Das Werk Migration und Behinderung wird im Rahmen der Reihe „BAsisMAterial Geistige Behinderung - Lernschwierigkeiten“ publiziert und vermittelt durch den Untertitel „Orientierungswissen für die Praxis“ genau das, was intendiert wird. Es richtet sich sowohl an Studierende der Heil- und Sonderpädagogik als auch an Praktikerinnen und Praktiker im Bereich der Behindertenhilfe (9). Halfmann zentriert ihre Ausführungen auf die Schärfung der Professionalität des Fachpersonals im Bereich der Behindertenhilfe. Sie nimmt darüber hinaus aber auch die strukturelle Dimension (interkulturelle Öffnung bzw. Inklusion, 101f sowie Diversity und Diversity Management, 104f) in den Blick und betont richtigerweise die Bedeutsamkeit eines reflexiven Umgangs mit der notwendigen Praxis der interkulturellen Kompetenz. Neben der Zielsetzung einer „interkulturellen Öffnung der Behindertenhilfe“ (125) benennt sie daher die hohe Bedeutung eines zentralen Bildungsangebotes mit dem Schwerpunkt Interkulturalität in heil- und sonderpädagogischen Studiengängen (Kapitel 6). Aufgrund der Tatsache, dass Deutschland als Migrationsgesellschaft angesehen werden muss, ist diese Empfehlung hochgradig zu unterstützen.
Die einzelnen Kapitel vermitteln stets einen einführenden Überblick über Themenfelder, die für die (soziale) Arbeit mit Familien im Kontext von Migration und Behinderung von Relevanz sind. Für die Übersicht positiv sind die zahlreichen dunkel unterlegten Definitionen, mit denen zentrale Informationen und Hinweise schnell erkannt werden können sowie sinnvolle Abbildungen zu ausgewählten Themen. Aufgrund des einführenden Charakters sowohl nützlich als auch nötig, werden vereinzelt vertiefende Literaturhinweise angeboten.
Das Buch ist wie folgt aufgebaut: Zunächst werden der gesellschaftliche Hintergrund und eine einführende Definition von Migration vorgestellt (Kapitel 2.1). Neben dem Terminus Migrationshintergrund und die in der Bundesrepublik Deutschland hierfür genutzte statistische Bestimmung, wird auf Bevölkerungszahlen (Mikrozensus: 21) und die Migranten-Milieu-Studie des Sinus-Instituts (24f) zentriert, um „die bemerkenswerte Vielfalt von Lebensauffassungen und -weisen innerhalb der Population der Menschen mit Migrationshintergrund (26) zu unterstreichen. Anschließend wird der Fokus des Buchs enger gefasst, indem die Verbindung von Migration und Behinderung sowohl (inter-)disziplinär (27), in der Praxis (28f) als auch statistisch dargelegt wird. Ebenso werden Personenkreise bestimmt, da diese eine jeweils andere Bedarfslage besitzen.
Halfmann führt dann knapp in den Kultur-Begriff ein (Kapitel 3), welcher stets mit dem Terminus der Migration verbunden zu sein scheint und stellt sogenannte kulturspezifische Wahrnehmungen von Behinderung (Kapitel 3.2) vor. Hierbei erscheint die anschließende Einführung in Begriffe wie Interkulturalität (Kapitel 3.3) als durchaus wichtig, da beispielsweise durch Transkulturalität (56) – hier nur kurz angeschnitten – die zunehmende Vielfalt in der Gesellschaft und damit die Verflechtungen von Kulturen präziser in den Blick genommen werden können. Im Rahmen einer Tätigkeit im Schnittfeld von Migration und Behinderung sollte darüber hinaus auch die Beschäftigung mit Theorien wie der Intersektionalität [1] und der (De)Konstruktion von Migration(sanderen) [2] sein. Dies ist ebenfalls grundlegendes Wissen für Praktikerinnen und Praktiker im Bereich der (inter-)kulturellen Arbeit.
