EWR 15 (2016), Nr. 3 (Mai/Juni)

Tobias Bernasconi / Ursula Böing (Hrsg.)
Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung
Reihe: Kompedium Behindertenpädagogik
Stuttgart: Kohlhammer 2015
(289 S.; ISBN 978-3-17-023436-9; 40,00 EUR)
Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung Die Monographie von Tobias Bernasconi und Ursula Böing ist in der Reihe „Kompendium Behindertenpädagogik“ (hrsg. v. Heinrich Greving) des Kohlhammer-Verlags erschienen, in der behindertenpädagogische Grundlegungen, bezogen auf Profession, Disziplin und Handlungsfelder spezifischer Ausprägungsformen von Behinderung erfolgen. Bernasconi und Böing wenden sich dabei der Pädagogik bei Menschen zu, denen eine „schwere“ und „mehrfache“ Behinderung zugeschrieben wird. Das ausgewiesene Ziel der Autorin und des Autors ist es, die noch junge Historie der Pädagogik bezogen auf diesen Personenkreis einleitend, differenziert und in ihrem Verhältnis zur Allgemeinen Pädagogik darzulegen.

Das Buch, das knapp 300 Seiten umfasst, gliedert sich entlang des übergeordneten Schemas der Reihe in drei zentrale Bereiche: Disziplin, Profession und Handlungsfelder, welche in mehrere Unterkapitel aufgefächert sind. Eine Einleitung wird voran- sowie eine umfassende Bibliographie nachgestellt.

Im Kapitel Disziplin werden ausführliche terminologische Kontroversen bezogen auf die begriffliche Fassung und Definition des Personenkreises aufgezeigt. Entlang dieser wird der historische Entwicklungsverlauf von einer personenbezogen-defizitären Betrachtung über Sichtweisen sozialer Zuschreibung bis hin zu konstruktivistischen Perspektiven innerhalb der, als jung bezeichneten Sub-Disziplin skizziert. Hierin finden die Debatten um „Bildungs(un)fähigkeit“ (34) und „Institutionalisierung und institutionelle Öffnung“ besondere Aufmerksamkeit. Vor dem Hintergrund des historischen Entwicklungsverlaufs werden die zentralen Begründungszusammenhänge für die Konturierung einer eigenständigen, disziplinär verortbaren Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung aufgeführt. Prägnant erscheinen hier insbesondere deren „philosophisch-anthropologisch-ethischen Diskurse, die sowohl in der Erziehungswissenschaft als auch in den Handlungsfeldern der Allgemeinen Pädagogik […] weitestgehend ignoriert werden“ (47). Eine intra-, inter- und transdisziplinäre Analyse fächert die theoretischen Grundlagen (z.B. Phänomenologie, pädagogisch-anthropologische und sozialwissenschaftliche Grundlagen) auf. Besonders hervorzuheben ist hier der Entwurf einer „Nicht-ausgrenzenden Pädagogik“ (114) im Rahmen der transdisziplinären Analyse, mit den zentralen Bausteinen: Ungewissheit, Stellvertretung, Imperfektibilität, Bildungsverständnis – die gesamthaft graphisch zusammengeführt werden.

Die Darstellungen zur Profession erfolgen auf Basis professionstheoretischer Vorüberlegungen und unter Aufführung des Spannungsfelds „Medizin – Therapie – Pflege“ (132), die vor dem Hintergrund ihrer Konzepte, Modelle und Methoden (z.B. Basale Stimulation, Elementare Beziehung, Unterstützte Kommunikation) besprochen werden. Herausgestellt werden hier didaktische Leitlinien und Modelle (z.B. Bildung mit ForMat, entwicklunglogische Didaktik) sowie diagnostische Zugänge (z.B. Rehistorisierung).

Der dritte Teilbereich Handlungsfelder führt die vielfältigen pädagogischen Felder über die Lebensspanne hinweg auf, in denen die Pädagogik bei Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung Relevanz besitzt (z.B. Frühe Bildung, Schule, Familie, Arbeit, Wohnen etc.). Assistenz wird – in ihrer Ambivalenz zwischen Autonomie und Dependenz – als allen Handlungsfeldern inhärenter Bedingungsfaktor skizziert, um kulturelle Teilhabe zu ermöglichen.

