardorff (Kap. 3.2). Die Hauptdimensionen soziologischer Reflexion – abweichendes Verhalten und Sozialstruktur sowie abweichendes Verhalten und sozialer Wandel – sind hier wenig entwickelt und bleiben begrifflich diffus. Dass der Denkstil dieses Autors, dem vom Aufbau des Handbuchs her die Aufgabe zugefallen wäre, einen Überblick über soziologische Erklärungsansätze zu geben, letztendlich nicht wirklich soziologisch ist, kann als Emergent für die Schwierigkeiten der beiden Herausgeber gelesen werden, im Bereich Pädagogik bei Verhaltensstörungen einen Kontrapunkt zum psychologischen Mainstream zu setzen.

Noch signifikanter scheint mir diesbezüglich der Beitrag von Göppel (Kap. 1.1), welcher die Begriffsgeschichte der Pädagogik bei Verhaltensstörungen zum Thema hat. Die historische Rekonstruktion ist spannend, bricht aber bereits vor dem Begriff „Verhaltensauffälligkeit“, welcher im Zusammenhang mit der interaktionistischen Perspektive während den 70er-Jahren Konjunktur hatte, ab. Auch „abweichendes Verhalten“ bleibt als soziologischer Begriff unerwähnt. Nicht zensuriert wurde hingegen, dass „in jüngster Zeit [...] häufig von ‚Kindern mit herausforderndem Verhalten’ die Rede“ (12) ist. Dass dieser Begriff sich implizit auf ein psychologisches Konzept (Copingtheorie von Lazarus) bezieht, bleibt unanalysiert.

Auch wenn – wie im Falle von Göppel – nicht alle Beiträge die programmatische Ausrichtung des Handbuchs unterstützen, so kann man dennoch zusammenfassend sagen, dass Ahrbeck und Willmann ein wunderbar anachronistisches Nachschlagewerk gelungen ist, in dem der Psychoanalyse und der Soziologie eine starke Bedeutung zukommt. Die seit den 1970er-Jahren fällige Neukonzeption des Phänomens Verhaltensstörungen als „Verhältnisstörungen“ (251) ist in keiner mir bekannten heilpädagogischen Aufsatzsammlung so weit vorangeschritten und theoretisch elaboriert wie in der hier rezensierten. Es bleibt allerdings noch viel Arbeit zu leisten und die unnötigen Beiträge, welche in Bezug auf das Thema „Verhaltensstörung“ wenig Erhellendes beitragen (Kap. 2.1; Kap. 3.1; Kap. 3.2; Kap. 4.1; Kap. 5.5; Kap. 8.2), erinnern einen an die Zeitspannen, welche zur Umstrukturierung eines Denkstils auch in diesem Bereich notwendig sind.

[1] Bernfeld, Siegfried: Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt a.M. 1973, erste Auflage 1925.
Daniel Barth (Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Barth: Rezension von: Ahrbeck, Bernd / Willmann, Marc (Hg.): Pädagogik bei Verhaltensstörungen, Ein Handbuch. Stuttgart: Kohlhammer 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978317020424.html