EWR 19 (2020), Nr. 4 (September / Oktober)

Ingrid Wiedenroth-Gabler
Kulturelle Vielfalt in der Schule
Islam als Herausforderung
Stuttgart: Kohlhammer 2019
(193 S.; ISBN 978-3-17-035677-1; 29,00 EUR)
Kulturelle Vielfalt in der Schule Kulturelle Vielfalt und religiöse Vielfalt: In Deutschlands Schulen sind beide Dimensionen – auch mit Blick auf ‚den Islam‘ – RealitĂ€t. Fortbilder/innen stellen hĂ€ufig die Unkenntnis und Überforderung der LehrkrĂ€fte zum Thema Islam fest, so auch Ingrid Wiedenroth-Gabler und ihre Kolleg/innen. An diesem Problemfeld setzt die Autorin an. Sie möchte einen Beitrag zum Umgang mit kultureller und religiös-weltanschaulicher Vielfalt leisten, indem sie unterrichtsrelevante Handlungsanregungen liefert mit dem Ziel, „weltanschaulich-interreligiöse Kompetenz“ zu fördern (11).

Wiedenroth-Gabler macht zunĂ€chst in Kapitel 1.1 deutlich, dass sie einen offenen und dynamischen Kulturbegriff vertritt, jedoch „gleichzeitig die Differenzen von unterschiedlichen Landeskulturen nicht ĂŒbersehen will“ (23). Daher schließt sie sich der Definition von Stefanie Rathje an, die Kultur als „geteilte Praxis der Lebenswelt“ und Kollektiv als „Struktur von Gruppen“ ansieht (23-24). Sie verschiebt die Diskussion von Kultur auf Kollektiv, da dieser „weniger bedeutungsĂŒberladen scheint“ (24) und Menschen mehreren Kollektiven angehören und zwischen ihnen wechseln können. Wiedenroth-Gabler erkennt auf dieser Grundlage „ethnische Differenzen“ (26) an, schreibt sie aber nicht individuell fest, sondern postuliert, dass „sich trotz aller Differenzen von Individuen und Kollektiven aus sehr verallgemeinernder Perspektive pauschale HomogenitĂ€tskriterien erkennen lassen“ (26) und es so zu Stereotypen kommt, wie ‚typisch deutsch‘.

Wie das Individuum seine individuelle und kulturelle IdentitĂ€t ausbildet, thematisiert Wiedenroth-Gabler sozialisationstheoretisch in Kapitel 1.2. Zwar wird der IdentitĂ€tsbegriff problematisiert, dennoch wird am Begriff „kulturelle IdentitĂ€t“ festgehalten, da Wiedenroth-Gabler davon ausgeht, dass so wie Subjekte ihre Ich-IdentitĂ€t durch „Grenzen in der GegenĂŒberstellung zu dem Anderen“ (48) gewinnen können, dies auch auf der kollektiven Ebene Sinn mache. Die Antwort auf die Frage, wie man zum kulturellen Wesen wird, erfolgt also auf der Grundlage der Konstruktion des ‚Anderen‘. Abzulehnen sei aber die Konstruktion der eigenen kulturellen IdentitĂ€t auf Kosten der anderen durch Verabsolutierung, Ethnozentrismus und Abwertung.

Konzepte von InterkulturalitĂ€t und TranskulturalitĂ€t werden in Kapitel 1.3 vorgestellt, wobei auffĂ€llt, dass Wiedenroth-Gabler die 10 Thesen zur Leitkultur von Lothar de MaiziĂšre bei aller Kritik auch wiederum verteidigt, indem sie ihm eine „Bindung an das Grundgesetz und die Freiheitsrechte“ und ein „BemĂŒhen um konsensuale Regeln“ (68) bescheinigt. Modelle, die einen erweiterten Kulturbegriff enthalten, die von „hybriden Zugehörigkeiten, von radikaler PluralitĂ€t, von Übereinstimmungen und Differenzen aufgrund mehrfacher kollektiver Zugehörigkeiten“ (69) ausgehen, werden aus schulpĂ€dagogischer Sicht allerdings klar bevorzugt. Es wird empfohlen, die Zielsetzungen der Modelle in konkrete Projekte zu ĂŒberfĂŒhren.