Für die Professionalisierung von Fachpersonal stets sinnvoll, wird eine fallorientierte Perspektive eingenommen, um so ein Verständnis zwischen Theorie und Praxis zu schaffen. Dabei werden die Lebenswelt (Kapitel 4.1) und die Biografie (64) von drei Familien im Spannungsfeld von Migration und Behinderung exemplarisch in den Blick genommen. Die Fallbeispiele werden anschließend unter Berücksichtigung migrationsspezifischer Aspekte, wie beispielsweise „kulturelle Orientierungen und Behinderung“, oder „zeitliche Aspekte von Migration und Behinderung" (63) aufgearbeitet. Erfreulicherweise wird anschließend auf die Gefahr von Kulturalisierung und Psychologisierung (Kapitel 4.3) und die Reflexion von Interkultureller Kompetenz (Kapitel 5.3) eingegangen, was für das Verstehen komplexer Fälle konstitutiv ist. Meines Erachtens hätte hier ein Kapitel wie etwa Professionalisierung oder Fallarbeit in der Behindertenhilfe eine weitere Verbindung zwischen Regelwissen und Fallorientierung hergestellt. Als wichtiges Grundwissen erachtet Halfmann ebenfalls, dass strukturelle Begebenheiten erkannt und eingeschätzt werden können. Neben Kompetenzen für die fallbasierte Praxis ist daher auch die Kenntnis über „die Bedarfe der Familien und damit auch unterschiedliche Anforderungen an die Arbeit des deutschen Hilfesystems bzw. der Behindertenhilfe“ (94) sowie über Kommunikationsprozesse (Kapitel 5.4) notwendig.
Mit Migration und Behinderung legt Halfmann ein Einführungsbuch für die Praxis in einem bisher wenig beachteten wissenschaftlichen Forschungsfeld im Arbeitsfeld Behinderung vor. Der Fokus liegt dabei auf der Vermittlung von grundständigem Orientierungswissen. Dies ist sowohl Anliegen als auch Grenze des Werks. Studierende der Heil- und Sonderpädagogik sowie Praktikerinnen und Praktiker können hier gebündeltes Wissen herausziehen. Eine zielführende fallorientierte Arbeit im Spektrum von Migration und Behinderung sollte aber innerhalb des Studiums durch gezielte Fallbesprechungen, Praxiserfahrung und weiterem theoretischen Wissen flankiert werden. Doch dies ist dem Buch keinesfalls anzulasten.
[1] Baldin, D.: Behinderung – eine neue Kategorie für die Intersektionalitätsforschung? In: Wansing, G. / Westphal, M. (Hrsg.): Behinderung und Migration: Inklusion, Diversität, Intersektionalität. Wiesbaden: Springer VS 2014, 49-71.
[2] Mecheril, P.: Migrationspädagogik: Hinführung zu einer Perspektive. In: Andresen, S. / Hurrelmann, K. / Palentien, C. / Schröer, W. (Hrsg.): Migrationspädagogik. Weinheim / Basel: Beltz 2010, 7-22.
EWR 14 (2015), Nr. 5 (September/Oktober)
Migration und Behinderung
Orientierungswissen fĂĽr die Praxis
Stuttgart: Kohlhammer 2014
(143 S.; ISBN 978-3-17-025232-5; 22,99 EUR)
Florian Grawan (Hannover)
Zur Zitierweise der Rezension:
Florian Grawan: Rezension von: Halfmann, Julia: Migration und Behinderung, Orientierungswissen fĂĽr die Praxis. Stuttgart: Kohlhammer 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 5 (Veröffentlicht am 23.09.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978317025232.html
Florian Grawan: Rezension von: Halfmann, Julia: Migration und Behinderung, Orientierungswissen fĂĽr die Praxis. Stuttgart: Kohlhammer 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 5 (Veröffentlicht am 23.09.2015), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978317025232.html