Tobias Bernasconi und Ursula Böing eröffnen den Lesenden einen breiten und zugleich einführenden Überblick über unterschiedlichste Diskurse und Entwicklungslinien um Disziplin, Profession und Handlungsfelder der fokussierten Pädagogik. Unterschiedlichste Konzepte, Modelle und Theorieansätze, die diese Pädagogik hervorgebracht und etabliert haben, werden prägnant beschrieben. Ohne an dieser Stelle eine allumfassende Diskussion ansetzen zu können, werden die entworfene „Nicht ausgrenzenden Pädagogik“ und deren Figuren (u.a. Ungewissheit, Imperfektibilität) näher in den Blick genommen. Kern des übergeordneten Referenzrahmens bildet dabei ein relationales wie transformatorisches Bildungsverständnis, das sich insbesondere aus Vorarbeiten der kulturhistorischen Schule speist.

Der Autorin und dem Autor gelingt es mit dem Buch aufzuzeigen, dass die Entwicklung der Sub-Disziplin einer Pädagogik bei Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung Produkt genau jener komplementären Entwicklung ist, in deren Maße die Allgemeine Pädagogik Ausgrenzungen in Form von normativen Setzungen (z.B. Bildungsfähigkeit, Leistungserwartungen) vorgenommen hat bzw. vornimmt. Dies wird besonders am Beispiel der Figur von „Ungewissheit“ (80ff) deutlich, die entlang eines anthropologischen Verständnisses von Menschen als soziale, imperfekte sowie letztlich unbestimmbare Wesen herausgearbeitet wird. Ungewissheit wird also als perturbierendes Moment entworfen, demzufolge die Autorin und der Autor postulieren, „institutionelles und pädagogisch-professionelles Handeln entlang eines dynamischen Feldes zwischen Sicherheit und Unsicherheit, Gewissheit und Ungewissheit, Wissen und Nichtwissen zu etablieren“ (87).

Gerade innerhalb des erziehungswissenschaftlichen Diskurses um Inklusion, der Teilhabe- sowie Ausschlussprozesse in pädagogischen Feldern in den Blick nimmt, werden die Figuren einer „Nicht ausgrenzenden Pädagogik“ relevant. Hier bietet das Buch erste gewinnbringende Hinführungen und schematische Ansatzpunkte. Ist es doch oftmals genau der Personenkreis von Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung, der bei der Debatte um Inklusion exkludiert wird.

Dies wird am fokussierten Personenkreis zwar logisch und fundiert herausgearbeitet, zugleich bleibt die grundlegende Frage bzw. das inhärente Dilemma der gesamten Ausführungen bestehen, warum eben diese personenkreisbezogen betrachtet werden – pointierter formuliert: warum die „Nicht ausgrenzende Pädagogik“ nicht als Allgemeine Pädagogik entworfen wird – deren Potenzial sie sicherlich besitzt – sondern diese „nur“ einfasst.

Insgesamt kann resümiert werden, dass die Perspektive auf den Personenkreis von Menschen, denen eine schwere und mehrfache Behinderung attestiert wird, nicht nur fundiert und vielschichtig gelungen ist, sondern dass sie als reflexives Vehikel dienen kann, um transdisziplinär „Bildungskonzeptionen“ offenzulegen, die „Menschen aus dem Kreis der Bildungsfähigkeiten und zur Bildung berechtigten ausschließen“[1]. Eine Allgemeine Pädagogik muss sich letztlich genau daran messen lassen, ob sie es schafft, alle Menschen, unabhängig von Lern- und Entwicklungsstand mitzudenken. Das Buch bietet aus der Perspektive des gewählten Personenkreises ausführliche Anregungen. Ihm ist daher eine breite Leserinnen- und Leserschaft zu wünschen.

[1] Dederich, M.: Über Wissenschaft, Erkenntnis, Repräsentationen und die Singularität des anderen Menschen. In: Horster, D. / Hoyningen-Süss, U. / Liesen, C. (Hg.): Sonderpädagogische Professionalität. Beiträge zur Entwicklung der Sonderpädagogik als Disziplin. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, 169-186.
Andreas Köpfer (Basel)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andreas Köpfer: Rezension von: Bernasconi, Tobias / Böing, Ursula (Hg.): Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung, Reihe: Kompedium Behindertenpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 3 (Veröffentlicht am 25.05.2016), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978317023436.html