Viele Fragen wirft Kapitel 2.1 auf. Darin stellt Wiedenroth-Gabler dar, mit welcher Perspektive sie ‚den Islam‘ sieht. Sie verdeutlicht, dass sie eine „protestantische Glaubensbrille“ hat, da sie in diesem Glauben aufgewachsen ist, eine „neutrale wissenschaftliche Brille“, durch ihr Studium und zeitweise eine „islamische Glaubensbrille“ durch die Begegnung mit Muslim/innen und eigene Auseinandersetzungen (74). Anschließend erlĂ€utert sie sehr konkret aus ihrer persönlichen Perspektive den Unterschied zwischen ihrer ‚neutralen‘ wissenschaftlichen Herangehensweise an Religion und WahrheitsansprĂŒche und derjenigen Herangehensweise von Muslim/innen. Diese hĂ€tten „massive WahrheitsansprĂŒche“, „die Vorstellung, der einzig wahren Religion anzugehören“, die fehlende FĂ€higkeit, zwischen theologischem Bekenntnis und einer wissenschaftlichen Aussage zu unterscheiden, da „Aussagen der Tradition oft wie historische WahrheitssĂ€tze verstanden“ (74) werden wĂŒrden. Diese Erfahrungen der Autorin werden in dieser Rezension nicht in Frage gestellt. Allerdings wird in Frage gestellt, ob Wiedenroth-Gabler diese Erfahrungen auch mit deutschen akademisch-muslimischen Theolog/innen gemacht hĂ€tte. Aus der Argumentation der Autorin wird nĂ€mlich deutlich, dass sie die neueren Entwicklungen, vor allem die Positionen der deutschen akademisch-islamischen Theologie kaum rezipiert hat. Ein Dialog mit dieser hĂ€tte sie auch vor der einen oder anderen VerkĂŒrzung in ihrer Darstellung ‚des Islam‘ bewahrt. So werden beispielsweise die Verse, die sie in Bezug auf das VerhĂ€ltnis zu anderen Religionen (83-84) oder zu Frauen (91) zitiert, ohne jegliche exegetische Auseinandersetzung, losgelöst vom historischen Kontext aneinandergereiht. Das vermittelt den nicht selten von konservativen Diskursen geförderten Eindruck, der Koran sei literalistisch und könne ohne historisch-kritische Kontextualisierung gelesen und verstanden werden, eine Herangehensweise, der muslimische Theolog/innen in Deutschland vehement widersprechen.

In Kapitel 2.2 geht es darum, wie mit religiöser und weltanschaulicher PluralitĂ€t konstruktiv umgegangen werden soll und wie Extremismen vorgebeugt werden kann. Man stolpert dabei ĂŒber Aussagen wie christliche ReligiositĂ€t sei „weniger sichtbar, pluralisiert und individualisiert“. Muslimische ReligiositĂ€t jedoch sei „öffentlich sichtbar, teilweise konfrontativ“ (122). Auf der Grundlage ĂŒberwiegend quantitativer Studien möchte die Autorin zeigen, dass Muslim/innen eine starke ReligiositĂ€t aufweisen. Diese starke ReligiositĂ€t sei verknĂŒpft mit einer geringeren Verbundenheit mit Deutschland (124), einer Abneigung gegenĂŒber dem Westen und weniger Integrationswille, der Ideologie einer ‚RĂŒckkehr zu den Wurzeln des Islam‘, einer Bevorzugung religiöser Regeln statt den Gesetzen des Landes, in dem sie leben (125) usw. Einzelne positive Tendenzen werden ebenfalls aufgefĂŒhrt. Im Anschluss daran wird gefragt, ob Ausgrenzungserfahrungen zu „höherer ReligiositĂ€t mit Fundamentalismusneigung“ fĂŒhren oder ob „fundamentale (muslimische) ReligiositĂ€t, zu Ausgrenzung fĂŒhrt“ (126). Auch hier ist kritisch anzumerken, dass die Autorin sich in ihrer Beschreibung auf bestimmte, zwar ohne Zweifel zahlenmĂ€ĂŸig starke Diskurse fokussiert, die Leser/innen aber dabei kaum einen Einblick in die Vielfalt der Positionen der in Deutschland lebenden Muslim/innen bekommen, die zum Teil in heftigem Widerstreit stehen.

Die Frage, was interreligiöse Bildung bewirken soll, wird in Kapitel 2.3 behandelt. Es wird postuliert, dass die interkulturelle Bildung erweitert werden muss durch die Dimension Religion und die interreligiöse Bildung durch die weltanschauliche Perspektive. Dabei werden die PrĂ€missen des Projekts Weltethos nach Hans KĂŒng und das Modell zur Entwicklung von interreligiöser und weltanschaulicher Kompetenz nach Manfred Pirner als Grundlage fĂŒr den Umgang mit religiöser und weltanschaulicher PluralitĂ€t in der Schule gewĂ€hlt (141).

Im abschließenden Kapitel 3 werden die Schwerpunktsetzungen der Autorin noch einmal deutlich. Ihre allgemeinen Erörterungen zum Thema „kulturelle Vielfalt in der Schule“ bilden fĂŒr sie in erster Linie den theoretischen Rahmen und den Hintergrund fĂŒr ihr Schwerpunktthema „Islam als Herausforderung“. Das vorliegende Buch ist in erster Linie eine religionspĂ€dagogische Handreichung zum Umgang mit eher ‚konservativen‘ muslimischen Positionen und Diskursen in Deutschland. Es wĂ€re zu wĂŒnschen, dass die Vielfalt und Konflikthaftigkeit der muslimischen Diskurse und die mittlerweile entstandene akademische muslimisch-theologische Kompetenz in Deutschland stĂ€rkere ErwĂ€hnung und WĂŒrdigung gefunden hĂ€tten. Das hĂ€tte nicht nur zu einer breiteren und wirklichkeitsnĂ€heren Darstellung ‚des Islam‘ in Deutschland gefĂŒhrt, sondern wĂ€re auch dem Anliegen der Autorin dienlich, konkrete Handlungsempfehlungen im Umgang mit den erwĂ€hnten ‚konservativen‘ muslimischen Diskursen zu entwickeln.
Fahimah Ulfat (TĂŒbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Fahimah Ulfat: Rezension von: Wiedenroth-Gabler, Ingrid: Kulturelle Vielfalt in der Schule, Islam als Herausforderung. Stuttgart: Kohlhammer 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://www.klinkhardt.de/ewr/978317035677.html